Eine Gesellschaft ehrt sich selbst, wenn in der Kleinstadt Oper stattfindet

Quelle aus: Facts & Fakes 2/3 - Herzblut trifft Kunstblut, Erster imaginärer Opernführer, S. 154 | | Leseproben

Auf Platz 7 in der 3. Reihe sitzt der Theaterarzt. Für Sprechtheater läßt er sich meist vertreten. Opern präsidiert er selbst. Apotheker Buhmann, Staatsanwalt Genest, Gutsbesitzer Dr. Wischhusen, Oberstleutnant Welp und zwölf seiner Offiziere, zwei Jahre später schon alle tot, der Oberbürgermeister - eine Gesellschaft ehrt sich selbst, wenn in der Kleinstadt Oper stattfindet.
Hier bitten Bürger nicht um Vergnügen. Sie setzen sich gemeinsam der Erschütterung aus. Unter den Bedingungen der Musik könnten sie sich auf viel Ernsthafteres einlassen. Es wird aber nicht verhandelt. Keiner darf durch Einwürfe die Vorstellung stören. Nur der Arzt darf in einem Notfall abgerufen werden. Dafür sitzt er auf Platz 7 in der 3. Reihe, daß er gefunden wird.
Sechs Jahre später ist das Theater, ein Bau im Tudor-Stil, abgebrannt. Die Spiele sind ausgelagert. In dem Festsaal der Fabrik Heine's Würstchen AG. Der Rest der "Gesellschaft" (die Mehrheit ist nach Westen abgewandert) hört die Premiere des FIDELIO. Besetzung und Orchester sind aus Magdeburg ausgeliehen. Die Halberstädter könnten zur Zeit nur Gräfin Mariza bieten. Auf Platz 7 in der hiesigen 3. Reihe der Theaterarzt. Funktionäre, Vertreter der sowjetischen Besatzungsmacht, unwillige Delegierte aus Betrieben, kaum ein Besucher von früher. Der Oper sind Eröffnungsreden vorgeschaltet. Das Stück will nicht enden. Eine einzige Pause, in der man sich unterhalten kann. Während der LEONORE III-OUVERTÜRE, die traditionell vor dem letzten Akt gespielt wird, wird der Arzt benachrichtigt. Er wird flüsternd angerufen von einem Boten, vom Seitengang her. Er zwängt sich an den sechs Sitzen vorbei nach draußen. Ein Randereignis, ein Stück Wirklichkeit, das in die Veranstaltung hineinwirkt, Belebung des Saals.
Als der Arzt am Ort des Notfalls eintrifft, sieht er einen Geistlichen, der dabei ist, Spiegel zu verhängen, Sterbesakramente zurechtzulegen. Blutsturz während einer Geburt, die mit einer Steißlage begann. Die schuldige Hebamme schon verschwunden. Man hätte die Frau vor Stunden ins Kreiskrankenhaus schaffen müssen. Der Arzt dreht das Kind, arbeitet, aus dem Blut heraus, die empfindlichen Schultern hervor. Ein zähes Stück Leben. Eine geringe Chance bleibt auch für die Frau. Den Pfarrer pfeift der Arzt an. Was er hier wolle? Vorzeitig das Handtuch werfen? Er betrachtet diesen Akademiker von der anderen Fakultät wegen dessen Pessimismus nicht als Kollegen.
Auf die Minute ist der Krankenwagen organisiert. Ein Gefährt mit Kohlengas betrieben. Der Arzt begleitet die Mutter und das umwickelte Neugeborene zum Bezirkskrankenhaus. Der Chefarzt ist alarmiert. Ihm wird die dem Tode Entrissene heil übergeben, mit aufgeregtem Ehemann, Noch vor Einsatz des Schlußchores drängt sich der Arzt an den sechs Opernbesuchern, die sich achtungsvoll erheben, sie gehören zum neu begründeten FDGB, vorbei zu seinem Sitz. Noch zuppelt er, auf Grund vorangehender Eile, Blutfleck auf dem Hemd, am Sitz seines Anzugs, er sitzt noch nicht richtig, da öffnen sich die Gefängnistore, von beiden Seiten drängt der Chor heran. Der Saal hat die Strapaze des Abends annähernd überstanden. Es breitet sich ein Gefühl der Befreiung aus, das zu dem aufwendigen Finale paßt. Die Magdeburger Künstler müssen noch zu den Bussen, in denen sie aus ihrer Stadt hergekommen sind. Während der Fahrt können sie eine Mütze Schlaf nehmen.

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