Aufsässigkeit und Folgsamkeit

Ich lese Bücher mit den Augen meines Vaters. Auch sehe ich vor mir, wie er die Bücher an Nachmittagen an seinem Schreibtisch liest. Praxis und Haus­besuche liegen hinter ihm. Allerdings würde er keine Bücher beim Essen lesen, wie ich es tue. Er ist eine geordnete Natur.

Ich würde ihn beim Lesen nicht nachahmen (das geschieht von mir un­bemerkt, ich bin verblüfft, wenn ich es entdecke), hätte er nicht das Gele­sene mündlich berichtet. Ich lese also Bücher nicht, wie er sie liest, sondern im selben Duktus, in dem er davon erzählt. Dieses Erzählen hat Autorität. Er duldet keine Zwischenfragen. Es ist ein autoritärer Diskurs, an dem ich meine rudimentären Interessen erlernt habe.

Nun bin ich niemand, der gehorcht. So ist zum Beispiel mein Vater ein verständiger Esser. Für ihn ist es eine Gaumenschande, wenn ich rasch ein Stück Brot mit Heringssalat belade und in der Küche verschlinge, wenn doch Hammelbraten mit Bohnen vorbereitet ist. Gerade bin ich von Frank­furt herangereist, lebhafte Begrüßung, ich schon in der Küche. Und dort tue ich genau das, was er, wenn er es sieht, nicht billigen kann.

Abb.: Prüfung eines jüngst gepflanzten Bäumchens im Garten des neuen Hauses in der Friedenstraße.

Aus dem Kapitel über Alexander Kluges Vater „Totenbuch für etwas, das ich liebe“, enthalten in Kongs große Stunde, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 85-159.

"Kongs große Stunde" bei Amazon