„Auch blind hätte dieser Mann noch geniale Filme dirigieren können“

Er saß im hellen Licht Kaliforni­ens im Rollstuhl auf der Terrasse blicklos da. Seit einiger Zeit war er blind. Es hieß, er habe bei seinen letzten Dreharbeiten bereits Schwierigkeiten mit den Augen gehabt. Andere sagten, er habe dies als Grund für seinen Rückzug vorgeschoben, damit verdeckt blieb, daß sich nach sei­ner Rückkehr aus der Bundesrepublik in die USA wenig neue Angebote ergaben. Da war es besser (mit der Würde, wie er sie verstand, vereinbarer), wenn er aus physischen Gründen von sich aus auf weitere Filmarbeit verzichtete.

Vertraute von ihm sagten: Bei einem Meisterregisseur wie Fritz Lang ist es nicht wesentlich, daß er etwas sieht – er hat in seinem Leben genug gesehen. Er sieht jede Szene mit dem „inneren Auge“ und muß sie nur den Darstellern, dem Kamerateam, den Beleuchtern und den Aufnahmeleitern farbig und mit hoher Bestimmtheit schildern.

Oft saß er da in der aufdringlichen Sonne des Landes, durch das physische Handicap gewissermaßen gnädig ge­schützt. Er ließ vor seinem inneren Auge die Filme ablaufen, die er nicht hatte drehen können. Er hatte viel Zeit verlo­ren durch die Emigration aus Deutsch­land nach Frankreich und später in die USA, danach durch die versuchte Rückkehr nach Deutschland. Und jetzt: Warten auf den Tod. Ohne Auftrag. Das waren entscheidende Zeiträume, die er gern mit Filmen, die schon geplant waren, ausgefüllt hätte. Er konnte sie Szene für Szene beschreiben.

Mit Filmen wie „Dr. Mabuse, der Spie­ler“, „M“ und „Metropolis“ gehört der Regisseur Fritz Lang zu den Säulen der Filmgeschichte. Lebenslang arbeitete er an seinem Mythos. Dazu gehörten das Monokel, die Reithosen, die er in den 1920er Jahren trug, und Fotos, die ihn zeigen, wie er in riesigen Ateliers in Babelsberg Menschenmassen wie Chöre führt. Gleichzeitig war er ein empfind­licher, starkherziger Mensch. Freunde nannten ihn einen „Mimosentank“: eine Mischung aus Verletzlichkeit und panzerbrechender Gewalt, mit der er seine Filme durchsetzte. Ihn bewegte ein unbändiger Wille zur Kunst, zu einem „Leben als Kunstwerk“. Privat zählten dazu auch Frauen, die ihn schützten.

Mich erinnert Fritz Lang an einen Musiker, aber auch an einen Architek­ten. Für seine Filme sind die Bauten, die er entwarf, ebenso wichtig wie die Handlung und die lebhafte Bewegung der Montage. Wie stark Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu­gleich Ingenieure und Ingenieure Künst­ler sein können, das verbindet sich für mich in seinem Charakter. Jean-Luc Godard hat ihm in seinem Film „Die Verachtung“ ein Denkmal gesetzt.

Einen deutschsprachigen Regisseur dieses Kalibers gab es nur einmal. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich während der Zeit, in der ich für Fritz Lang arbei­tete (er drehte in Berlin den „Tiger von Eschnapur“), ihn weder gefilmt noch genügend befragt habe. Ich rannte den ganzen Tag in seinem Auftrag umher: Er wollte die Sperrholz- und Papp­wände, die das Atelier einmauerten, für weite Kameraperspektiven öffnen. Das erforderte Verhandlung und scheiterte meist an den Kosten. Ich war reitender Bote für seine Bannflüche.

Fritz Lang war für uns junge Auto­renfilmer ein Idol. Anfang der 1960er Jahre haben wir versucht, an der neu gegründeten Hochschule für Gestaltung in Ulm, der Nachfolgerin des Bauhauses, eine Filmabteilung zu etablieren. Fritz Lang sollte unser Häuptling sein. Nicht die Filme der 1930er Jahre, sondern seine Art, Filme zu machen, war die Tradition, an die wir anknüpfen wollten. Ich fuhr mit Fritz Längs Lebensgefährtin Lily Latte nach Ulm. Das Projekt schei­terte daran, daß den Ulmer Modernis­ten die Filme Fritz Längs nicht „quadra­tisch“ und „dreieckig“ genug waren.

Noch der Schwung der Oberhausener Gruppe, den Initiatoren des Neuen Deutschen Films, verdankte sich 1962 seinem Selbstbewußtsein. Da war er schon wieder in den USA. Mir scheint, daß zu dieser Zeit sein Augenlicht schon nachließ. In seinem Kopf brann­te jedoch das alte Feuer! Auch blind hätte dieser Mann noch geniale Filme dirigieren können.