Ein starker Hunger nach Sinn

Von Roland Müller | Quelle Stuttgarter Zeitung Online 23.04.2005 | | Interviews

Alexander Kluge über die Anziehungskraft des Vatikans

Ein mittlerweile vertrautes Bild: morgen werden sich wieder hunderttausende von Menschen in Rom versammeln, um den neuen Papst zu feiern. "Es ist der Hunger nach Sinn, der die Menschen umtreibt", sagt der Büchnerpreisträger Alexander Kluge im Gespräch mit Roland Müller.

Herr Kluge, ein berühmter Satz von Ihnen lautet: Die Oper ist das Kraftwerk der Gefühle. Stimmt das noch? Hat mittlerweile nicht der Vatikan diese Kraftwerksrolle übernommen?

Das kann man so nicht sagen. Der Vatikan ist ein Amt, das sich auf die Verwaltung des Glaubens konzentriert. Ein Kraftwerk schafft Neues, aber die Menschen, die sich auch morgen wieder, bei der Amtseinführung von Papst Benedikt XVI., massenhaft in Rom versammeln werden, bringen ihre Gefühle schon mit, sie wachsen sozusagen in den Gläubigen heran. Und beim Tod von Johannes Paul II. haben diese Gläubigen eindrucksvoll gezeigt, dass sie sich mit eben diesen Gefühlen auf Sinnsuche befinden.

Aber weshalb manifestiert sich diese Sinnsuche auf dem Petersplatz? Woher rührt die magnetische Wirkung des Vatikans?

Weil es im 21. Jahrhundert Entwicklungen auf der Welt gibt, die den Menschen Sorge machen - und weil sie diese Sorge öffentlich ausdrücken wollen. Sie fühlen, dass sie von etwas bedroht werden und in einem Verteidigungszustand leben. Wenn ein Papst nun ganz offensichtlich leidet und sehr tapfer mit seinem Leiden, seinem Tod umgeht, dann identifizieren wir uns mit ihm. Wie der Papst wollen auch wir etwas bewahren, was uns eigen ist, etwas von unserer Würde. Daraus folgt unmittelbar die Frage nach dem Sinn des Lebens und - weiter - auch der Hunger nach Sinn. Er hat die Menschen erfasst, in den USA übrigens noch mehr als in Europa. Aber während in den USA dieser Hunger auch in dubiosen Sekten mit viel Aberglauben gestillt wird, hat er bei uns in der Tat eine starke Magnetisierung erfahren - mit einem, wie ich finde, soliden Ergebnis.

Wonach suchen die Menschen? Was haben sie verloren?

Die Sicherheit. Um vom eigenen Land zu sprechen: nach 1989 dachten wir, eine Art goldenes Zeitalter könnte anbrechen. Eine Supermacht weniger, Abrüstung an allen Fronten - und dann kam im 21. Jahrhundert mit den asymmetrischen Kriegen alles ganz anders. Das Wirklichkeitsbild, das uns wie ein Kokon umhüllt und schützt, müsste uns eigentlich eine Sicherheit über mehrere Generationen hinweg bieten, aber dieser Kokon ist zerrissen. Das überfordert uns Menschen.

Aber diese Menschen könnten sich mit dieser Überforderung doch an weltliche Institutionen wenden.

Prinzipiell schon, aber offenbar existieren diese weltlichen Instanzen zurzeit nicht. Denken Sie an die US-Regierung unter Bush: Wenn der Präsident mit einem Jagdflugzeug auf einem Flugzeugträger einschwebt, er also gleichsam als himmlischer Botschafter der Sicherheit auftritt, dann hat das eine theatralische Qualität, keine Frage. Es hat aber keine Überzeugungskraft mehr. Dagegen der Vatikan: das Angebot, das eine fast zweitausend Jahre alte Institution macht, ist um ein Vielfaches überzeugender als die Hollywoodkopie aus dem Weißen Haus, zumal das Angebot aus einem Theologen besteht, der die Schriften selbst kennt und sie auszulegen versteht. Das bringt einen Seriositätsgewinn . . .

. . . den sich keine weltliche Institution mehr erarbeiten könnte, kein Politiker?

Es gibt schon noch Politiker, auch im eigenen Land, die diese Seriosität, Ruhe und Solidität verkörpern können. Zum Beispiel der Ministerpräsident, der jetzt abgetreten ist . . .

Teufel?

Ja, dem mochte man sich anvertrauen. Teufel gab Sicherheit, natürlich im geringeren Maße als der Papst, aber man braucht auch die kleine Münze . . . Unsere Welt ist also nicht völlig leer, doch der Sinnhunger ist sehr, sehr stark und braucht große Zeichen.

Apropos große Zeichen: die Papstverehrung speist sich aus popkulturellen Elementen. Wir erleben einen Starkult mit Anzeichen der Hysterie. Kann so der Hunger nach Sinn wirklich gestillt werden?

Sagen wir mal so: die Kirche versucht, diesen Pop zu bremsen. Der weiße Rauch aus dem Konklave, der im ersten Moment grau aussieht, gibt ja sehr langsame Zeichen, und auch die Bekanntgabe des Todes von Johannes Paul II. folgte ganz dem mittelalterlichen Ritus, also der alten Zeit. Der Vatikan bleibt sich da treu. Es sind die Medien, die versuchen, die Ereignisse zu popularisieren und mit kirchenfremden Elementen aufzuladen. Sie sind, wie so oft, nur Trittbrettfahrer.

Trotzdem: der Papstpop widerspricht völlig dem Habitus der Kirche. Hier die Moderne, dort das alienhafte Mittelalter - wie geht das bloß zusammen?

Es gibt in den Menschen eine Grundströmung, die zunächst gar nichts mit Religiösem zu tun hat, sondern mit Eigenwillen: Ich bin gestimmt, ganz ernst zu werden, weil die Welt so schwierig ist! Und mal abgesehen davon, dass Pop nichts Schlechtes sein muss - er bietet sich jetzt offensichtlich als Ausdruck dieser Gestimmtheit an.

Befürchten Sie jetzt, im Schlepptau der Sinnsuche und mit Ratzinger als Papst, eine Art Gegenreformation?

Wir haben doch seit mehr als 400 Jahren, seit dem Trientiner Konzil, eine aktive Gegenreformation. Seit 400 Jahren! Da wird sich mit Joseph Ratzinger als Papst nichts Spürbares ändern. Ratzinger ist ein Theologe - und Theologen fühlen sich einer ganzen Kette von Konzilien und Enzykliken, von Verfassungssätzen des Glaubens, verantwortlich. Und Glaube bedeutet: es gibt etwas in mir, das unverkäuflich ist, das ich auf keinen Markt trage, worauf keine Börse reagiert. Glaube ist also etwas Unveräußerliches, was wiederum mit der Würde des Menschen zu tun hat. Das ist auch der Grund, weshalb Ratzinger mit Jürgen Habermas, der wie ich eben kein Katholik ist, sprechen konnte. Ich sehe den neuen Papst nicht so negativ. Auch da glaube ich, dass die Medien, zum Beispiel in England, ein verzerrtes Bild wiedergeben.

Es droht keine Gegenreformation?

Wenn die katholische Kirche das versuchen würde, stieße sie auf Widerstand. Denn auch der protestantische Glaube ist bei uns sehr befestigt, und die Ernsthaftigkeit der Sinnsuche findet man selbstverständlich auch dort. Denken Sie an Luther! Zugegeben, bei markanten Ereignissen, etwa einem Todesfall, richtet sich die Aufmerksamkeit junger Menschen eindeutig auf das Alte, also eher auf die katholische Kirche. Aber die allermeisten Gläubigen wissen doch, dass man hier wie dort auf Sinnsuche gehen kann, weshalb ich nicht mit einer Gegenreformation rechne.

Zurück nach Rom. Hunderttausende, gar Millionen von Menschen auf dem Petersplatz. So viele Gläubige auf einem Haufen sehen wir sonst nur in Mekka, und wir sehen sie dort mit sehr gemischten Gefühlen. Wo liegt der Unterschied?

In Rom stehen Menschen morgens um fünf in der Schlange, um nochmals den aufgebahrten Papst zu sehen. Und von Polizisten werden sie mit Säcken versorgt, damit sie nicht so erbärmlich frieren müssen. Diese Begebenheiten sind durch einen hohen Spontaneitätsgrad gekennzeichnet, man merkt, dass diese Menschen das nicht immer machen, das ist kein Ritual - im Gegensatz zu einer Pilgerfahrt, egal ob moslemisch, christlich, buddhistisch . . . Denn rituelle Aufzüge, welcher Natur auch immer, können einen schon das Fürchten lehren. Die römischen Ereignisse aber waren von anderer Qualität: das Spontane hat angerührt.

Denken wir an die Zeit nach der Spontaneität: Könnte der religiöse Schwung dazu genutzt werden, sich gegen den Islam zu formieren? Macht das Christentum mobil?

Das wäre sehr schlimm, aber bevor wir über Kreuzzüge reden, nochmals die Unterscheidung: Es gibt eine Grundströmung, die aus den Menschen kommt, spontan ist und unseren Respekt verdient. Und es gibt die fatale Möglichkeit, diese Menschen zu mobilisieren und zu instrumentalisieren. Dahinter stehen Organisationen, denen man misstrauen sollte. Die Zahl der Menschen, die auf Grund ihrer Sorgen, auch auf Grund ihrer Sinnsuche im westlichen Sinne fundamentalistisch werden, steigt in der Tat - eine Beobachtung, die wir derzeit machen müssen.

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