Wir haben nichts Besseres als die Autonomie des Menschen

(Artikel aus der Stuttgarter Zeitung vom 13.11.2001)

Unser Urvertrauen reicht für ein ganzes Leben und beruht doch auf einem Irrtum - Dankrede zum Schillerpreis / Von Alexander Kluge

Schillers Kampf um den Rohstoff im Menschen - das ist eines der Themen, mit denen sich Alexander Kluge heute Abend in der Stuttgarter Musikhochschule beschäftigen wird, wo er den Schillerpreis des Landes erhält. Wir drucken vorab Auszüge aus seiner Dankrede. Wenn man den Blick von Kindern in den ersten Tagen ihres Lebens beobachtet, bemerkt man eine eigenartige Mitgift oder Begabung. Alle Menschen, die in der Evolution überlebten, haben diese Eigenschaft, das Urvertrauen. Diese jungen Lebewesen gehen wie selbstverständlich davon aus, dass es die Welt mit ihnen gut meint. Das nennen wir das Urvertrauen. Es reicht für ein ganzes Menschenleben, und Menschen, die es völlig verlieren, verlieren die Kraft weiterzuleben.

Sieht man die Geschichte an, nicht nur die aktuelle, ist rasch zu sehen, dass dieses Urvertrauen auf einem Irrtum beruht. Die objektiven Verhältnisse, der Krieg, die Attentate meinen es mit den Menschen nicht gut. Oft meinen sie überhaupt nichts, sondern sind gleichgültig. Es gehört aber die notwendige Illusion dazu, dass es ganz anders ist, damit Menschen ihre Horizonte bauen, ihr Selbstbewusstsein aufrechterhalten, ihre Realität für real halten. In dieser Hinsicht ist jeder Mensch ein Patriot seines Vertrauens, seiner Vorstellungskraft, dass es eine Realität gibt, die zu ihm passt.

Dadurch, dass ich mich auf diese Rede vorbereitete, habe ich Friedrich Schiller mit den Augen von 2001 neu gelesen. Ich fand einen Autor von überraschender Modernität. Oder wie der Nietzsche-Biograf Rüdiger Safranski, der neuerdings an einem Schillerprojekt arbeitet, es formuliert: Ich war erstaunt über die Schwungmasse des Enthusiasmus. Schiller beschreibt wie kein anderer die Wildheit der Seelenkräfte, auf die sich die Zivilisation stützt, und er kämpft wie kaum ein anderer um den Rohstoff im Menschen, der es erlaubt, dass sich die Völker auf dem Globus vertragen. Die Herausforderung zerreißt ihn. Marquis von Posa sagt zu seinem Freund oder Geliebten Don Carlos: Ich spreche als Abgeordneter des Menschengeschlechts.

In der gleichen Haltung spricht er zu König Philipp, immer an der Grenze des Realistischen in sicherem Vertrauen, dass im Menschengeschlecht etwas versteckt ist, was auch das Unmögliche zu Stande bringt, wenn es um einen Friedensschluss geht, der nicht mit Ausgrenzung bezahlt wird. - Als wir 1977 auf dem Dornhalden-Friedhof in Stuttgart Teile des Films "Deutschland im Herbst" drehten, erschienen uns Schillers Räuber als Terroristen. Liest man sie mit den Augen von 2001 und mit der Sehnsucht, Auswege zu finden aus einer verhängnisvollen Entwicklung in der Welt, sind Schillers "Räuber" vor allem auch die Geschichte der Heimkehr von Karl Moor zum Vater. Es sind Heimkehrergeschichten, die wir erzählen müssen. Was ist Agamemnon, was ist Odysseus, gesehen von 2001? Wir haben versäumt, die Heimkehrergeschichten unseres Landes, die sich auf 1945 beziehen, ausreichend zu erzählen.

Vom Vorstandsvorsitzenden eines großen Medienkonzerns in Deutschland gibt es die Aussage: In den Medien dauert ein Jahr heute nur noch drei Monate. - Das deutet eine Beschleunigung an. Betrachtet man aber in unserem Land die Zeit von 1989 bis unmittelbar vor September 2001, so blickt man auf eine eher gemütliche Zeit zurück. Von rasanter Entwicklung, zum Beispiel der Seelenkräfte oder der Erkenntnis im Sinne Schillers, ist keine Rede, und wir sind auf dem falschen Fuß, ganz unvorbereitet, von den Ereignissen in diesem September überrascht worden, für die uns noch die Deutung fehlt. Rasant davon sind nur die Teile: das Kerosin, die Mentalitäten, der Riss im Hirn.

Vergleichen Sie damit einmal im Lebenslauf Schillers die Bewegung der Jahre von 1789 bis 1801. Also die Zeit vom Ausbruch der Französischen Revolution - Schiller schreibt in diesem Jahr seine Schrift: "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" - eben bis 1801, diesem Glanzjahr Napoleons und dem Zeitpunkt der Buchausgabe des "Don Carlos", der "Maria Stuart" im April, und der "Jungfrau von Orleans" im Herbst. Das ist vier Jahre vor Schillers Tod. In dieser Zeit hat sich die Industrie zur "invisible hand" entwickelt, die Spontaneität in der Liebe wird Kanon, der Volkskrieg wird erfunden. Diese drei Danaergeschenke der Moderne werden im 5. Akt des zweiten Teils von "Faust" als Verhängnis skizziert. Einen Moment davor jedoch erschien die Gesellschaft wie ein Garten.

Es ist zu Silvester 1799 auf 1800. Goethe und Schiller sitzen gemeinsam und durchdenken die Zukunft der Welt, es ist nicht utopisch, von einer künftigen Zivilisation und einer Überwindung der Geburtsfehler der Spezies Mensch zu sprechen. So wörtlich abwechselnd Goethe und Schiller. Ich empfinde den starken Wunsch, dass unser 21. Jahrhundert, als Waggon betrachtet, an dieses 18. Jahrhundert angekoppelt wird und nicht an die Giftbecher des 20. und 19. Jahrhunderts. Das ist das Pathos und der zugrunde liegende rote Faden in meiner "Chronik der Gefühle".

Wenn man sich als Chronist mit der machtvollen subjektiven Seite befasst, dann setzt das auch voraus, dass man sich mit dem Kältepol des Geschehens ebenfalls befasst. Ich meine die "Schrift an der Wand". Man weiß, dass das Menetekel seinerzeit von Nebukadnezar nicht rechtzeitig entziffert wurde. Ich glaube auch nicht, dass diese Schrift, die aufzeichnet, wie es mit den Menschen gemeint ist, aus einer einzelnen Erscheinung besteht. Das Menetekel äußert sich inmitten der Vielfalt und besteht auch aus dem Kleingedruckten. Literarische Autoren sind vor allem dazu da, das Kleingedruckte mit dem Großgedruckten zu verbinden. Ich erinnere an den Gaskrieg von 1916, an das Projekt der "Verschrottung durch Arbeit" in den Konzentrationslagern, an die Eiswüsten des Kriegs, vor allem aber an Tschernobyl. Das Gemeinwesen der Sowjetunion hatte 1986, dem Zeitpunkt der Havarie, noch eine Halbwertzeit von zweieinhalb Jahren. Denn fünf Jahre später war die Sowjetunion implodiert. Die Kausalkette, die das Unglück in Bewegung setzte, hat aber teilweise eine Halbwertzeit von 300 000 Jahren. Solche Kausalketten marschieren getrennt und schlagen vereint zu. Ich bin überzeugt, dass wir am 11. September nicht nur durch das Ereignis, dem wir an den Fernsehgeräten zusahen, erschüttert worden sind, sondern durch die Ahnung, dass dies nur ein Teil einer Gesamtschrift ist, die wir vergessen oder übersehen haben. Wir wurden gewaltsam erinnert.

Schiller gehört zu den seltenen Autoren, die sich für Philosophie, das heißt Erkenntnis und Denken, interessierten und zugleich, wie blind, dem Erzählen Vertrauen schenken. Er fühlte sich als Dramatiker und Dichter, und zugleich sprach er von seiner "philosophischen Bude". Die Kombination dieser beiden Erzählformen erfordert im Grunde zwei verschiedene Personen. Schiller muss sich permanent wandeln. Die beiden Arten zu erzählen, die Motive der Illusionierung und der Erkenntnis, führen wie Doppelköpfe auseinander. Literarische Erzählung macht zunächst blind für den Überblick. Sie vertraut sich mit größtmöglicher Entschiedenheit der Perspektive menschlicher Augen, der Froschperspektive von in Lebensläufen eingefangenen Menschen an. Das philosophische Interesse dagegen verhält sich dazu wie der Blick eines Landvermessers oder Kartografen. So viel Überblick wie möglich, so wenig persönliche Erfahrung wie nötig. Zum Artistischen bei Schiller gehört, dass er sich in Metamorphosen von einem zum anderen zwischen diesen beiden Reichen des Vorstellungsvermögens souverän bewegt, das heißt vertrauensvoll und ohne Rücksicht auf Abgründe.

Die Klassiker setzten auf Autonomie der Menschen. Wir haben auch heute nichts Praktischeres, langfristig Durchdringenderes und Vertrauenswürdigeres als dies, das Selbstvertrauen, die Autonomie von Menschen. Und es tritt in Erscheinung überall dort, wo erzählt wird, sei es in den Intimbereichen, sei es in der Öffentlichkeit, sei es in der Literatur. In gewisser Hinsicht ist selbst der Krieg eine Erzählung. Ich bin überzeugt davon, dass den Krieg nichts zähmt außer dem eigenen Monolog: der Krieg geht an seiner eigenen Unfähigkeit zu Grunde. Das ist eine erzählenswerte Tatsache. Ich bin stolz auf den Friedrich-Schiller-Preis, gerade weil sich dieser Name damit verbindet.