Zum Tod von Stefan Moses

Stefan Moses, der 1928 in Schlesien geboren wurde, lernte ich 1963 kennen, als er Theodor W. Adorno dazu brachte, sich im Spiegel in seinem Büro im Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main zu fotografieren. Stefan Moses starb am 3. Februar 2018. Er war mein Nachbar in Schwabing, wohnte in der Hohenstaufenstraße, ich lebe in der Friedrichstraße. Mit Moses verbindet mich das gemeinsame Buch Le Moment fugitif, erschienen 2014 bei Nimbus. In dem Band finden sich Texte und Fotos, die Bilder sind seriell geordnet, jeweils drei Fotos zu einem Motiv. Hier sind drei Bilder von Ludwig Erhard und Konrad Adenauer zu sehen, aufgenommen 1961 in München. Dazu drei Geschichten von mir, die letzte ist unveröffentlicht. Der Tod meines Nachbarn macht mich traurig.

Alexander Kluge

Pokergesicht aus alter Zeit

Ein Rosenzüchter ist kein Bauer, aber immer noch Agrarier. Max Horkheimer, der den Kanzler bei dessen Besuch der Johann Wolfgang Goethe-Universität beobachtete, hält ihn nicht für einen Städter. Des Kanzlers bürgerlicher Habitus, meint er, sei eine Maske. Der Kanzler sei ein vorbürgerlicher Charakter, eine Art Mönch oder Abt, vorstaatlich verankert.

Jetzt saß der Kanzler, neben sich von Brentano, rechts und links seine Crew, der skythischen Rotte gegenüber. Durch Mahlzeiten, Jovialität, Redewendungen ist er vom Geg­ner nicht zu bestechen. Er selbst: schwer lesbare Gesichtszüge. Er bestimmt die Zeichen, die der Gegenseite gesetzt sein sollen. Er will ausdrücken: Noch heute verlassen ich und meine Delegation Moskau, wenn die Bestimmer, die ihm gegenübersitzen, nicht ohne Wenn und Aber die Rückkehr aller deutschen Kriegsgefangenen, auch der angeblich oder wirklich mit Schuld Beladenen, gewährleisten. Er gibt seinem Auftreten (selbst wenn er sitzt), »einen Ausdruck unbedingter Entschlossenheit«. Die mimetischen Requisiten dazu holt er nicht aus der Gegenwart.

Am Abend steht der Regierungszug noch immer unter Dampf. Kohlen müssen nachge­faßt werden. Um die Drohgeste zu verstärken, hat der Kanzler Akten und Gepäck in den Zug verladen lassen. Dann der Durchbruch. Bulganin ergreift über den Tisch hinweg sei­nen Arm, schüttelt ihm die Hand, kein schriftliches Zugeständnis, keine formulierte Ga­rantie, statt dessen ein Ehrenwort unter Regierungschefs.

Der Kanzler weiß, daß das ausreicht. Woher weiß er das? Aus welcher Kenntnis beur­teilt er das Verhalten seiner Gegenüber, deren Sozialisation er kaum kennt. Es ist erstaun­lich, daß er es für sicher hält, daß diese »skythischen Halunken« ihr Wort nicht brechen werden, sobald der Pressesprecher des Kanzlers seine Version der Szene der Öffentlichkeit mitgeteilt hat. Die Ehre von Räubern. Die Erfahrung, auf die der Kanzler vertraut, kommt aus alten Zeiten. Er besitzt Bodenhaftung. Er folgt keinen Phantasien. Aber sein Vorstel­lungsvermögen führt ihm vor Augen, wie die Heimkehrer ohne einen einzigen Zurück­gebliebenen an der deutschen Grenzstelle eintreffen und empfangen werden. Das sieht er in dieser Abendstunde vor sich. Er hat sich auf nichts Fadenscheiniges eingelassen. Mit un­bezwingbarer Miene hat er ausgeharrt. Sie konnten in seinem Gesicht nicht lesen. Sie ha­ben in diesem Poker kapituliert.

Die Rückholung der Männer

Die Russen besaßen vermutlich Spione in unserer Delegation. Wir hatten auf deren Seite überhaupt niemanden. Dafür besaßen wir unseren analytischen Verstand. Noch immer ist die deutsche Führungskunst der sowjetischen überlegen. Wir waren wie Romanautoren tätig. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns die Gehirne unserer Gegenüber vorzustellen.

In den Morgenstunden der Verhandlung waren diese Gegenüber offenbar noch nicht tagaktiv. Die künstliche Luft, der grünfilzbelegte Verhandlungstisch, die Auswahl an Mineralwasserflaschen aus dem Kaukasus brachte keine Welt in diesen Kremlsaal. Ich be­obachtete unseren Bundeskanzler, der diese Flut von Verhandlungen amtsgewohnt aussaß. Er schien die Erwartung zu haben, daß es mit dem Fortschreiten des Tages einen Durch­bruch im Denken der Gastgeber geben würde. Er besaß eine ungefähre Vorstellung von dem, was sie von ihm wollten. Er wußte, was er dafür zu konzedieren bereit war.

Im weißrussischen Bahnhof stand der Zug, der die Delegation nach Moskau gebracht hatte, abfahrbereit unter Dampf.

Ludwig Erhard

Dem Alten, seinem Amtsvorgänger, ist er auch nach dessen Rücktritt nicht gewachsen. Ein paar hingeworfene Bemerkungen aus Rhöndorf (und sie werden kolportiert) graben ihm das Wasser ab, das er doch zur Fortbewegung seines kolossalen Dampfers SOZIALE MARTKWIRTSCHAFT braucht. Nachts, wenn er im Dienstwagen an Köln und Düsseldorf vorbeifährt nach Norden zu einem seiner Auftritte als Redner, sieht er das gewaltige Ungeheuer, die WIRTSCHAFTSGESELLSCHAFT in tausend Lichtern ahnbar daliegen. Das ist schon etwas anderes, meint er, als die Höhlen und Amtsräume der Staatsdiener. In denen aber wird an der Fallgrube gegraben, in die er stürzen soll. Das GROSSE TIER, die Wirtschaftswelt, wird ihm nicht rechtzeitig zu Hilfe kommen. Sie kann vielleicht gar nicht sprechen und hat keine Krallen, während die konservative Beamtenschaft flüstert und funkt, Nacht für Nacht, widersinnig, da sie doch ihre Dienstzeiten am Tage hat.

1944 hat er bereits in Speers Ministerium Papiere entworfen, in denen der Neubau Deutschlands in den Jahren 1950 bis 1960 planerisch vorgezeichnet ist. Immer war er von Leuten umgeben, die ihn verstanden, einer Crew, der er vertrauen konnte. Als Rivale des Kanzlers Adenauer ist er untauglich. Er ist Macher, eigentlich kein Politiker, sondern INGENIEUR, wenn es diesen Beruf für das Ressort „Wirtschaftsplanung“ und „Wirtschaftsermunterung“ gäbe.

Oft, wenn er sich erregt, wenn ihn ein giftiger Angriff, ein ungerechter Widerspruch empört, bläst er sich auf. Sein Gemüt, sein Trotz schwillt an, und er beginnt zu fliegen. Es stürmt in ihm. Alles Bilder. Er winkt ab. Ich bin, sagt er, kein Ballon, in den man hineinstechen kann und die Luft zischt heraus. Ich bin auch kein Fliegender Fisch oder Zeppelin, so wie man mich in hämischen Zeitungen gezeichnet hat. In mir ist keine Luft, sondern Könnerschaft. Das Vertrauen meiner Mitarbeiter ist mir sicher und auf den Flügeln dieses Vertrauens gewinne ich an Höhe.