Rede zum Büchner-Preis-2003

Alexander Kluge  (25.10.2003)

I

Ich lese eine kurze Geschichte:

Sitz der Seele

Eine Agrarökonomin aus dem Gebiet westlich Stavropol, die ihr Studium an der Humboldt-Universität fortsetzte (das Geld für den Unterhalt erwirbt sie in einem Etablissement in Wedding), beharrte darauf, dass Liebe als Arbeitsgegenstand für zivilisierte Menschen ihren Sitz nicht im Inneren der Einzelnen habe, sondern das Netz ist, das zwischen Menschen, die Liebesbeziehungen miteinander austragen, zwangsläufig entsteht. Dieses Netz ist immer reicher als das, was zwei Menschen, die von sich sagen, sie lieben einander, an Absichten haben. Es tritt ja Liebe zu den Eltern, Liebe zu den Hoffnungshorizonten, Zuneigung zu vertrauten Orten hinzu. Ja, der aufgefangene Blick eines Passanten kann einen Zuschuß leisten, alles dies muß der Andere gar nicht teilen und wissen. An diesem LEBEWESEN LIEBE, vergleichbar einem Tier, das sich zwischen Liebenden ausspannt, kann einer oder können beide (oder als Kuppler und Freunde Dritte) Arbeit, nämlich stoffverändernde Tätigkeit, leisten. Das gleiche gilt, behauptet Ljuba W., nicht für die nach innen gerichtete einsame Aktivität von Liebenden. Ljuba vergleicht diese eher grüblerische Beschäftigungsart (unter der russischen Bezeichnung Liebesarbeit) mit der WERKSTATT EINES ALCHIMISTEN. Sie sei vorindustriell. Als würden Vorräte an Giften und Heilstoffen gesammelt. Aber werde der Andere davon trinken? Die Gabe überhaupt annehmen? So könnten zwei Menschen, schreibt Ljuba, ein Leben lang nebeneinander Innerlichkeit produzieren, ohne irgendeine Stoffveränderung (Reparatur, Anpassung, Wechsel des Aggregatzustandes) ihrer Beziehung zu erreichen. Insofern enthält Einsiedelei in der Liebe keine zivilisatorische Chance, behauptet Ljuba. Ich übertrage dieses Bild eines Netzwerks, das sich zwischen Menschen ausbreitet auf das Verhältnis zwischen den Autoren und der Wirklichkeit. Das ist das sog. subjektiv-objektive Verhältnis. Es besagt: Es gibt keine pure Innerlichkeit und es gibt keine pure Äußerlichkeit. Die Texte aber, welche die Verknüpfung herstellen, bilden einen Erzählraum und die Poeten sind dazu da, diese "Wohnungen unserer Erfahrung" zu bauen, auszubauen, zu verändern, einzureißen, neu einzurichten, d.h. bewohnbar zu halten. "Dichterisch wohnet der Mensch" heißt es bei Hölderlin, d.h. alle Menschen sind in dieser Hinsicht Poeten und die professionellen Autoren sind nur besondere Vertrauensleute dieser Netzwerke, die umso nötiger sind, wenn es Menschen schlecht geht.


II

Der heute verliehene Preis ist nach einem jungen Genie benannt, das nur 24 Jahre alt wurde. Ein Feuerkopf und der modernste Dichter seiner Zeit. Unverändert modern.

Ich drücke meinen Respekt vor Georg Büchner am besten dadurch aus, daß ich eine Art Erfahrungsbericht als Autor meiner Zeit erstatte und daß ich meine Zuneigung zu Büchern überhaupt erkläre, diesem geduldigen Medium, das die Jahrhunderte untereinander verbindet.

Bücher, das ist für mich nicht das bedrucktes Papier. Sie sind Landkarten menschlicher Erfahrung. Für mich selbst sind Bücher die Verbindung zu Autoren, zu deren Texten ich Vertrauen habe - zu Büchner-Preisträgern wie Heiner Müller, Gottfried Benn, Durs Grünbein, Ingeborg Bachmann, zu Proust, Joyce, Robert Musil, zu Kleist, Montaigne, Madame de La Fayette bis hin zu Ovid. Das ist wie ein zweites Gemeinwesen. In einer Zeit, in der wir nicht wissen, wie rißfest die Wirklichkeiten sind, sind Netzwerke über 2000 Jahre, wie sie die Bücher darstellen, kein Luxus, kein Freizeitbedarf, sondern notwendiges Überlebensmittel. Es ist diese Vertrauenswürdigkeit, wegen der ich die Bücher allen anderen Medien vorziehe.


III

Meine Loyalität gehört gedanklich der Kritischen Theorie, wie sie von Horkheimer und Adorno in Frankfurt gelehrt wurde. Ich bekleide hier die weniger offizielle Stellung eines Erzählers.

Die Kritische Theorie war 1932, also meinem Geburtsjahr, bereits angriffslustig aufgestellt. Sie hatte sich vorgenommen zu erforschen, wieso der Vormarsch des Faschismus so unaufhaltsam schien. Keine der geistigen Reserven an poetischer Öffentlichkeit, an Literatur, Zivilisation, Wissenschaft und Gewissenhaftigkeit reichte in jenem Augenblick aus, diese Massenbewegung aufzuhalten oder umzukehren. Sie wurde dann auch nicht aus Kräften unseres eigenen Landes besiegt.

Auf diese Grundhaltung bezieht sich mein erstes Buch. Über die Bruch- und Zerreißstelle des Jahres 1945 verlaufen Lebensläufe: Leben wird zerstört, Erfahrung bildet Narbengewebe.

Ein ganz anderes Lebensgefühl herrscht für mich nach 1989. Irrtümlich nahm ich an, daß wir einem augusteischen Zeitalter der Abrüstung entgegengingen. Eine Jahrhundertwende löst Erwartungen aus. Eine Bilanz der bitteren Erfahrung des 20. Jahrhunderts und eine Eröffnungsbilanz des 21. Jahrhunderts schien an der Tagesordnung. "Was hält freiwillige Taten zusammen?" "Der lange Marsch des Urvertrauens." Das Poetische heißt sammeln. Das lateinische Wort dafür heißt: "legere": lesen heißt sammeln. Es war eine Lust, zu erzählen. Die Verteidigungslinie von 1932, die Zerreißungen von 1945 und von 1977, die Raketen-Drohungen des Kalten Krieges waren an den Horizont gerückt.

Heute, 2003, nachdem sich die Pranke des 21. Jahrhunderts zeigt, hat sich der Erzählraum erneut verändert.

Ich habe die Verschiedenartigkeit dieser Zeiten aufgeführt, weil es eine Geometrie von Zeit und Erzählraum gibt, auf welche die Gravitation wirklicher Verhältnisse einwirkt. Auch eine Empathie, d.h. die Reaktion auf furchtbare Verhältnisse. Fontane hat diese Empathie in seinem Roman Der Stechlin beobachtet, wenn ein brandenburgischer See seine Oberfläche wie bei einer Hautallergie kräuselt, sobald auf Java Menschen in großer Zahl umgebracht werden. Dies sind "Erfahrungsbeben". Autoren können mit dieser quasi objektiven Geometrie der Erfahrungsräume nicht nach subjektiver Willkür umgehen, nach Geschmack oder Kunstverstand. Sie reagieren vielmehr als professionelle Seismographen mit Messungen. Ihr Meßinstrument heißt Ahnungsvermögen. Georg Büchner hat dieses Instrument mit größter Präzision angewendet. Das ist das, was ich modern nenne.


IV

Zu den Begriffen: Erzählen, Literatur, Öffentlichkeit, Erfahrung.

Den Begriff Literatur kennen wir etwa seit 1800. Das Erzählen ist älter und eine wesentlich weitere Vorstellung. Wenn ein Kind nicht einschläft, wird erzählt. Nach einem Luftangriff oder in der Notzeit nach 1945, erzählen Menschen verstärkt. Unsere keltischen Vorfahren, der Held Asterix, sind geborene Erzähler. Zu diesen Rohstoffen soll die Literatur immer erneut vordringen. Einige solcher Rohstoffe funktionieren über das Ohr, nur mündlich. Meine Lieblingsgeschichte besteht aus einem Bild in Chronik der Gefühle: Ein Lastwagenfahrer, blind, fährt seit einem halben Jahr auf den Straßen der Stadt. Er will nicht arbeitslos sein. Sein neunjähriger Sohn, neben ihm, erklärt wo es langgeht. Die Kommunikation beruht auf Vertrauen, über das Ohr verknüpft. Es funktioniert gegen alle Wahrscheinlichkeit.

Einen Leser stelle ich mir bildlich in der Dämmerung unter einer Lampe sitzend vor, allein lesend. Zwei Intimitäten, die des Autors, die des Lesers, korrespondieren miteinander. Ihr Thema heißt: gemeinsame Erfahrung. So bilden sie (mit vielen anderen) die Öffentlichkeit der Bücher: Ich bin allein, aber ich bin nicht wirklich allein.

Die unmittelbaren Erfahrungen werden fast immer persönlich gemacht. Der Löwenanteil davon entsteht in den Beziehungs-, Liebes- und Familienverhältnissen und in den Arbeitsbereichen. Sozusagen auf den Robinson-Inseln der einzelnen Lebensläufe. Werden sie in Öffentlichkeit übersetzt, so tritt ein Zusatz an Selbstbewußtsein hinzu. Es entsteht selbstbewußte öffentliche Erfahrung. Dafür braucht jede Epoche, jedes Jahrzehnt, neue Ausdruckserfahrungen, andere Erzählräume.

Büchner beschreibt in den ersten Zeilen seines Lenz einen Menschen, der es in "kalter Resignation" nicht aushält, einen Umstürzler:

"Den 20. ging Lenz durch's Gebirge. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nicht's am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte."

Von diesen Zeilen bis zum lakonischen Schlußsatz: "So lebte er hin", geht es in dieser Erzählung um ein unverwechselbares Lebensgefühl.

Büchners Erzählung beschreibt den umgekehrten Vorgang zu Kleists Michael Kohlhaas. Dessen Eisensinn geht ganz nach Außen bis an den Galgen. Und er würde lieber (wie ein Terrorist) die Welt zerstören, als aufzugeben. Die Energie von Lenz bei Büchner geht nach Innen, bis der Mensch äußerlich still aussieht. Das ist die inwendige Zerstörung, zugleich die stärkste Ballung von Subjektivität.

Radikaler als diese Erzählungen können wir auch heute nicht schreiben. Büchners und Kleists Radikalität brauchen wir aber, wenn wir versuchen, die veränderte (inflationierte) Wirklichkeit im Erzählraum unseres Jahrhunderts abzubilden.

Wie beschreibt man im Jahr 2003 z.B. die Globalisierung? In gewisser Hinsicht ist das ein anti-poetisches Phänomen. Das Poetische baut auf einem sinnlichen Material, das der Autor und der Leser gemeinsam haben. Autor und Leser nehmen jedoch an der Globalisierung kaum teil, sie erfahren nur ihre Folgen.

Ich berichte dazu von einer wahren Geschichte:

In Frankfurt/Main war ein Mann in einer Großbank in leitender Stellung tätig. Weite Gebiete von Westafrika lagen im ökonomischen Herrschaftsbereich dieser Bank. Zur Winterzeit lernte dieser leitende Mann, ein Globalisierer, eine Prostituierte kennen, die aus genau jenem westafrikanischen Gebiet nach Frankfurt gekommen war. Er verliebte sich. Die Beziehung entwickelte sich für alle Beteiligten verwirrend. Kurz vor Heiligabend führte sie zum Tod des mächtigen Mannes. Wer aber war hier der Mächtige? Etwas zwischen Herrschern und Beherrschten zeigt sich als mächtig, ein subjektiv-objektives Schicksal. Aus vielen solchen Geschichten läßt sich GLOBALISIERUNG beschreiben, kaum aus einer einzelnen.

Ähnlich schwer zugänglich, aber nicht unzugänglich für das Erzählen, ist der ASYMMETRISCHE KRIEG: Ein US-Pilot greift mit seiner intelligenten Waffe, einem Kampfflugzeug, ein Gebäude an, in dem sich angeblich Terroristen befinden. Tatsächlich feiert dort eine Hochzeitsgesellschaft. Es wäre ein Unglück, wenn der Pilot trifft.

In diesem Moment überfällt den Piloten eine Darmkolik. Er macht in den Kampfanzug, schämte sich und verreißt die Maschine. Die Sprenggeschosse fahren in einen benachbarten Sumpf.

Hier sind die Darmzotten klüger als der Kopf. Eine asymmetrische Reaktion, Mitgift aus frühesten Zeiten, korrigiert den asymmetrischen Krieg. Auch dies kann nicht als Einzelgeschichte oder Metapher stehen bleiben, weil es ja keine Garantien, kein Verhalten gibt, das berechenbar bleibt. Um Erfahrung und Selbstbewußtsein zu verknüpfen, müssen viele dieser Geschichten erprobt, getestet werden.

Wie drückt sich INNERLICHKEIT aus? Der Ausdruck hier anders verwendet als in der Literaturwissenschaft.


Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis
"Bei dem Entwurf seiner Alpen-Architektur ("die Natur der Gebirge hat ihre künstlerische Form noch nicht erhalten") behauptete Bruno Taut, auf URERLEBNISSE DER MENSCHLICHEN EINBILDUNGSKRAFT zurückgehen zu können. Ursprünglich sei nicht der Schönheitssinn, sondern die Einbildungskraft. Sie sei in die kollektive menschliche Erinnerung eingebrannt. Das sei geschehen, als die Züge der Tiere und der ihnen folgenden Menschen an den gewaltigen Hürden der Gletscher entlanggezogen, jahrzehntelang über Ebenen gewandert seien, die schon unter der Einwirkung des vorrückenden Eises zu Wüsten wurden. Das waren schlimme hoffnungslose Jahre, und nur im Inneren blieb Mensch und Tier eine Art von Glimmen aus früherer Zeit, das Wärme versprach. Zuletzt nur noch Erzählung.

Bis dann die Übriggebliebenen (alle miteinander verwandt, weil 90% untergingen, aus den restlichen die Nachkommen) die Meere erreichten. Hier fanden sich auch Höhlen. Nach entbehrungsreichen Zeiten hatte der Erdball seine Ausrichtung zur Sonne verändert. Ein Teil der Wolkenmassen, die das Licht der Sonne zum Kosmos zurückspiegelten, senkte sich zur Erde. Offenes Wasser speichert Wärme. Die Erinnerung an das geschärfte Unterscheidungsvermögen, das in den Jahren der Kälte entstanden war, verschloß sich in den Herzen. Es wird dort, behauptet Bruno Taut, oft mit dem Schönheitssinn verwechselt."

Das war die erste Globalisierung. Millionen von Jahren vor uns. Unsere Vorfahren haben unter unwahrscheinlichen Bedingungen überlebt. Wir tragen, ohne es zu wissen, lebenslänglich in unseren Körpern etwas von den Errungenschaften mit uns, die zu diesem Überleben geführt haben, eine Lebensreserve, eine Reserve an Auswegen (sie beginnt nicht erst mit den Abenteuern des Odysseus). Das gehört zur Innerlichkeit.

An einer Frau wie Anna Karenina, die sich von ihrem Liebhaber Wronski verletzt fühlt, ist eine Lebendigkeit und große Hitzigkeit der Seele zu beobachten. Zugleich kann man beobachten, daß eine gleichbleibende Körpertemperatur von 37°, die den schönen Körper durchpulst (und die sie mit ihrem Sohn, der ihren Tod nicht wünscht, gemeinsam hat), sich durch die seelische Erregung nicht ändert. Beides ist innerlich. Die Trägheit und Kraft dieses Körpers kann die junge Frau retten, wenn sie etwas von ihren Illusionen, die sie dem für sie völlig unbrauchbaren Rittmeister Wronski widmet, vergißt. Auch Vergessen und Trägheit beruhen auf Innerlichkeit. Die Geschichte ist hier entgegengesetzt zur Technik des Romans, anti-sentimental erzählt. Ungläubig gegenüber der angeblichen "Macht des Schicksals".

Wie reich ist das Gemeinwesen, das wir in uns tragen und wie alt? Wie wenig angelegt nur auf Belletristik, die schöne Traurigkeit. Nehmen wir die Stammzellen, von denen große Zahlen in jedem Moment in uns neu entstehen. Einige davon werden zu Darmzotten (wie schon erwähnt), andere zu Haut, einige aber gelangen in die Gesellschaft der Augen. Sie lesen aus Geselligkeit zu den Nachbarzellen in ihrem Gencode, d.h. den Büchern, die sie mit sich führen, daß sie alles vergessen sollen, außer Augenzellen zu sein. So haben sie die Möglichkeit, obwohl ihr Rohstoff sich durch nichts unterscheidet von allen übrigen Zellen des Körpers, das Sonnenlicht zu sehen und die Farben. Was für eine Disziplin, was für ein Gemeinwesen, was für eine Öffentlichkeit, was für eine Innerlichkeit, reich an Auswegen!

Die Überprüfung der Erzählräume auf ihre Brauchbarkeit ist abhängig von der Herausforderung, die von außen an Leser und Autoren herantritt. Wir sind heute Zeugen davon, wie das Gewicht tödlicher Abstraktionen, wie objektive Verhältnisse sich auf dem Planeten bandenmäßig zusammenrotten, von Einzelmenschen fast nicht mehr beobachtbar, auf keinen Fall abwendbar. Einige davon sind Menetekel.

Früher wandten sich Menetekel als Botschaften der Götter an die Herrscher, um zu warnen. Heute sehen wir ganz unautorisierte, ungöttliche Menetekel, am 11.09., im asymmetrischen Krieg und kleingedruckt an zahllosen Zerstörungsorten der Welt. Diese neuen Menetekel richten sich an uns alle und sie warnen nicht, sondern schlagen gleich zu. Das ist eine Inflationierung der Äußerlichkeit.

Ich gehe davon aus, daß sich die Erzählräume für Innerlichkeit proportional ändern, wenn sich die Erzählräume für Äußerlichkeit neu ordnen.

Beides, die Welt der Tatsachen und die Welt der menschlichen Reaktionen auf die Tatsachen, läßt sich nicht getrennt voneinander, quasi arbeitsteilig, erzählen. Das ist das Grundgesetz im subjektiv-objektiven Verhältnis.

Film ist ein Gründermedium. Ich spreche als Autorenfilmer. Wir Autorenfilmer sammeln mit der Kamera und ihren Teams Konzentrate von Momenten. Die Suche ist subjektiv. Stärker noch als bei literarischen Texten gilt die Autonomie von Bild, Ton und Wirklichkeitsausschnitt. Es entstehen Monaden. Der Autorenfilmer Andrej Tarkowski und Jean-Luc Godard nennen das "versiegelte Zeit". Die nächste Momentaufnahme wird ähnlich einseitig hergestellt. Die filmische Montage überdeckt später nicht die Kontraste zwischen den Einstellungen oder nutzt sie zu Erklärungen (wie sie die rhetorische Montage von Eisenstein tut), sondern entwickelt gerade aus der Spannung der Unvereinbarkeit der aufeinanderfolgenden Bilder ein unsichtbares drittes Bild. Ein konzentrierter Moment Gegenwart im Kampf mit einem zweiten konzentrierten Moment Gegenwart schafft eine dritte Zeit und damit ein virtuelles Bild. Und über diese dritte Zeit lassen sich alle übrigen Zeiten erreichen. Die Entsprechung zu dieser Arbeitsweise ist in den Zuschauern längst vorhanden. Jeder Mensch besitzt Erinnerung und stammt aus einer Vergangenheit; ohne Horizonte, d.h. Zukunft, wäre er nicht lebendig. Seine Phantasie, die kein Befehl anzuhalten vermag, verbindet ihn mit dem Konjunktiv und dem Optativ, also mit der Möglichkeitsform und der Wunschform.

Ich habe das Beispiel aus der Filmarbeit genommen, weil ein junges Medium wie der Film ein natürliches Experimentierfeld für die Erneuerung des Poetischen darstellt.

Die Chancen, im Fernsehen das Poetische zu pflegen, sind schwerer zu finden. Umgekehrt ist das Fernsehen ein Leitmedium. Wenn eine Katastrophe passiert, z.B. am 11.09., sieht man nicht aus dem Fenster hinaus oder in Handbücher, sondern in den Fernseher. Der US-Präsident schaltet in einer Krise CNN ein, erst danach greift er zu den Texten der Geheimdienste. In ein Leitmedium ist viel Vertrauenskapital von Zuschauern, von konkreten Menschen eingezahlt.

Im Fernsehen bin ich nicht als Autor, sondern als Übersetzer tätig. Ich habe in den 15 Jahren meiner Tätigkeit in den Kulturmagazinen gelernt, daß die poetischen Gattungen heißen müssen: Lyrik, Dramatik, Epik und Übersetzung.

Ich habe beobachtet, daß die Fernsehanstalten, was Öffentlichkeit betrifft, einen Minderwertigkeitskomplex zeigen. Sie glauben, daß Zuschauer nur in einem künstlichen, homogenisierten Ton mit Fernseherfahrung umgehen wollen. Das ist einer der interessantesten Irrtümer großer Apparate, die ich kennengelernt habe. Tatsächlich ist das Beste, was es außerhalb des Fernsehens in der Welt gibt gerade das Richtige, daß man es ohne Verfälschung, im Originalton, in das Fernsehen einbringt. Dazu muß man es perspektivisch ändern, d.h. in die Gravitationen und Kräfteverhältnisse, den verzerrten, auch verdichteten Erzählraum dieses Leitmediums einbringen. Es kommt also gar nicht darauf an, ob ich Fernsehen meiner Zuneigung oder den Vertrauensverhältnissen nach für etwas Attraktives halte. Wir Poeten verzichten auf ein Stück öffentlicher Anwendung des Poetischen, wenn wir die Präsenz autonomer Texte nicht im führenden Medium durchsetzen und das gärtnerisch pflegen.

Die letzten 300 Jahre haben uns die Begriffe Utopie und Realismus begleitet. Utopie = kein Ort. Es entstehen bei mir Zweifel, ob es so etwas für Menschen gibt. Es gibt zwar Orte, die auf dem Planeten noch kein Mensch betreten hat, aber das sind keine Orte, in denen wir uns unterbringen könnten. Umgekehrt ist das, was als Gegenstand des Realismus gilt, die Realität, ebenfalls kein fester Boden. Wir bezeichnen als Wirklichkeit so etwas wie einen Kokon von Bildern und günstigen Annahmen, ein Gewebe, das wir zwischen uns und die Masse objektiver Tatsachen einfügen. Ohne eine solche ILLUSION NAMENS WIRKLICHKEIT fühlen wir uns ausgesetzt, nackt. Ich glaube, daß am 11.09. dieses Gespinst einen Moment zu zerreißen drohte.

Für die Beobachtung des Erzählraums und seiner zwar nicht großen aber doch nachhaltigen Verzerrung (unter dem Gewicht des Jahres 2003) treten an die Stelle der Kategorien UTOPIE und WIRKLICHKEIT die Aufmerksamkeitsraster HETEROTOPIE und HETEROCHRONIE. Die gleiche Geschichte an anderem Ort, zu anderer Zeit kann zu jedem Moment einen anderen Ausgang nehmen. Dies verändert die Autonomie der einzelnen Erzählung. Sie gibt ihr aber neue Gleichgewichte, die sie in anderen, parallelen, zeitlich entfernten oder örtlich gleich daneben liegenden Geschichten, sozusagen ihren Brüdern und Schwestern, finden kann. Die Geschichtserzählung wird gesellig.


V

Im Oktober 1813 wird Büchner geboren, am zweiten Tag der Schlacht bei Leipzig. Von dieser Kesselschlacht Napoleons sagen die einen, sie hat die Welt von einem Tyrannen befreit, die anderen, darunter Zeitzeuge Goethe, behaupten, die frühe Chance eines vereinten Europas, die zweite nach dem lateinischen Zeitalter, ging hier zugrunde. Ein Zeitalter ging frühzeitig verloren, das ein nicht-reaktionäres Europa gebracht und ein Deutschland von 1933 unnötig gemacht hätte. So sähe es die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers, so lautet der historische Konjunktiv, von dem Autoren handeln.

Im gleichen Jahr 1813 wird im Mai Richard Wagner geboren. Dessen Vater ist emsig involviert in die Anstrengungen der Sachsen auf Seiten Napoleons, die der Schlacht von Leipzig vorangehen. Man sieht hier ein Genie, das sein 24. Lebensjahr bei weitem überlebt. Vom Revolutionär bis zum Komponisten von Götterdämmerung und Parsifal.

Die Spuren der beiden Jahrgangsgefährten von 1813 führen etwa 100 Jahre später wieder zusammen. Karl Kraus, der Herausgeber der Fackel, liest privat einer Gruppe von Zuhörern das Woyzeck-Fragment vor. Alban Berg, erstrangig unter den legitimen Erben Richard Wagners, bei dieser Lesung zugegen, entzündet sich an diesem Stoff, so wie sich Büchner an der Akte Woyzeck entzündete. Und er schreibt das Standardwerk der Modernen Oper im 20. und 21. Jahrhundert, den Wozzeck. Sie sehen, wie das Netzwerk arbeitet. Es erstreckt seine Netze über hunderte von Jahren. Der Gefährte Darwins, Entdecker der Evolution, Alfred Russel Wallace, behauptete, daß es neben der biologischen Evolution und der des Blauen Planeten eine geistige Evolution gäbe von den Tieren bis zu uns und von uns, einem Menschen, der nicht bloß der egozentrische Homo sapiens, sondern der Mensch sein würde, der das Gleichgewicht seiner Kräfte beherrscht, HOMO KOMPENSATOR, der Gleichgewichtler.

Den Ausdruck Homo kompensator habe ich aus einem Buch von Dr. Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Das Buch bewegt sich im Erzählraum von Goethes Wahlverwandtschaften. In der Konstellation von Goethes Text ist der Gleichgewichtler und künftige Mensch als Ahnung vorhanden.

Man kann Büchners Werk weder durch Begriffe, noch durch ihren thematischen Inhalt charakterisieren. Man kann nichts bei ihm von der BESONDEREN FORM trennen. Trotzdem kreist, was ihn interessiert, um gravitative Felder: die mißlingende Revolutionierung der Menschen (in Dantons Tod), die Durchdringungskraft der naturerkennenden Interessen (in seinen wissenschaftlichen Texten) und die Erschütterung über Lebensschicksale, die, wie es Edgar Allan Poe nennt, der VERDREHTHEIT, oder wie Marx es nennt, der ENTFREMDUNG unterliegen.

In einer Szene von Dantons Tod sehen wir Danton und seine revolutionären Gefährten in einem Gespräch über den Schmerz und den Tod. Die Welt, heißt es, zeigt Risse, die auch bei positivem Verlauf der Revolution nicht gekittet werden könnten:

"Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren; Spinoza hat es versucht. [...] Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atome, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten."

Das ist extrem und seismographisch. Dantons Ausbruch bezeichnet den "Anti-Realismus des Gefühls". In uns Menschen wendet sich ein Eigensinn gegen Wahrnehmungen, wenn diese Zeichen einer unmütterlichen Realität sind. Diese anti-realistische Partei im Menschen muß auf der Seite der Emanzipation, der Aufklärung stehen, andernfalls mißlingt sie. Diese starke Leugnungskraft im Menschen bewirkt auch das, was man einen Realitätsriß nennt. Wenn Menschen in Sand- und Stahlmassen in Hochhäusern zermalmt werden und aus den Trümmern noch mehrere Stunden lang Handys zu hören sind, dann ist dies ein solcher Riß im Sinne Büchners und der Riß ist produziert aus dem Menschengefühl, daß Schmerz nicht sein soll.

Nehmen Sie ein weiteres Beispiel, den Hochmut der spekulativen Wissenschaft, z.B. das Klonen. Die spekulative Wissenschaft ist ein Teilstück des Omnipotenzgefühls, das jedem der gesellschaftlichen Abstürze, die wir erlebt haben, stets voranging: eine Art Wahnsinn. Zugleich stammt sie aus dem Mut der Grenzüberschreitung, also Rohstoff der Emanzipation.

Ich stütze mich darauf, daß bei Georg Büchner das wissenschaftliche und das poetische Interesse IN EINS geraten und daß das etwas Neues ist, und ich wende dies an auf den Prototypen des kühnen Forschers Galileo Galilei. Man sagt, daß er nicht vor dem Konsistorium abschwören mußte wegen seiner Behauptung, daß die Erde sich um die Sonne bewegt. Vielmehr habe dieser Forscher auf neutralem Boden Venedigs Versuche angestellt, eine Oblate aus dem Moment vor der Wandlung experimentell mit einer Oblate zu vergleichen, an der die Wandlung vollzogen war. Er schnitt in das Gebilde aus Teig hinein, fand keinen Unterschied. Die Kirche war klug genug, dieses Sakrileg nicht zur Abschwörung zu bringen, da die Bekanntmachung davon ja geradezu Wissenschaftspropaganda gewesen wäre, sondern ersatzweise Galilei einen anderen Schwur abzunehmen. Die Geschichte zeigt, daß Galileis Umgang mit einer Glaubenssache aggressiv war. Was hätte er denn gemacht, wenn tatsächlich Blut aus der Oblate herausgetreten wäre? Das konnte er vor dem Versuch nicht wissen. Wie abergläubisch ist es, wie fundamentalistisch im westlichen Sinn, daß er so sicher war, daß das überhaupt nicht sein kann. Dies ist die Vorsicht, die alle gründlichen Erzählungen von Ovid bis heute einfordern. Ein Luxus, den sich die Menschen gegenüber denen, die einen Glauben brauchen und diesen nicht für verhandelbar halten, sich leisten müssen. Insofern sind Wissenschaft und Poetik Luxusartikel, notwendig wie die Musik, lebensnotwendiges Lebensmittel.

Das dritte große Thema Georg Büchners, die Unruhe in seinen Schriften, sind Berichte, in denen es um das geht, was Edgar Allan Poe die VERKEHRTHEIT und Marx die ENTFREMDUNG nennt. Es sind stets aktenkundige Fälle, die er in poetische Texte verwandelt. In Lenz genauso wie in Woyzeck.

Es geht um die Gleichgewichte in der Phantasietätigkeit: "Wir nährten das Herz mit Phantasien, die Kost versteinerte das Herz". Wieso macht ausgerechnet die Phantasie, der Rohstoff des Poetischen stumm, versteinernd, unempfindlich? Die Phantasie ist ein exzessiv lustbetontes Wesen. Was weiß die Lust von gut und böse? Was weiß die Lust von wirklich und unwirklich? Selbst menschlich und unmenschlich kann sie nur schwer sicher unterscheiden. Sie wendet sich von der Verkehrtheit, von der Beobachtung der Entfremdung, vom bitteren Schicksal ab. Darauf beruht der Vorrang der Unterhaltung in den Medien. Es kommt also nicht auf eine napoleonische Massierung von Phantasietätigkeit an in der Dichtkunst, sondern um das Gleichgewicht, daß die Phantasie es ermöglicht "an der Widerstandslinie entlang" zu erzählen, dies ist die Erschütterung, die langlebig von Büchners Texten ausgeht und z.B. eine Vernetzung herbeiführt, bei der Woyzeck zum Ausgangspunkt der schon genannten Oper von Alban Berg und bei der eine Kette von Zufällen dazu führt, daß das große, mit Büchners Werk verwandte Drama von Lenz, Die Soldaten, der Stoff der zweiten großen Oper des 20. Jahrhunderts, nämlich Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann wird. So ist das, wovon ich hier als Vorsatz spreche, als Postulat, schon von den wirklichen Texten der in Musik, Buch und anderen Textarten verstreuten Autoren längst geschaffen.

Bücher sind weder Schonkost, noch sind sie Trostmittel. Aber ihr Netzwerk tröstet. Vor seinem Tod kaufte Heiner Müller, seine erste Operation hatte er hinter sich, ich bin sicher, daß er wußte, daß er nicht mehr lange leben wird, in Kalifornien ein seltsames Buch: eine Übersetzung von Ovids Metamorphosen aus dem Lateinischen übersetzt in englische Blankverse, etwa 300 Jahre alt. Dieses Buch führte er zuletzt immer mit sich und eigentlich sollte eine Serie von Theaterstücken aus dieser Wurzel entstehen. Solche Bündnisse über die Zeiten bilden die Mehrheit, an die in unserer zweiten WELT DER NACHERZÄHLUNG ich innig glaube, weshalb ich Bücher für eine Gottesgabe halte und für die Schlüssel zu einer Öffentlichkeit, an der wir, möglicherweise ohne es zu wissen, längst gemeinsam arbeiten.


(Die Rede wurde Samstag in Darmstadt in leicht gekürzter Version und mit spontanen Hinzufügungen gehalten!)