Laudatio von Alexander Kluge anlässlich der Preisverleihung an Prof. Dr. Jürgen Habermas

Der Philosoph und Soziologe Prof. Dr. Jürgen Habermas wurde am 14. Dezember - ein Tag nach Heinrich Heines 215. Geburtstag - mit dem Heine-Preis 2012 der Landeshauptstadt Düsseldorf ausgezeichnet. Der Heine-Preis zählt zu den bedeutendsten Literatur- und Persönlichkeitspreisen in Deutschland; er ist mit 50.000 Euro dotiert und nimmt damit einen Spitzenplatz im deutschsprachigen Raum ein. Oberbürgermeister Dirk Elbers überreichte den Preis in einem Festakt im Rathaus. Die Laudatio hielt der Filmemacher und Schriftsteller Prof. Dr. Alexander Kluge. 

 

Lieber Jürgen, liebe Ute, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, verehrte Juroren, liebe Gäste!

Ich habe mich auf diese Laudatio gefreut. Ihre Schwierigkeit habe ich unterschätzt. Nach drei Entwürfen, die mein Mitarbeiter Combrink und ich verworfen haben, hatte ich vor mir 42 Bücher von Jürgen Habermas und das Habermas Handbuch aufgereiht und daneben gestaffelt das Heine Handbuch und die Werke dieses großen poetischen Meisters.

Ich habe dann das Historische Wörterbuch der Rhetorik, Band IV L-M, Stichwort „Laudatio“ beigezogen. In der Antike gab es die endoxale, amphidoxale und die paradoxale Lobrede. Der Redner soll dabei nicht seine Kunst zeigen. Entscheidend ist das Decorum. Er soll Achtung vor demjenigen ausdrücken und wahren, den er lobt. Das heißt: Ich kann mich hier nicht hinstellen als literarischer Autor und Filmemacher und das Lebenswerk von Jürgen Habermas – einem der wenigen wirklichen Philosophen und großen Soziologen – paraphrasieren. Habermas denkt nicht nur seine eigenen Gedanken, sondern er rekonstruiert, was andere denken und verbindet das mit seinem Denken. Er ist einer der letzten Architekten von Plattformen der Einigung, ganz im Sinne von Kants Buch ZUM EWIGEN FRIEDEN. Man kann dieses Werk nicht loben, es lobt sich selbst. Man kann es sehr wohl Bestaunen und das reicht. Ich beziehe also die Laudatio heute auf die Juroren, die mir die Gelegenheit geben, diese Konstellation Heine – Habermas einmal mit Ihnen gemeinsam zu beleuchten. Das ist auch eine Funktion eines solchen Preises, daß man hier Sternenkunde betreibt in der Geisterwelt.

Zwischen Abgrund und Mut des Erkennens

Zwischen 1929, dem Geburtsjahr von Jürgen Habermas, und dem Geburtsjahr Heinrich Heines, 1797, liegen 132 Jahre. Und zwischen 1929 (wenn ich das so in Ihre Phantasie locken darf) und dem Jahr 2013, auf das wir zugehen, liegt nochmals eine Kette von Zeitenwenden. Das beschleunigt sich.

Als Heine geboren wird, ist es ein Jahr, nachdem die zweite Auflage von Immanuel Kants ZUM EWIGEN FRIEDEN erschienen ist. Es ist das Balladenjahr, Schiller schreibt zum Beispiel DIE BÜRGSCHAFT, Goethe schreibt DER GOTT UND DIE BAJADERE, also eine Fülle von Poesie, wie ein Geburtstagsgeschenk für unseren Poeten Heine, eine Mitgift. Stürmisch geht die Zeit auf ein neues Zeitalter zu. Heine spricht später von den Jahren der „bewaffneten Aufklärung“. Er selbst ist nicht unbedingt ein Patriot seines Geburtsjahres; er behauptet von sich, er sei in der Neujahrsnacht von 1799 auf 1800 geboren. Er ist ungeduldig. Er fühlt sich als Neuerer, gierig auf 100 neue Jahre. Zu diesem Zeitpunkt seiner behaupteten Geburt ist Bonaparte erst sechs Wochen im Amt, er ist noch ein Hoffnungsfunke, noch nicht widerlegt. 15 Jahre später ist der Korse gestürzt. Eine lange Restaurationszeit setzt ein, ein Reformstau muß überlebt werden. Heine erfrischt sein Gemüt und seinen Bedarf an Hoffnung an der Juli-Revolution in Frankreich. Sie erweist sich aber (ähnlich wie heute die islamische Revolution) als eine gestohlene Revolution. Nicht die Revolutionäre, welche die Revolution bewerkstelligt haben, herrschen anschließend, sondern andere. Das ist so ähnlich bei der großen Umwälzungsbewegung 1848. Dies ist ein Zeitraum mächtiger Bewegungen; wir müssen das immer auch als Spiegel unserer eigenen Zeit sehen. Aber es entsteht auch, von Heine erahnt und erst nach seinem Tode wirklich, das Politische in Gestalt eines Bühnenkaisers, Napoleon III. Oder einer Bühnendekoration, wie das umgebaute Paris von Baron Haussmann, also eine Theatralisierung des Politischen und eine gewaltige Schubkraft des Realen gleichzeitig. Mir war die erneute Notwendigkeit, mich mit Heine zu beschäftigen, sehr willkommen. Und mir ist aufgefallen, daß das Beobachtungsfeld Heines starke Berührungen hat mit Inventarstücken aus dem großen PASSAGENWERK von Walter Benjamin. Eine beginnende neue Ära, die bei Benjamin großartig festgehalten wird, ist auch Heines Thema: die Zeit des Louis-Philippes, die des Saint-Simonismus und der Eisenbahnen. Und schon damals gibt es, zwischen der Weltausstellung in London und den Provinzen, ein Europa, das dann wieder verloren ging und um das wir heute kämpfen.

In seinem Buch STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT von 1962 knüpft Jürgen Habermas genau an diese Zeiterfahrung Heines an. Die Französische Revolution, sagt er, entstand aus dem Geiste der Philosophie. Erst bildet sich, sagt Habermas, eine literarische Öffentlichkeit und aus ihr dann die politische. Es entsteht der moderne Charaktertyp des „öffentlichen Intellektuellen“, den Heinrich Heine im besonderen Maße ausfüllt. Die Kategorie der Öffentlichkeit scheint mir eine erste grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Heinrich Heine und Jürgen Habermas zu sein, über so viel Zeit hinweg. Persönliche, also private Erfahrungen von Menschen, machen wir alle lebenslänglich, ob aber Menschen mit diesem Resultat ihrer Erfahrung Selbstvertrauen verbinden, hängt davon ab, dass sie sie in der Öffentlichkeit kommunizieren können, dass ein Mensch sich in dem andern spiegelt.

Der STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT geht, wie Habermas das beschreibt,  von der repräsentativen Öffentlichkeit aus, also jener der Obrigkeiten, der Könige, der Stände und geht in die bürgerliche Öffentlichkeit über. Diese entscheidende und grundlegende Phase der Entstehung moderner Öffentlichkeiten entwickelt Habermas an einem literarischen Beispiel, nämlich dem des WILHELM MEISTER. Und er sagt: Ein bürgerlicher Mensch empfindet sein Selbstbewußtsein aufgrund seiner Leistung, nicht aufgrund seiner Geburt. Und die Leistung ist derart zukunftssüchtig, eine so steigerungsfähige Eigenschaft, daß ein Defizit entsteht. Dieses Gefühl einer Unzulänglichkeit gehört zu den Geburtsfehlern der bürgerlichen Öffentlichkeit, fordert ein Verstärkungsmittel für ihre Mitglieder, einen Öffentlichkeitsersatz. Um „öffentliche Persönlichkeit zu sein“ muß Wilhelm Meister sich als Künstler, als Schauspieler verstehen. Und noch an den deutschen Universitäten 1968, in der Protestbewegung, kann man manches von den Streitigkeiten, die wir beide in Frankfurt ja bezeugen können, auf diesen zweigleisigen Prozess zurückführen, daß auf der einen Seite etwas real und öffentlich wird und gleichzeitig ein Schuß Theaterblut hinzutritt, der die Sache auch komisch macht. 

Eine zweite Gemeinsamkeit der beiden so unterschiedlichen Naturen Heine und Habermas liegt in der Praxis des vehementen Zwischenrufs. Jürgen Habermas arbeitet einerseits mit großer Geduld, Sorgfalt und viel Zeitaufwand an seinen großen Werken und gleichzeitig mit derselben Sorgfalt, aber blitzartig, interveniert er in der Öffentlichkeit. Im Jahr 1964 entsinne ich mich da an einen Fall, der mich schlagartig von Jürgen Habermas überzeugt hat. Wir kannten uns nicht näher damals. Das ist der Zeitpunkt, als im Schillertheater Berlin das Drama von Peter Weiss aufgeführt wird: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. In der Irrenanstalt wird unter Regie dieses verrückten Abgrundforschers der Libido, de Sade, ein Requiem aufgeführt auf den ermordeten Revolutionär Marat. Ein Trauergesang auf das Scheitern der Revolution. Der Kritiker der ZEIT, Johannes Jacobi, hatte die Aufführung aus stilistischen Gründen verrissen. Und hier steht Jürgen Habermas typischerweise auf und sagt: Man kann doch nicht mit Stilfragen, wie mit Lava, einen Sachverhalt und eine Trauerarbeit überdecken – das ist doch Teil eines Verdrängungsprozesses, wenn man das macht – man soll jetzt anläßlich der Aufführung dieses Stückes sich mit der Revolution auch wirklich befassen, und danach kann man die Stilfrage stellen. Das ist eine typische Art von Intervention: Proportionen herzustellen, wenn sie verletzt werden. Und beides, dieser Zeus-Blitzschlag und die langsame, geduldige Arbeit an einem Lebenswerk, das sind zwei Eigenschaften von Jürgen Habermas. Das sind die Füße, mit denen Jürgen Habermas seine Bodenhaftung herstellt.

Im Heine Handbuch nimmt das Stichwort „Revolution“ im Sachverzeichnis den größten Abschnitt ein. Lebenslänglich beschäftigt sich Heinrich Heine mit dem Aufbegehren, den Menschenrechten. Und auch an Napoleon bewundert er noch den Vollstrecker von Teilaspekten der Revolution. Diese Revolution ist etwas, von dem Kant verhalten und in philosophischer Übersetzung spricht. Und er sagt mit großer Vehemenz und Energie: Menschen werden sich den Weg zur Emanzipation von niemand und durch nichts verstellen lassen. Es ist ein auf etwas Unmögliches gerichteter Versuch, Emanzipation dauerhaft verhindern zu wollen. Und dieser aus Königsberg kommende revolutionäre Anspruch hat zwei Eigenschaften, die ich gerne hier am heutigen Tag auch in Erinnerung rufen möchte, weil sie für Heine und Jürgen Habermas gleicherweise wichtig sind: Das eine, ist das Verhältnis von Gedanke und Tat bei gesellschaftlichen Veränderungen; und das zweite ist der Zeitbedarf von Revolutionen.

Sie kennen „Caput VI“ von DEUTSCHLAND. EIN WINTERMÄRCHEN. Da tritt nachts zu dem dichtenden Poeten und Denker ein Gespenst oder Geist, und von ihm wird gesagt:

Unter dem Mantel hielt er etwas
Verborgen, das seltsam blinkte,
Wenn es zum Vorschein kam, und ein Beil,
Ein Richtbeil, zu sein mir dünkte.

Er schien von untersetzter Statur,
Die Augen wie zwei Sterne;
Er störte mich im Schreiben nie,
Blieb ruhig stehn in der Ferne.

Das Gespenst fährt dann fort:

„Ich bin kein Gespenst der Vergangenheit,
(…)

„Ich bin von praktischer Natur,
Und immer schweigsam und ruhig.
Doch wisse: was du ersonnen im Geist,
Das führ ich aus, das tu ich.“

„Ich bin dein Liktor, und ich geh
Beständig mit dem blanken
Richtbeile hinter dir – ich bin
Die Tat von deinem Gedanken.“

Und wer das im Kopf hat, der weiß, daß wir revolutionäre Erfahrung brauchen, auch weil gesellschaftliche Veränderung in anderer Gestalt auftritt, als in den Formen von Revolution, öffentlicher Auseinandersetzung. Gesellschaftliche Veränderung ist unvermeidlich, und es ist sehr gut, sich darauf vorzubereiten. Neben dieser Frage von Gedanke und Tat (und das heißt auch von Phrase, die den Tod anderer zur Folge haben kann) steht die Frage des Zeitbedarfs von Revolution.

Ich sehe im Jahr 1905 einen Schüler Max Webers in Heidelberg. Er verfolgt wie sein Meister aus der Ferne mit „Leidenschaft und Augenmaß“ stellvertretend, die erste russische Revolution von 1905. Sie führte zu keiner Regierung, auch zu keiner Verurteilung und zu keinen Massakern, sie hatte etwas Edles, Spontanes und Vertrauenswürdiges. Derselbe Schüler, inzwischen habilitiert, verfolgt 1917 die Gespräche auf Burg Lauenstein, wo sich junge Geister wie Theodor Heuss, Ernst Toller und Friedrich Meinecke mit Max Weber auseinandersetzen: Wie soll es nach diesem furchtbaren Krieg weitergehen? Der Sohn dieses Schülers von Max Weber nimmt am Montag, den 30. April 1945, in Oakland, in der Nähe von San Francisco, an der ersten Wiederbegegnung aller Fraktionen der Arbeiterbewegung teil (sie hatten sich seit 1914 bis dahin nicht wieder zusammengefunden). Nur fünfzig Kilometer entfernt werden in San Francisco an diesem Tage die Vereinten Nationen begründet. Es ist der Tag, an dem sich Hitler umbringt. Es ist der Tag, an dem die Westbindung der Deutschen entsteht: Jeder will über die Elbe hinweg in amerikanische Gefangenschaft. Das war ein Wahlakt, der den ganzen Wiederaufbau in der Adenauerzeit noch mitbestimmte. Alles dies ist gesellschaftliche Veränderung. Und wenn ich jetzt den Sohn jenes Mannes sehe, dem wir eben 1945 begegneten (also den Enkel des Mannes von 1905), dann ist das ein Mitarbeiter von Frau Süssmuth in der Erwachsenenbildung; er ist tätig bei der Beratung, wie man eine deutsch-türkische Universität mit Sitz in Istanbul errichten kann. Das ist ein 100-Jahres-Zyklus. Ich habe mir erlaubt, ihn poetisch zu erfinden.

Heinrich Heine war in das Denken verliebt. Gerne wäre er ein Denker gewesen, kostümierte sich gelegentlich als Denker. Ich sehe ihn in Berlin im Jahre 1821/22 an der Humboldt-Universität. Und da trifft er eines Abends Hegel. Sie stehen am Fenster und blicken auf die schimmernden Lichter der preußischen Hauptstadt. Sie unterhalten sich unter anderem über Kants Satz vom „bestirnten Himmel über mir“. Und Heine ist, sagt er später, entsetzt darüber, dass Hegel die Meinung vertritt: Von den Sternen gelangen keine Botschaften zu uns. Sterne, das seien der „Aussatz des Himmels“, das seien „dünne, an den Himmel geknüpfte Lichtfäden“, aus denen kein Wissen zu uns dringt. Heine hat ihm das nicht verziehen. Er hat immer wieder erwähnt, daß das so nicht stimmen kann. Das ist so nicht poetisch. Ich möchte von diesem Punkt ausgehend einmal (also Heine, der ins Denken verliebt ist, Jürgen Habermas, der sich nicht als Poet bezeichnen würde, der aber doch ein Architekt des Gedankens ist) vier Standortmessungen mit Jürgen Habermas machen.
 

  1. Nachhaltigkeit und Gleichmaß. Jürgen Habermas hat unsere Bundesrepublik fast von ihren Anfängen an mit seinen Interventionen und seiner stetigen Arbeit begleitet. Er hat diese Arbeit, die er vor Ort leistet, über den Atlantik transferieren können, dasselbe nach Osten zu China hin, wo ich immer wieder darauf stoße, daß Habermas zitiert wird. Jürgen Habermas ist einer der Wenigen, der mit Gleichmaß über sechzig Jahre vor Ort arbeitet und gleichzeitig global eine Wirkung hat. 1953 schreibt Habermas – für mich verblüffend – über Gottfried Benn. Dort findet sich der Satz: „In allem ist das Heilige.“ Dann folgt: „Denn das Heilige ist kein großes Gebot und kein Ruf aus fernen Welten.“ Das konfrontiert Habermas mit dem mutlosen Poetischen, das sich bei Benn ebenfalls findet, wenn er sagt: „Das Leben währet vierundzwanzig Stunden, und wenn es hoch kommt, ist es eine Kongestion.“ Habermas setzt (und das tut er immer) Lebenswelt gegen bloß artistischen Anspruch. Wenn ich mir eine Streiterei mit Habermas und Heine vorstelle, die leicht zu erzählen wäre, dann wäre das sehr interessant. Heine würde sofort reagieren auf die Ernsthaftigkeit von Habermas, aber er würde anfangs bei ihm anecken.
  2. Unveräußerliche Ruhe. Das Denken bleibt individuell, gerade auch angesichts „neuer Unübersichtlichkeiten“. Ich sehe Jürgen Habermas arbeiten. Wenn er sich mit Skizzen vorbereitet, zum Beispiel auf die heutige Rede, dann tut er das mit dem Stift oder er macht es mit dem Computer. Aber er tut es immer mit seinem individuellen Kopf und seiner individuellen Hand. Dies angesichts von draußen dahineilenden objektiven Verhältnissen. 1995 ist ein Rechner von Apple noch so groß wie ein Schreibtisch, und jetzt paßt das Gerät in die Hand. 1995 gibt es noch keinen Euro, der sich inzwischen mächtig Bahn gebrochen hat, mit Geltung und mit Krisen. Wir sind inzwischen sieben Milliarden Erdenbewohner. Auf der Seite der objektiven Verhältnisse, der Tatsachen, sind große Ströme von Fakten zu registrieren, die überhaupt nicht individuell sind. Und davor keine Furcht zu empfinden, sondern weiterhin zu analysieren mit der Verantwortlichkeit des eigenen Kopfes, das ist der MUT DES ERKENNENS. Das ist eine Eigenschaft, die wir alle in uns immer wieder bestätigen müssen. Es ist eine Ermutigung des Erkennens, daß das individuelle Denken in nichts sich vermindern läßt, angesichts so vieler objektiver Fakten, welche die „neue Unübersichtlichkeit“ ausmachen.
  3. Ich sehe Jürgen Habermas auf dem Deutschen Juristentag 2012, Forum Europa. Er sitzt neben dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle, und er ergreift fünf Mal das Wort. Er hält die Redezeit ein, sie ist kurz, aber vehement interveniert er. Er kritisiert das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, weil es ein Defizit an „normativer Aufklärungsarbeit“ aufweise. Die „abschirmend-souveränitätsversessene“ Haltung, also die Zuwendung zur Nationalität, habe dem Gericht den Blick auf die „kommunizierenden Röhren“ zwischen nationalstaatlicher und europäischer Legalität und Legimität verstellt. Das Gericht hätte sich an der Widerstandslinie entlang bewegen müssen. Solche Eingriffe eines politischen Philosophen und „öffentlichen Intellektuellen“ mitten in einem justizpolitischen Kongreß hätte es in der Zeit Heines nicht gegeben. So sehen wir doch einen Fortschritt in einem Bereich, in dem machtvorbeitende Diskussionen stattfinden; ein Intellektueller greift direkt ein und wird angehört (und muß sich nicht wie Heine über eine allgemeine Öffentlichkeit, also indirekt, vernehmen lassen). Das zeigt aber auch, daß unser 21. Jahrhundert in seiner Not möglicherweise besser hinhört, wenn eine Stimme wie die von Jürgen Habermas etwas sagt. Ich kenne keine Autorität, außer für Theologen im 12. Jahrhundert, die direkt im Zirkel der Entscheider so sprechen kann.
  4. Habermas und die Sterne. Ich knüpfe an Hegels Bemerkung, Stern seien der „Aussatz des Himmels“ an. Ich vermute nicht, daß Jürgen Habermas irgendwelche Botschaften von den Sternen empfängt. Und ich halte ihn gegenüber der Astrologie für völlig immun. Andererseits nimmt er wahr, daß die Goldgräberjahre der Astrophysik derzeit stattfinden. Nehmen Sie das Cern, die größte Maschine der Welt, die je gebaut wurde, ein Mikroskop und ein Teleskop zugleich. Dort kann man das unendlich Kleine, noch nicht ganz bis zur Planck-Länge hin, aber fast davor, wahrnehmen und damit Aussagen überprüfen über die Anfänge der Welt und das ganze Universum. In der letzten Woche habe ich ein Gespräch zwischen Jürgen Habermas und Francis Fukuyama gelesen. Habermas spricht dort von einem „nicht-instrumentellen Verhältnis zur objektiven Wissenschaft“. Es sei notwendig, reziproke Annäherungsverhältnisse, wie sie dem Ich-Du-Verhältnis der Sprache entsprechen, auf die Welt als Ganzes zu projizieren. Sie, die ganze Welt, ist nämlich ebenfalls subjektiv-objektiv vermittelt. Wenn ich den Satz, den Habermas zu Fukuyama gesagt hat, richtig verstehe, dann sind auch die Sterne, die der Handgreiflichkeit der Menschen entzogen sind, für sie ein reale Zeichenwelt. Der bestirnte Himmel über uns ist in dieser Hinsicht, gerade weil wir ihn nicht verrücken können, für Navigatoren wie Odysseus ein wesentliches Orientierungsmittel. Es ist auch die Metapher für beharrliche, konsistente Theorie gegenüber dem aktuellen Wechsel der Eindrücke. Wenn wir den Satz „Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen“ ernst nehmen, wie es zum Beispiel der chinesische Literaturwissenschaftler Wang Hui tut, der vom Menschenrecht der Dinge spricht, so sind die Sterne kein „Aussatz des Himmels“ und auch keine „dünnen Lichtfäden“. Vielmehr sind wir selbst aus Sternenstaub zusammengesetzt und das Poetische und das Denken besitzen in dieser Hinsicht innere Einheit. So sind Normen und Wirklichkeiten, Ausdrucksvermögen, Urteilskraft, Lebenswelt und die Natur, aus der wir kommen, miteinander verschränkt und zwar nicht „spukhaft“, sondern vernünftig. Diese Kategorie des Zusammenhangs gehört zu den Kernpunkten der Botschaft von Jürgen Habermas, ein Funkkontakt der Vernunft, der Alleinstellung besitzt. Das ist der Grund, warum Menschen Jürgen Habermas zuhören. Ich glaube nicht, daß ich diese Aussage meiner Laudatio steigern kann. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.