„Ich bin eine Leseratte!“ Gastkommentar von Alexander Kluge in der NZZ

Ich bin eine Leseratte!

GASTKOMMENTAR

Zum Lesen gehört auch das Ausgraben, das Tieferschürfen. Etwas in uns Menschen arbeitet stets über das soeben Gelesene spontan hinaus.

Man muss sich vor Augen führen, wie nach der Revolution von 1917 die Elektrizität nach Sibirien eingeführt wird. Abendzeiten und Nachtzeiten werden erobert. Es entsteht Lernzeit. Eine mehrheitlich analphabetische Bevölkerung lernt es, sich mit dem Alphabet zu bewaffnen. Mich rührt es an, wenn Kinder – und hier ausserdem Erwachsene – lesen lernen. Ich habe es, sechs Jahre alt, gern getan. Es ist eine elementare und moderne Errungenschaft. Sie setzt dreierlei voraus: erstens den Lesestoff (z.?B. Bücher, Zeitungen, Noten); zweitens den Leser (d.?h. etwas Subjektives, eine besondere Art gespannter Aufmerksamkeit, eine Konzentration, wie sie nicht jeder Teilnehmer im Internet oder im Strassenverkehr anwendet – es ist eine konzentrierte Art, Lebenszeit zu verbringen) und drittens die Öffentlichkeit – eine Leserschaft. Man kann eine Öffentlichkeit mit einer Architektur vergleichen. Mit Strassenbau, mit einem Haus, mit der Gründung einer Stadt. Die Leserschaft bildet eine Republik der Worte.

Lesen ist mehr als Buchstabieren

Beim Lesen kann man extrem auseinander Liegendes nebeneinanderstellen. Das ist eine besondere Form der Intelligenz. Es gibt diese Intelligenz der Lateralisierung im blossen Tun, in der Rage, im Kampf, in der Liebe, im Geschäftsleben, in der Vita activa eher selten. Texte von Ovid, also von vor 2000 Jahren, stehen neben Texten von Ossip Mandelstam im 20.?Jahrhundert, am gleichen Schwarzen Meer in der Verbannung geschrieben. Ja, die Metamorphosen und Disruptionen unserer Gegenwart finden sich beim Lesen dicht neben denen, von denen der grosse antike Dichter schreibt.

Ich schreibe hier für die «Neue Zürcher Zeitung», sie wurde im Januar 1780 begründet. Meine Film-Mitarbeiter und ich haben im Jahr 2012 einmal den Versuch gemacht, aus Meldungen dieser Zeitung, die sich auf einen einzelnen Monat des Jahres 1912 bezogen, eine Hörfunksendung von sechs Stunden Länge zu machen. Hier zeigt sich etwas, was für die Lesekultur charakteristisch ist: In der «Neuen Zürcher Zeitung» gab es die Gewohnheit, die dem Blatt eines neutralen Landes gut ansteht, die Nachrichten aller Parteien, bis hin zur Propaganda, zu den Lügen, mit denen sich gegnerische Parteien beschiessen, nebeneinander zu drucken. Das gibt einen kaleidoskopischen Blick. Wenn man Nachrichten aus dem Jahr 1912 oder 1943 so miteinander konfrontiert, entsteht ein erzählerischer Zugang zu komplexer Wirklichkeit. Gute Nachrichten, dicht neben Irrtümern und Unwahrheiten, ergeben ein lesbares Gewebe, eine Textur.

Beim Lesen kann man extrem auseinander Liegendes nebeneinanderstellen.
Das ist eine besondere Form der Intelligenz.

Zum Lesen zählt auch das Lesen der Zeichen an der Wand. Alle Wirklichkeiten bestehen aus Zeichen. Hat man in Büchern, Zeitungen und in seinem Herzen lesen gelernt, kann man diese Zeichen buchstabieren, auch wenn sie keine Buchstaben sind, sondern hart zuschlagende Realität. Man kann sie unterscheiden und das Eine kenntlich halten, während man sich auf ein Zweites und Drittes konzentriert. Lesen ist mehr als Buchstabieren.

Ich sehe den grossen Poeten Marcel Proust in einem Pariser Boulevard-Theater sitzen. Er langweilt sich unsäglich über die dargebotene Plauderkomödie. Sein Blick schweift im abgedunkelten Theater zu den blauen Lichtern, die damals die Notausgänge bezeichneten. Er liest: «Notausgang». Das löst in ihm die Vorstellung aus: «Wenn jetzt ein Theaterbrand ausbricht, ich weiss, wo der Notausgang liegt.» Die Vorstellung vom Theaterbrand (ohne darin selber umzukommen) macht für den Dichter den öden Abend spannend. «Kenntnis der Notausgänge ist das schönste Welttheater.»

Was zwischen den Zeilen steht

Zum Lesen gehört das Ausgraben, das Tieferschürfen. Etwas in uns Menschen arbeitet über das eben Gelesene spontan hinaus. Ich lese Prousts Beschreibung seines Erlebnisses mit dem Notausgang im Theater und stelle mir vor, dass der Wind an jenem Tag, an dem der Tsunami zuschlug und im Atomkraftwerk von Fukushima die Kernschmelze stattfand, statt nach Osten zu wehen, nach Süden, auf die Millionenstadt Tokio, zugedreht hätte. Wie evakuiert man eine 27-Millionen-Stadt? Wie räumt man Istanbul oder London in einem Katastrophenfall? Dazu gibt es keine Erfahrung.

Über Abgründe dieser Art, die aber für eine Massengesellschaft charakteristisch sind, gehen wir hinweg. Das ist der Lesestoff, den uns die Realität aufgibt. Und um die Ohren schlägt, wenn wir uns nicht darum kümmern. Darüber lesen zu lernen, was wir nicht beherrschen können, macht grüblerisch und erfindungsreich und führt den Appell von Greta Thunberg zu immer neuen Horizonten.

Man kann einen Begriff am besten erfühlen, wenn man sich den Gegenbegriff vorstellt. Was ist nicht lesbar? Was ist eine Öffentlichkeit, die implodiert? Ich habe in meiner Lebenszeit mehrere solcher Verwüstungen miterlebt. Ich kann aber sagen, dass die Öffentlichkeit wie ein Phönix stets wiederaufersteht. Durch neues Lesen.

Wir sind heute mit der Algorithmenwelt des Silicon Valley konfrontiert. Die Algorithmen, Operationsregeln für Maschinen, die sicher auch uns Menschen als Teil einer Maschinerie sehen, vereinigen bei sich eine imponierende Verfügungsmacht. Das ist verbunden mit einer erstaunlich mageren Kraft, Neues zu produzieren. Algorithmen müssen vereinfachen und grenzen aus. Das fordert Gegenalgorithmen, die die Gleichgewichte wieder herstellen. Gegenalgorithmen verneinen nicht das, wozu sie die Ergänzung bilden. Aber sie stellen Augenhöhe her. Ein solcher Gegenalgorithmus ist das Lesen.

In Texten und noch mehr bei der mündlichen Erzählung ist wichtig, was zwischen den Zeilen steht. Was unter der Haut des Formulierten schwingt.

In der Tradition des Talmud gibt es die Suche nach dem verlorenen Buchstaben. Das Heil liegt nicht in dem schon Ausformulierten. Das Wichtigste bleibt unbekannt, ist verborgen. Es gibt die dunkle Seite des Alpha. Gershom Scholem beschreibt, dass Gott in vier Wochen Gotteszeit (das sind mehr als 13,5 Milliarden Jahre) mit den Buchstaben und Zahlen «gespielt» habe. Er hat auf sie «eingehämmert». Dann hat er in einer Woche Kosmos, Erdenwelt und uns geschaffen. Offenbar sind Buchstaben und Zahlen etwas anderes als blosse Symbole. Sie sind auch nicht bloss Techniken. Lesbarkeit und der Respekt vor dem, was wir nicht lesen können, gehen der Realität voraus. Lesen ist Vertrauenssache.

In Texten und noch mehr bei der mündlichen Erzählung ist wichtig,
was zwischen den Zeilen steht. Was unter der Haut des Formulierten schwingt.

In den Chips der digitalen Welt arbeitet Silizium, der Sand. Wo zu viel Sand ist, das nennt man Wüste. Aber in der Wüste gibt es bekanntlich heftig kämpfendes Leben. Es gibt vor allem die Baukunst der Oasen. Lesen und Leserwelt, das sind solche Oasen. Feste Orte der Verlässlichkeit in einer zum Atomismus tendierenden Welt.

Die Nähnadel

Der Archäologe Hermann Parzinger berichtet, für mich als Poeten bewegend, von der Geschichte der Nähnadel. Vor vielleicht 800 000 Jahren wurde die Nähnadel über 1000 Jahre hinweg 70 Mal erfunden, wieder vergessen und neu erfunden. Dann konnten aber Menschen, indem sie Felle zusammennähten, eine zweite Haut, Ganzkörperkleidung, entwickeln. Für das Überleben in der Kälte. Tausende von Jahren später ist diese Fähigkeit des Zusammennähens in das Innere der Menschen, in die Subjektivität gewandert. Dort werden jetzt Worte zu Sätzen zusammengenäht.

Die Fortsetzung der Nähnadel ist die Grammatik. Aus Grammatik entstehen Kontext und Zusammenhang: die Webkunst, das Erzählen. Zwischen der Information einer «Tagesschau» und dem Erzählen, das menschliche Kommunikation lebendig macht, liegt genau das, was wir Prinzip Mündlichkeit und Prinzip Lesbarkeit nennen. Das unterscheidet den Taktschlag einer Zeitung, den der Bücher, den der Enzyklopädien, den der Künste, von der blossen Aktualität.

Bei Georg Baselitz weisen die Bäume zum Himmel. Das ist kein künstlerischer Scherz oder gegriffener Effekt. Es besagt: Wir nähren uns nicht nur von dem, was die Erde uns bringt, z.B. dem Brot, sondern von einem jeglichen Wort, das vom Himmel fällt. Mindestens die Wurzeln unserer Wünsche, die Wunschmaschinen in uns, zeigen zum Himmel.