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Von Helmut Heißenbüttel | Quelle NORDDEUTSCHER RUNDFUNK - 2. April 1978 | | Texte

Unheimlichkeit der Zeit Neue Geschichten von Alexander Kluge


(Alexander Kluge: Neue Geschichten, Hefte 1 - 18 "Unheimlichkeit der Zeit". Erschienen in der edition suhrkamp 819, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1977)

Im Vorwort zu seinem 1973 erschienenen Erzählungsband "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang" sagt Alexander Kluge: "Sinnentzug. Eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können." Das heißt, der Schillersche Ausspruch, der für die Kontinuität bürgerlicher Lebensauffassung stand: Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen, wird durchkreuzt immer schon, ehe das Erbe angetreten werden kann. Wer sich auf diese Kontinuität verlässt, ist in der Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits der wahre Irre. Es überlebt nur, wer sich der abrupt veränderten und sich immer wieder verändernden gesellschaftlich-ökonomischen Voraussetzung anzupassen vermag. Aber die Lernprozesse, die das Subjekt, um diese Anpassungsfähigkeit zu erwerben, durchmachen muß, haben, so Kluges These, durchaus tödlichen Ausgang.
Ich habe von diesem Buch als von einem Erzählungsband gesprochen. Das ist irreführend, wenn man sich unter Erzählung so etwas wie eine moderne Variante der klassischen Novelle vorstellt. Das war schon irreführend bei Kluges erster Buchveröffentlichung "Lebensläufe" von 1962, dessen Vorwort doch noch beginnt: "Die Erzählungen dieses Bandes stellen aus sehr verschiedenen Aspekten die Frage nach der Tradition." Von Beginn seiner literarischen Versuche an hat Kluge sich eine eigene Form geschaffen, eine Mischung aus Erzählpartien, Reportageelementen und Zeitdokumenten. Am weitesten in die Breite ausgeführt erscheint diese Methode in seinem zweiten Buch, "Schlachtbeschreibung", 1964, einer Bestandsaufnahme, so könnte man sagen, der Schlacht um Stalingrad im Zweiten Weltkrieg. Dieses Buch verweist zugleich auf die andere Ausdrucksform, die Kluge benutzt, den Film. Man könnte von einer Prosa sprechen, die von filmischen Verfahrensweisen beeinflußt ist. Aber das wäre wiederum zu einfach, zu schematisch.
Kluge hat vielmehr, das zeigen die "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang", die Filmentwürfe "Gelegenheitsarbeit eine Sklavin. Zur realistischen Methode", 1975, und vor allem der im vorigen Jahr erschienene Band "Neue Geschichten. Hefte 1-18. ‚Unheimlichkeit der Zeit'", allmählich etwas aufgebaut, für das man im Grunde einen eigenen Gattungsnamen erfinden müßte.
Wie kann man das umschreiben? Am Anfang der "Gelegenheitsarbeit einer Sklavin" zitiert Kluge aus dem Theoretischen Traktat, den er zusammen mit dem Philosophen Oskar Negt geschrieben hat, "Öffentlichkeit und Erfahrung", 1972: "Der Lebensgeschichtliche Aufbau von Erfahrung - unterschiedlicher Zeitduktus der Lernprozesse". Und im theoretischen Anhang des gleichen Bandes heißt es: "Es muß möglich sein, die Realität als die geschichtliche Fiktion, die sie ist, auch darzustellen. Sie hat eine Papiertiger-Natur. Den Einzelnen trifft sie real, als Schicksal. Aber sie ist kein Schicksal, sondern gemacht durch die Arbeit von Generationen von Menschen, die eigentlich die ganze Zeit über etwas anderes wollten und wollen. Insofern ist sie in mehrfacher Hinsicht gleichzeitig wirklich und unwirklich. Wirklich und unwirklich in jeder ihrer einzelnen Seiten: kollektive Wünsche der Menschen, Arbeitskraft, Produktionsverhältnisse, Hexenverfolgung, Geschichte der Kriege, Lebensläufe der Einzelnen. Jeder dieser Ausschnitte für sich und alle zusammen haben antagonistische Eigenschaft: sie sind eine reißerische Erfindung und sie treffen wirklich."
Kluge sucht also nach einer Methode, die historische Erfahrung unserer Zeit darzustellen. Dazu genügt es nicht, das Widersprüchliche und Abweichende in ein verändertes Bett der Fiktion, der erfundenen und auf Erfindung hin abgekürzten Erzählung, zu lenken. Fiktion setzt immer schon Vorentscheidung des Falls, der Psychologie, der Motivverknüpfungen voraus, die den Kern der disparaten Erfahrung offenbar nicht mehr erfaßt. So hat Kluge sich in Ansätze zurückgezogen. So hat er aber auch übermäßig verkürzt, an die Stelle der erzählerischen Konzentration die der Parabel gesetzt. So hat er das unbearbeitete Material verwendet, Zeitungsnotizen, wissenschaftliche Ergebnisse, Theoreme, historische Überlegungen usw. Man könnte das wiederum zum Film in Verbindung setzen. Aber es ist nicht auf Literatur übertragener Film, was Kluge vorzeigt, es ist Literatur, Sprache, ohne die Mittel der Sprache unverständlich und ohne Sinn. Ja, ich würde soweit gehen zu sagen, daß eben die Entwürfe in "Gelegenheitsarbeit einer Sklavin" dadurch, daß sie in dieser, in sprachlicher Form fixiert sind, etwas ganz anderes darstellen als das, was man vielleicht in einer filmischen Verwertung dieser Entwürfe daraus machen könnte.
In seinem neuesten Buch, das hier mit einem Beispiel vorgestellt werden soll, hat Kluge denn auch bestimmte Konsequenzen gezogen. Er verzichtet auf die deutliche Abgrenzung einzelner Erzählkomplexe. Wo sich der Zusammenhang herstellt, eine Geschichte abläuft, hat gerade die Geschlossenheit des Ablaufs Zufallscharakter. Es werden Bruchstücke aneinander gereiht, die sich ergänzen, manchmal überraschend deutlich, manchmal wie über große Lücken des Unausgesprochenen, des nicht Formulierbaren hinweg. Nicht von einer neuen Form des Romans, auch nicht von der, die Guido Morselli in seinen Vexierbildern aus historischer Realität und freier Erfindung meint, wäre hier zu sprechen, sondern von Materialien zu einem Roman oder einer Biographie oder einer Geschichtsstudie, Materialien, die sich weigern, aus ihrem Materialcharakter herauszutreten. Nicht, weil der Autor sich weigerte, aus welchem Grund auch immer, sondern weil die Erfahrung, die dargestellt werden soll, nur so, in dieser unbearbeiteten Form artikuliert werden kann. Aber das, was von traditioneller Literaturherstellung als unbearbeitet erscheint, wird zur eigentlichen Arbeit. Die Tätigkeit und Differenzierung des Autors setzt hier an.
Es kommt hier nicht auf Kriterien an, die gerade in der bundesdeutschen Kritik der letzten Jahre restaurativ fröhliche Urständ feiern: Einheitlichkeit der Handlung, Plausibilität der Charaktere und ihrer Verhaltensweisen, Überzeugungskraft der Darstellung, Anschaulichkeit der Schilderung und es kommt schon gar nicht an auf das, was bei den heute am besten verkauften Autoren zur bloßen Warenmarke verhärtet ist, auf Stil. Was man bei Kluge allenfalls als Stil bezeichnen könnte, ist operativ bestimmt, das heißt durch die Frage, wie komme ich am schnellsten zu dem Nahziel, das ich ansteure, um den gerade begonnenen Ansatz einigermaßen deutlich zu machen.
Dazu gehört die Identifizierung von real und irreal, dazu gehört die Offenlegung des Heftcharakters, dazu gehört auch der Übergang der Sprache ins Foto, das nicht illustriert, sondern da erscheint, wo es kürzer und komplexer artikuliert als die Sätze. "Geschichten ohne Oberbegriff" nennt Kluge im Vorwort, was er gesammelt hat. Und er fügt hinzu: "Ich behaupte nicht, daß ich selber ihren Zusammenhang immer begreife." Kluge sagt, und besser kann ich es auch nicht ausdrücken: "Wenn ich etwas verstanden habe, setze ich mich in Bewegung, reise, handle, oder ich schreibe ein theoretisches Buch. Dies hier ist keines. Deshalb meine ich nicht weniger, was ich schreibe. Ich fange aber nicht an, die niedergeschriebenen Geschichten nachträglich ‚auszubessern'. Ich könnte z.B. Irrtümer, historisch Unzutreffendes, Mißverständnisse ... durch Zusätze aufklären. Das ist aber nicht die Form, in der die Geschichten erzählt sind. Diese Form ist ein Gefühl, das nur einmal mißt, und war es theoretisch ( = betrachenderweise) falsch, dann ist es falsch und mißt so auch."
Auch auf die Gefahr des Mißverständnisses hin, das in der Methode liegt, nun doch eine geschlossene Geschichte: "Schwachstellenforschung nach Dr. sc. Nat. Beate G."

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