Der Text ist die Wahrheit

Von Helmut Heißenbüttel | Quelle Text + Kritik, H. 85/86, Januar 1985: Alexander Kluge. S. 2-8 | | Texte

Zur Methode des Schriftstellers Alexander Kluge

In seinem Autorenbuch über Alexander Kluge (München 1980) schreibt Rainer Lewandowski: "Wollte man Kluges poetisches Prinzip allein auf Dokument und Protokoll reduzieren, so griffe man zu kurz. Man sieht zwar einen zentralen Aspekt, erfaßt aber bei weitem nicht das Ganze. Vor allem kann damit der literarische Stil Kluges nicht beschrieben werden, allenfalls ein Moment seiner literarischen Produktionsweise." Diese Aussage beleuchtet treffend das Dilemma der Kritik gegenüber dem Schriftsteller Alexander Kluge. Das begann mit Reinhard Baumgarts Rezension der "Schlachtbeschreibung" in ihrer ersten Fassung von 1964. Baumgart folgerte: "In dieser neuen, anonymen Situation versagen die letzten, die tief im Instinkt eingeübten Hemmungen. Deshalb und in diesem Sinn ist die neue Lage unmenschlich. Eine herkömmliche Literatur, eingerichtet nur für Individuen und ihre Konflikte, konnte sie nicht mehr beschreiben, nicht nach dem Ersten Weltkrieg, nicht nach dem Zweiten." Das führt weiter zu dem, was Jürgen Peters zu den "Lernprozessen mit tödlichem Ausgang" (1973) formuliert: "Gegenwart als Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft. Gegenwart wird beschrieben unter dem Aspekt des Real-Möglichen. Das Nicht-Mehr unter dem Aspekt des Noch-Nicht wird hier jeweils immer wieder neu einsetzend ausgefabelt, es geht hier um literarische Experimente, die mit soziologischer Phantasie durchgespielt werden."
Aber es geht weder um Dokument und Kommentar noch um das Authentische oder das fingierte Authentische, es geht nicht um den ‚Stil' des fingiert Authentischen, nicht um das Real-Mögliche oder, was immer das sein mag, um "soziologische Phantasie". Es geht deshalb nicht um das, was mit solchen Begriffen erfaßt werden kann, weil diese Begriffe entwickelt sind am Konzept einer traditionellen literarischen Verfahrenweise, die das alles als Hilfsmittel oder als ihren Gegensatz sich gegenüber sah. Die Versuche, das literarische Werk Kluges zu beschreiben (die Filme lasse ich, obwohl gerade in der Verbindung ein entscheidender Punkt steckt, weg), sind bisher in der Regel daran gescheitert, daß die Beschreibenden sich nicht von der Norm des überlieferten Literaturbegriffs haben frei machen können. Diese Norm, der Roman und die Novelle des 19. Jahrhunderts und ihre Ausläufer ins 20. hinein (wir lesen ja unbefragt noch heute in dieser Norm), stellte ein Modell für eine bestimmte und unauflösbare Identifikation von Thema und sprachlicher Ausformung durch Formulierung dar, die ihren historisch konkreten Ort in den Machtkämpfen der bürgerlichen Gesellschaft um die Produktionsmittel und deren ideologische Überbauung (Individualität) hatte. Dieser historische Ort ist verlassen. Aber das Verlassen geschieht nicht wie durch eine Tür, sondern wir schleppen von dem, was die Grammatik künstlich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgeteilt hat, immer etwas mit, das alte Modell wird nicht, wie ein Automodell, durch das jeweils neue ersetzt, sondern es lagert sich in sich um, das neue Modell der Identifikation von Thema und sprachlicher Methode wächst allmählich heran. Erkennen kann man davon jedoch nur etwas, wenn man versucht, das alte Modell, nach der Vorstellung und nach den Begriffen, zu verlassen und neue Vorstellungen und Begriffe einzusetzen.
Wir haben nicht anstelle der Roman-Fiktion nun eine Dokumentarliteratur oder eine sprachimmanente Literatur oder Mischformen usw., sondern wir haben eine ganz andere Schreibweise. Auch ich war, als ich 1962 Kluges erstes Buch "Lebensläufe" zu erfassen suchte, dem Irrtum erlegen, daß die Übernahme von dokumentarischen Formen, daß bestimmte Abkürzungsverfahren oder eine faktizistische Reduktion der Sätze zu so etwas wie einem neuen Erzählstil führen würde. Wäre das der Fall gewesen, hätte man die Strategien des traditionellen Erzählmodells nur umschreiben müssen (und manche der heute gutverdienenden Autoren der BRD haben das ja auch getan, ohne zu bemerken, daß sie bei Theodor Storm oder Kolbenheyer stehengeblieben sind). Eben hier hat Alexander Kluge angesetzt. Die Entfaltung seines literarischen Werks bis heute zeigt in beispielhafter Weise, wie so etwas geschehen kann. Nicht eine, wie Baumgart meint, unmenschlich gewordene Lage erfordert nun ein verändertes Instrumentation, und wenn es sein muß, ein, wie auch gesagt worden ist, unmenschliches, sondern das Ganze hat sich verändert. Und schon wenn ich Begriffe wie ‚Thema' und ‚Methode' verwende, müßte ich im Grunde immer mitsagen, daß es sich um Behelfe handelt.
Um dem etwas konkret entgegenzusetzen, möchte ich nichts Literarisches zitieren, sondern die "Nachbemerkung" zu dem historischen Werk "Geschichte und Eigensinn", das Alexander Kluge zusammen mit dem Philosophen Oskar Negt geschrieben hat. Da heißt es: "Dies Buch hat uns erschöpft. Es ist ein Fragment. In Einschätzung des Gegenstands, von dem wir handeln, w o l l e n wir auch nichts anderes. Man muß die Lücken mitlesen (...) Es versteht sich von selbst, daß wir nicht auf allen Gebieten, aus denen wir in diesem Buch Beispiele entnehmen, selber gleichmäßig kompetent sind. Von diesem fremden Material geht aber, wie in der Zitatkunst überhaupt, jeweils eine notwendige Provokation aus. Man wird bemerken, daß keine der Thesen des Buches a l l e i n auf solches Material gestützt ist. Eines ist ausgeschlossen: Daß einer sich mäklerisch oder zu den Widersprüchen seines Lebens als bloßer Betrachter verhalten kann. Es ist daher keine Phrase, daß wir auf die Eigentätigkeit des Lesers setzen. Ein verkehrtes Verhalten würden wir darin sehen, wenn die von uns sichtbar gemachten und damit einer kollektiven Diskussion geöffneten Sachverhalte zugunsten einer Kritik verdeckt werden, die ausschließlich orientiert ist an der Wegarbeitung unseres Vorschlags. Alles wirklich Brauchbare besteht in Aushilfen."
Drei Begriffe sind, so meine ich, aus dieser "Nachbemerkung" herauszuziehen: Fragment, notwendige Provokation (aufgrund des Zitats, das der Inkompetente an die Stelle der Kompetenz setzt) und Eigentätigkeit des Lesers. Nicht das Dokumentarische oder Authentische ist wichtig, sondern das Lückenhafte ("Man muß die Lücken mitlesen."). Das Fragment, das sich niemals zu etwas Geschlossenem, gar Abgeschlossenem schließt, ist die Form, in der sich Erfahrung mitteilt, die ihres Zentrums, ihres zentralen Bezugs nicht sicher ist. Eines zentralen Bezugs, der nicht einfach verloren ist, aus dem der Erfahrende nicht einfach herausgefallen ist, sondern den es, von hier aus gesehen, nie gegeben hat, dessen Bezüglichkeit eine historisch konkrete und konstituierende Illusion war. Wer im Fragment redet und erzählt, hat den Illusionscharakter des zentralen Bezugs durchschaut. Auf Erzählung hin betrachtet, heißt das etwa, daß das Schildern, Ausgestalten, Abrunden von Figuren oder Schauplätzen (‚prallen' Figuren, ‚lebendigen' Schauplätzen) bloße Vorgabe ist. Was tatsächlich auftaucht, sind Namen, Einzelzüge des Charakters, der Entwicklung, wie das herumwandernde Knie von Christian Morgenstern, das Kluge mehrfach zitiert. Was auftaucht, sind Beispiele, Exempelfälle, Exempelfiguren. Oder ein Figurenaspekt weitet sich aus in ein fast unübersehbares Labyrinth (so tauchen in Kluges literarischem und filmischem Werk bestimmte Namen, bestimmte Figurenkonstellationen an ganz verschiedenen Stellen, in ganz verschiedenen Zusammenhängen auf, gewinnen fast pseudomythologischen Stellenwert).
Die fragmentarische, lückenhafte Erzählweise nun provoziert dadurch, daß sie wegläßt und sich beruft auf das bloß Angelesene. Zitat wird zum integrierenden Bestandteil der fragmentarischen Erzählweise, erhält dabei Eigencharakter, der textimmanent, aber nicht länger subjektimmanent ist. In dieser provozierenden Verwendung des Zitats, des Berufens gewinnt der Text die Oberhand über den Autor. Indem der Autor zitiert, enthält er sich nicht nur der Subjektivität, und das heißt auch, des subjektiven Ausdrucks, gar des autobiographischen Bekenntnisses, er setzt das Subjekt aus, zerstreut es gleichsam in sein Textfeld oder zeigt sich unwissend über das, was es sein könnte. So treten schon in der ersten Fassung der "Schlachtbeschreibung" an die Stelle der ‚subjektiven' Erlebnisse (die noch bei Theodor Pliviers Stalingradroman das kollektive Geschehen zusammenhielten) die Felder von objektivierten Berichtfragmenten. In die notwendige Provokation muß der Leser einsteigen, indem er sie zu seinem eigenen Vorstellungs- und Denkmaterial macht. Identifikation mit vorfabrizierten Subjektmodellen und ebenso vorfabrizierten Standardsituationen der bürgerlichen Überlebensstrategie ist nicht möglich. Man kann ja erzählende Literatur nach Sterne, Sade und (vielleicht) Jean Paul bis hin noch zu Joyce und Proust als Simulationsmuster lesen, an deren Hand der Leser sein Verhalten nachspielen, nachprägen kann. Das entfällt in der Erzählweise, wie Alexander Kluge sie vorführt. (In Fernsehserien dagegen läßt sich der Umschlag ins Diktat der Simulation erkennen, die Fernseher werden ‚eingeübt' in das, was sie als Handlungs- und Verhaltensmuster anzunehmen schon bald keine Wahl mehr haben.)
Vielleicht klingt das, was ich an Anmerkungen zu Alexander Kluges literarischer Methode zu formulieren versucht habe, ungewohnt, gar radikal. Ich kann versuchen, es an der Entwicklung dieses Werks zu rekapitulieren. Die Erzählungen der "Lebensläufe" von 1962 ließen sich vergleichsweise noch einem gewohnten Erzähltypus zuordnen. Ihr Befremdliches und Ungewohntes war nicht so befremdlich und ungewohnt, daß eine Rückorientierung nicht möglich gewesen wäre. Bei meiner ersten Rezension fielen mir Georg Büchners "Lenz" und Franz Jungs "Fall Groß" ein, was mir sofort Schelte eintrug. Die "Schlachtbeschreibung" in der Erstfassung von 1964 ließ sich allenfalls noch als konstruktive Kontrafaktur zur überlieferten Romanform verstehen. Theodor W. Adornos Theorem von der ästhetischen Qualität, die sich der bestimmten historischen Negation verdankt, klingt nach. Der schmale Band "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" gibt sich als Sammelband, weicht aus. Die "Sprüche der Leni Peickert" zeigen, ironisch, für Kluge sonst fremde Textformen: Gedichte und Sentenzen.
Mit den "Lernprozessen mit tödlichem Ausgang" von 1973 wird die Grenze sichtbar. Themen der "Lebensläufe" werden aufgenommen, Schicksalszusammenhänge repetiert, die Netzfunktion der Erzählung alter Art aufrecht erhalten. Dennoch ist grundlegend etwas verändert. Unter dem Inhaltsverzeichnis steht der Satz: "Eine Armada erstklassiger Individualisten in einer Zeit kollektiver Kämpfe. ‚Man wird am besten für seine Tugenden bestraft.'" 1975, in "Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode", entwirft Kluge zum erstenmal in aller Konsequenz seine neue literarische Form. Er tut das jetzt auch unter Einschluß aller Bezüge zum Film; Literatur heißt von diesem Buch an auch Literatur in der Form der Sprachkomponente der Filme. Im Vorwort zu dem 1979 zum erstenmal bei 2001 erschienenen Buch "Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6" sagt Kluge: "Man muß nicht erwarten, daß dieses Buch mit dem Film ‚Die Patriotin' direkt zu tun hat. Es ist ein Druckerzeugnis, ein absolut anderes Produkt. Das Buch gibt den Film nicht wieder, das ist die Schwäche. Um ein Buch dieser Art zu verfilmen, müßte man 600 Stunden Film herstellen, das ist die Stärke." Bildmaterial, meist anonymer und kollektiver Art, mischt sich ein.
Mit dem versuchsweisen Erzählen geht eine Überschreitung des Mediums zusammen. Bertolt Brecht hatte ja in seinem "Arbeitsjournal" die Aussage durch das Einkleben von Fotos zu ergänzen oder zu präzisieren versucht. Ahnlich operiert Kluge von den "Lernprozessen" an. Die Texte gewinnen immer mehr Mischcharakter. Einmal wird die größere Komplexität des Fotos in den Sprachtext einbezogen, die Mehrdeutigkeit der fotografischen Dokumentation dient aber auch als ein noch nicht konventionalisiertes Bilderschriftzeichen, wie es Siegfried Kracauer zu beschreiben versucht hat. Diese Einbeziehung von Abbildungen und Fotos verändert zunehmend auch den Buchcharakter, aus Textbüchern werden immer mehr Text-Bilder-Bücher. So hatte ich selber es mir vorgestellt, als ich 1960 den Titel Textbuch zu verwenden begann: Textbuch als etwas, das folgerichtig zu Bilderbuch führen muß. Die beiden letzten Bücher Kluges, "Die Patriotin" (1979) und "Die Macht der Gefühle" (1984), zeigen diesen Typus voll ausgebildet.
Die Überschreitung, Ausweitung, Ergänzung ins Kollektivbild ist ein Symptom für das, was sich geändert hat in der Literaturauffassung Kluges. Grundsätzlich wird im Vorwort zum Band "Neue Geschichten. Hefte 1-18. ‚Unheimlichkeit der Zeit'" (1977) so formuliert: "Die Geschichten dieses Buches sind in der Folge von Heften (1-18) wiedergegeben. G e s c h i c h t e n o h n e O b e r b e g r i f f . Ich behaupte nicht, daß ich selber ihre Zusammenhänge immer begreife. (...) Die Regenpfütze, die von niemand gebraucht wird, die nicht terrorisiert wird, damit sie sich ‚verhält', kann sich die klassische Form leisten: Übereinstimmung von Form und Inhalt. Wir Menschen sind dadurch bestimmt, daß Form und Inhalt miteinander Krieg führen. (...) Wenn ich etwas verstanden habe, setze ich mich in Bewegung, reise, handle, oder ich schreibe ein theoretisches Buch. Dies hier ist keines. Deshalb meine ich nicht weniger, was ich schreibe. Ich fange aber nicht an, die niedergeschriebenen Geschichten nachträglich ‚auszubessern'. Ich könnte z. B. Irrtümer, historisch Unzutreffendes, Mißverständnisse (‚was ich selber nicht begriffen habe, während ich schrieb') durch Zusätze aufklären. Das ist aber nicht die F o r m , in der die Geschichten erzählt sind. Diese Form ist ein Gefühl, das nur einmal mißt, und war es theoretisch (= betrachtenderweise) falsch, dann ist es falsch und mißt so auch."
Die Form des Fragments, der mitzulesenden Lücken, ist also auch die Form des möglichen Irrtums. Sie kann das sein, weil es vom Text her gesehen keinen Irrtum geben kann. Irrtum ist lediglich ein Zeichen für den Bezug außerhalb des Textes. Und wenn die Form ein Gefühl ist, dann wird damit nicht die alte Zentralschaltstelle des illusionären Subjekts berufen, sondern eine Meßinstanz, die den Text aus der Alternative ‚falsch' oder ‚nicht falsch' heraushält. Der Text ist die Wahrheit. Es gibt keine andere Wahrheit. Im Vorwort zum letzten Buch "Die Macht der Gefühle" (1984) sagt Kluge: "Der Name meines letzten Films heißt: D i e M a c h t d e r G e f ü h l e . Die Macht gibt es w i r k l i c h, und die Gefühle gibt es auch w i r k l i c h . Die schärfste Herausforderung für das Gefühl ist der Krieg (... ) ich möchte Geschichten erzählen, wieso die Gefühle nicht ohnmächtig sind."
Es ist gewiß zu durchschauen, daß ich meine Methode der Darstellung von bestimmten Prinzipien der Verfahrensweise bei Alexander Kluge seiner eigenen Methode angeglichen habe. So habe auch ich Lücken gelassen. Lücken, die ich vielleicht hätte auffüllen können. Aber wenn ich mich an dieses ‚vielleicht' des Auffüllenkönnens halte, so muß ich sagen, daß das nur dann möglich wäre, wenn ich den Begriffsapparat, den ich, von Kluge entlehnt, angewendet habe, verengt und systematisiert hätte. Da aber, so scheint mir, liegt ein entscheidender Punkt. Das fragmentarische, das lückenhafte, das, so könnte man sagen, springende Reden, das nicht aphoristisch ist und nicht paradox, verlangt immer nur den Anlaß und die Perspektive, niemals den Abschluß in die stimmende Kausalität. Zusammenhang geschieht über das Unzusammenhängende. Ja, es ist allein das Unzusammenhängende, das Zusammenhang garantiert.
Ein Beispiel. "Abweichung vom Drehbuch" ("Gelegenheitsarbeit einer Sklavin"): "Ich referiere einfach einmal, was die verschiedenen Schritte vor und bei Herstellung des Films ‚Gelegenheitsarbeit einer Sklavin' waren. Zunächst habe ich noch während der gemeinsamen Arbeit mit Oskar Negt an ‚Öffentlichkeit und Erfahrung' Entwürfe für einen Film geschrieben. Bei allen diesen Varianten geht es immer wieder um einen bestimmten Aspekt der gesellschaftlichen Erfahrung, der sich in der Ausdrucksweise des Buches nicht hinreichend abbilden ließ: ‚natürliche' Zeit - industrialisierte Zeit; Konkurrenz - Kooperation; privates Verhalten - öffentliches oder professionelles Verhalten. (...) Der Film beginnt mit der Nacherzählung einer moralischen Bildergeschichte des 18. Jahrhunderts. ‚Fleiß und Faulheit' nach Bildern von William Hogarth und mit Texten von Lichtenberg, (... ) An diese Nacherzählung knüpft sich eine filmische Untersuchung heute."
Das Aneinanderlegen von Text- bzw. Filmteilen, wie man Dominosteine aneinanderlegt, setzt zugleich unterschiedliche Ebenen, ja wechselt von einem Bezugsfeld in ein anderes. Man kann das hintereinander lesen und sehen, als ob in diesem Hintereinander Zusammenhang und Sinn lägen. Aber man versteht so nicht wirklich. Es ist, als ob man den Zusammenhang eines Comics verstehen will, ohne die Sprechblasen zu lesen. Das Dazwischenliegende, das Ausgesparte, das Unformulierte und Nichtformulierbare ist es eigentlich, das zusammenhält. Nicht dadurch, daß es so etwas wie ein außertextliches mystisches Unsagbares bildet, sondern dadurch, daß es die Bruchkanten des Textes gegeneinander hält und dadurch, daß es die Aktivität des Lesers und Sehers provoziert, daß der aktive Leser ausdrücklich gefordert wird.
Man kann das auch so ausdrücken, daß es darum geht, einen mittleren, nur vermittelnden Realismus zu unterwandern und zu überwinden. Ebenfalls in der "Gelegenheitsarbeit einer Sklavin" sagt Kluge: "Radikale, authentische Beobachtung bringt ein Resultat, das für den Durschnittsrealismus absolut fremd, ‚ungesehen', erscheint. Radikale Fiktion, die z. B. in der alltäglichen Erscheinung nicht miteinander (oder nur in kleiner Münze) konfrontierte Widersprüche zusammenfaßt, erscheint vom gesunden Menschenverstand her als übertrieben. Das liegt daran, daß die Perspektiven des mittleren Realismus eine ideologische Ballung bilden, eine Schein-Wirklichkeit, an die sich Gewöhnungen kristallisieren. Diese Gewöhnungen sind programmgleich mit der schulmäßig erlernten Arbeit des Bewußtseinsapparats, dem offiziellen, domestizierten Bewußtsein, das an der gesellschaftlichen Entwicklung teilhatte. Unterhalb dieser Schwelle des beherrschenden Bewußtseins existiert jedoch eine vom Herrschaftssystem unterdrückte lebendige Arbeit: subdominantes Bewußtsein." Um dieses subdominante Bewußtsein geht es im Werk von Alexander Kluge.

Zurück