Alexander Kluge: Übergabe des Kindes

Von Christian Schulte | Quelle Interpretationen: Deutsche Kurzprosa der Gegenwart, Reclam 2006 | | Texte

hg. von Christine Hummel und Werner Bellmann. Stuttgart: Reclam 2006.

Die Erzählung Übergabe des Kindes erschien erstmals 1983, bildete dann die Vorlage einer Sequenz des Films "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" (1985) und wurde schließlich in Alexander Kluges literarisches Hauptwerk, Chronik der Gefühle , aufgenommen, mit der der Autor im Jahre 2000 nach langen Jahren der Film- und Fernseharbeit in die literarische Öffentlichkeit zurückkehrte.
Der Text erzählt folgende Geschichte: Eine Pflegerin wird mit der Betreuung eines Kindes beauftragt, dessen Mutter (von dem Vater ist in der Geschichte nicht die Rede) bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Nach einem halben Jahr soll sie das Kind an die Schwester der Mutter, eine Geschäftsfrau, übergeben. Der Tag der Übergabe ist unglücklicherweise auch der Tag, an dem die neue Familie des Kindes in ihr neues Haus einzieht. Die Frau des Hauses, "die sonst im Auftrag ihres Mannes, eines Eisenhandels-Großunternehmers, Gäste empfangen half", hat aber keine Zeit. Sie ist mit der Organisation des Einzugs beschäftigt und delegiert die Aufnahme des Kindes nacheinander an verschiedene Bedienstete. Da sich keines der Hausmädchen zuständig fühlt ("Die Aufgaben zwischen mir und dem zweiten Mädchen sind noch nicht geregelt") und niemand dem Bericht der Pflegerin Aufmerksamkeit schenkt, nimmt diese das Kind schließlich wieder mit.
Die Situation, die der Text beschreibt, erscheint merkwürdig zugespitzt. Es ist kaum vorstellbar, daß eine Pflegerin, die nur noch für wenige Stunden das Sorgerecht für ein ihr anvertrautes Kind besitzt, zu der von Kluge gewählten Konsequenz greifen würde. Sie müßte doch befürchten, daß sie spätestens am nächsten Tag das Kind - notfalls unter dem Druck durch die Polizei - herausgeben müßte. Ebenso unwahrscheinlich ist, daß der Einzugstermin mit dem Zeitpunkt der Kindesannahme zusammenfallen würde. Es geht denn auch vielmehr um die Haltungen, die hier aufeinander prallen und die gerade in der literarischen Zuspitzung kenntlich werden.
Da ist auf der einen Seite die Pflegerin, die "das Kind in halbjähriger Bemühung in einen ausgezeichneten Zustand gebacht hatte". Sie nimmt ihre Aufgabe ernst und hat sich - im Gegensatz zu der neuen Sorgeberechtigten - auf die "Übergabe" vorbereitet. Sie hat alle Informationen auf Zettel notiert, die sie über das Kind gesammelt hat: "Eigenheiten des Kindes, Reinlichkeitsgewohnheiten, Eßlaune, Schlafmuster, Trostmittel." Darüber hinaus hat sie sämtliche Gegenstände, die dem Kind vertraut waren, mitgebracht. Ihr ist an einem bedürfnisorientierten Umgang mit dem Kind gelegen, das aber braucht Zeit und Geduld, ein aufmerksames "Studium" seiner Eigenschaften und Reaktionsweisen. Sie erwartet, daß die neue Pflegemutter sich für die Besonderheiten des ihr anvertrauten Kindes interessiert und diesem Interesse auch die nötige Zeit einräumt.
Die Hausherrin auf der anderen Seite verfügt über keine Erfahrung mit Kindern. Sie betrachtet das Kind als ein weiteres Requisit ihres Hauses, für dessen Betreuung bereits eines der Hausmädchen (Fräulein Elsa) eingeplant ist. Sie ist eine Planerin, die gewohnt ist, Anweisungen zu geben und das Haus zu organisieren. Entsprechend scheint sie sich bei der Aufsicht der Möbelpacker und des Personals wohler zu fühlen. Auf einen effizienten Ablauf bedacht, hat sie keine Zeit für die Ausführungen der Pflegerin. Ihre Zeitökonomie zielt darauf, das Kind in die funktionale Welt der Erwachsenen und ihre Verhaltensnormen nahtlos einzupassen. Es werde sich, heißt es, "hier umgewöhnen müssen". Ihr geht es nicht darum, das Kind kennenzulernen und als eigenständigen Menschen, als Individuum zu sehen, sondern als ein Wesen, dem innerhalb der Repräsentationslogik des Geschäftshauses die Funktion zukommt, das inszenierte Bild einer intakten bürgerlichen Familie sinnvoll zu ergänzen. Sie bringt dem Kind nicht mehr Empathie entgegen, als den - vermutlich wertvollen - Möbelstücken, die von den Packern hereingetragen werden ("Sie können das Kleine jetzt dalassen."). Aus ihrer Sicht verhält sich die Pflegerin, die darauf insistiert, angehört zu werden, "unsensibel".
Die Polarität, die Kluge hier konstruiert und auf mehreren Ebenen des Textes durchspielt, könnte mit den Begriffen "Eigensinn" versus "verwaltete Welt" bezeichnet werden. In der saturierten Welt des mit allen Attributen des Luxus (Eingangshalle, Kronleuchter, Bedienstete) ausgestatteten Geschäftshauses sind Ordnung, Kontrolle und widerspruchsloser Gehorsam das Maß aller Dinge. "Das Haus sei technokratisch geordnet", sagt die Pflegerin. "Nicht auf Kinder eingestellt." Das Maß des Kindes aber ist es z.B., wie die Pflegerin aus eigener Anschauung weiß, "nur in Ecken, einer Art Höhle", zu schlafen. Das neue, viel zu helle Kinderzimmer aber paßt nicht zu den Gewohnheiten des Kindes, weil es eher einer "Prärie" gleiche. In einer Prärie ist man der Sonne und möglichen Angreifern schutzlos ausgeliefert, muß man ständig auf der Hut sein. Um angstfrei aufwachsen zu können, muß ein Kind aber seiner Umwelt vertrauen können, dürfen seine Gewohnheiten nicht von einem Tag auf den anderen zunichte gemacht werden. Hierin liegt die (anti-)pädagogische Haltung des Textes: Eine gelungene Individuation setzt voraus, daß sich die menschlichen Eigenschaften selbstreguliert entwickeln können und daß das Urvertrauen, mit dem Menschen auf die Welt kommen, nicht gebrochen wird. "Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst innewerden können" - dieser am unverstellten kindlichen Umgang mit den Dingen geschulte Aphorismus Walter Benjamins markiert gewissermaßen den utopischen Horizont der Erzählung. Darauf gründet sich der quasi-naturrechtliche Standpunkt und der Protest der Pflegerin gegen die kalte Betriebsroutine eines auf Repräsentation angelegten Apparates, dessen Besitzer keinerlei Interesse an der komplexen Bedürfnisstruktur eines Kindes haben. Das Haus gleicht einem Unternehmen, das nach dem Delegationsprinzip funktioniert: es gibt die Hausherrin, die "im Auftrag" ihres außerhäusig tätigen Mannes das Haus verwaltet, so daß Gäste empfangen werden können. Es gibt das erste Mädchen, das zweite Mädchen etc., die sich, um ihre Stellung zu halten, die Prioritäten der Hausherrin zu eigen machen, indem sie dieser "nach dem Mund" reden. Alle dort Tätigen stehen unter Zeitdruck, sind identisch mit den ihnen zugewiesenen Kompetenzen. Sie handeln unter dem Diktat, keine Zeit zu verlieren. Da kein Spielraum für selbstbestimmtes Handeln existiert, scheint ihnen auch die Erinnerung an die eigene Kinderzeit abhanden gekommen zu sein. Auch das meint "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit". Daß in dieser Umgebung Eigentätigkeit und Willensfreiheit blockiert werden, zeigt das Verhalten der Hausherrin, wenn sie das Kind zu sich emporzieht, anstatt sich auf dessen Augenhöhe zu begeben. Der Kommentar der Pflegerin: "Lassen Sie das Kind doch auf seinen Füßen, wo es hingehört (...). Prüfen Sie doch erst einmal, ob es von Ihnen hochgehoben werden will, oder bücken Sie sich, wenn Sie sein Gesicht sehen wollen."
Auch wenn wir als Leser sehr bald mit der Pflegerin sympathisieren, verzichtet Kluge darauf, seine Figuren zu bewerten. Er analysiert vielmehr mit narrativen Mitteln das Scheitern einer Kommunikationssituation und die Bedingungen, die diesem Scheitern zugrundeliegen. Diese Umstände liegen in der Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft begründet, die Kluge gemeinsam mit dem Philosophen Oskar Negt in dem Buch Öffentlichkeit und Erfahrung beschrieben hat. Die Einteilungen der bürgerlichen Öffentlichkeit, heißt es dort, sind so strukturiert, daß Erfahrungszusammenhänge gewaltsam beschnitten werden. Denn: "Die im Lebens- und Produktionszusammenhang wirklich produzierten kollektiven gesellschaftlichen Erfahrungen der Menschen liegen quer zu diesen Einteilungen." In der Geschichte, die ja von dem Sorgerecht für ein Kind handelt, verweist allein die Tatsache, daß hier nur Frauen als Akteure auftreten, auf den Umstand, daß die gesellschaftliche Reproduktion (Erziehung, Haushalt etc.) immer noch weitgehend den Frauen zugewiesen wird. Aber auch der Umzug selbst wird in diesem Text zu einer Metapher für den Einschnitt in langfristig gewachsene Erfahrungszusammenhänge. Schließlich macht die entindividualisierte Sprechweise des gesamten Textes verschiedenes deutlich: auf seiten der Angehörigen des Hauses ("Stellen Sie das Kind hierher.") die Hermetik einer großbürgerlichen Welt, in der die Pflegerin mit ihrem eigensinnigen Beharrungsvermögen als Störfaktor erscheint. Auf seiten der Pflegerin, die von der "Übernahme" und dem "Studium" des Kindes wie von einem Auftrag oder einem Wissensgebiet spricht, daß es gegenüber der entfremdeten Welt kein heiles Außen gibt, sondern daß jeder mehr oder weniger jenem Identitätszwang unterworfen ist, der Kluges Lehrer, Theodor W. Adorno, zufolge längst in die letzten Nischen der bürgerlichen Gesellschaft eingedrungen ist. Daß auch die auktorialen Passagen diese rationalistische Tonlage durchhalten (wenn es etwa heißt, die Pflegerin habe das Kind "in einen ausgezeichneten Zustand gebracht"), spricht für die Authentizität der Erzählinstanz. Angefangen mit dem Titelwort "Übergabe", kann der Leser prüfen, ob er sich von diesen verdinglichenden Redefiguren provoziert fühlt, weil er im Verhalten der Pflegerin eigene Wünsche wiedererkennt, oder nicht. Darin liegt eine der Wirkungsabsichten der Erzählung. Indem der Text die Ausdrucksformen, die er kritisiert, mimetisch in sich aufnimmt, erhält der Leser die Chance, etwas über sich zu erfahren - nämlich ob und in welchem Maße seine eigene Denk- und Sprechweise mit der Rhetorik des Textes übereinstimmt. Daß das Kind in der ganzen Geschichte namenlos bleibt, ist vor diesem Hintergrund nur konsequent.

Literaturhinweise

Alexander Kluge: Übergabe des Kindes. In: Ästhetik und Kommunikation Heft 53-54. THEMA: Gefühle, 1983, S. .
Alexander Kluge: Übergabe des Kindes. In: A.K.: Chronik der Gefühle. Bd. 1. Basisgeschichten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000. S. 321-326.

Kluge, Alexander: Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann. Berlin: Merve, 2001. Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von proletarischer und bürgerlicher Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1972. Schulte, Christian: Die Lust aufs Unwahrscheinliche. Alexander Kluges Chronik der Gefühle. In: Merkur, Heft 4, 2001, S. 344-350. Stollmann, Rainer: Alexander Kluge zur Einführung. Hamburg 1998: Junius 1998.

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