Alexander Kluge: "Ein Liebesversuch"

Von Christian Schulte | Quelle Klassische deutsche Kurzgeschichten, hg. von Werner Bellmann, Stuttgart: Reclam 2004. | | Texte

Klassische deutsche Kurzgeschichten, hg. von Werner Bellmann, Stuttgart: Reclam 2004.

Die Erzählung "Ein Liebesversuch" erschien 1962 in Alexander Kluges erster Prosaveröffentlichung, Lebensläufe, und gehört damit zeitgeschichtlich in die unmittelbare Vorgeschichte der Auschwitzprozesse. Im Vorwort heißt es: "Die Erzählungen dieses Bandes stellen aus sehr verschiedenen Blickwinkeln die Frage nach der Tradition. Es handelt sich um Lebensläufe, teils erfunden, teils nicht erfunden; zusammen ergeben sie eine traurige Geschichte." Es geht in diesen Texten um die Bruchstellen und noch offenen Wunden, die die jüngere deutsche Geschichte in die Lebensläufe einzelner Menschen hineingerissen hatte, aber auch um den Versuch einer Bestandsaufnahme der inneren Befindlichkeit vor allem der Generation, die ihre wesentlichen Prägungen in der Zeit des Nationalsozialismus erfahren hatte und die nach 1945 ungeheure Anstrengungen in die eigene Selbsterhaltung und den Wiederaufbau des Gemeinwesens investierte, ohne sich indessen die Dimension der begangenen Verbrechen auch nur annähernd bewußt zu machen. "Ein Liebesversuch" leistet Trauerarbeit angesichts einer Geschichte, in der die Trauer zu lange ausgeblieben war.
Die kurze Erzählung, eines der radikalsten Beipiele der Shoah-Literatur, ist unter den Prosaarbeiten Kluges gewiß die bekannteste. Dies dürfte einmal damit zusammenhängen, dass der Text in mehrere Schullesebücher aufgenommen wurde, aber auch mit dem Umstand, dass seine Wirkungsgeschichte von heftigsten Abwehrreaktionen begleitet war. Noch 1979 wurde, so berichtet Leo Finndegen, "ein Lehrer in Baden-Württemberg gemaßregelt, weil er diesen 'pornographischen' Text mit seinen Schülern gelesen habe." Ein Text, der derartige Affekte mobilisiert, fungiert wie eine Aufklärungssonde, die darüber Auskunft gibt, wo die Grenzen dessen liegen, was eine Gesellschaft bereit ist, sich zuzumuten. Um was für einen Text aber handelt es sich? "Ein Liebesversuch" handelt, mit einem Wort Adornos, von der "Kälte", jenem "Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre." Die Erzählung beschreibt in einer lakonisch-monotonen Sprache den Fall eines grausamen Experiments, das 1943 in einem deutschen Vernichtungslager stattfindet. Um herauszufinden, ob Röntgenbestrahlung ein effizientes Mittel zur Durchführung von Massensterilisationen sei, werden zwei jüdische Gefangene, ein Mann und eine Frau, zusammengeführt und durch verschiedenste Manipulationen zum Geschlechtsverkehr angehalten. Der Versuch scheitert jedoch, und die Gefangenen werden erschossen.
Ulrike Bosse hat überzeugend dargelegt, dass Kluge als Quelle die Dokumentation Medizin ohne Menschlichkeit von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke gedient haben dürfte, in der bereits 1948 die Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden waren. Die Autoren informieren dort umfassend über die Praktiken botmäßiger NS-Ärzte in den Konzentrationslagern, zu denen auch Sterilisationen durch Röntgenbestrahlung gehörten. Obwohl damit die Verstrickung deutscher Mediziner auf der Hand lag, wurde das Buch innerhalb der Ärzteschaft, an die es in erster Linie adressiert war, nicht zur Kenntnis genommen. Es war so, schrieb Mitscherlich im Vorwort der Neuauflage von 1970, "als ob das Buch nie erschienen wäre." Das Schweigen der Ärzte und die genannten Abwehrreaktionen gegen Kluges Text sind nur verschiedene Symptome derselben gesellschaftlichen Disposition: eine Auseinandersetzung mit dem Thema war lange Zeit unerwünscht. Dass Alexander Kluge, selbst gelernter Jurist, die Dokumente dagegen sehr genau zur Kenntnis genommen hatte, ist nicht nur dadurch belegt, dass er in einem anderen Text der Lebensläufe aus diesem Material zitiert ; auch die Grundsituation seiner Erzählung korrespondiert mit einem dort abgedruckten Dokument, einem Brief des persönlichen Referenten Himmlers vom 10. Juli 1942, in dem es heißt: "In dem einen oder anderen Fall dürfte aber auch ein praktischer Versuch in der Weise durchgeführt werden, dass man eine Jüdin mit einem Juden eine gewisse Zeit zusammensperrt und dann sieht, welcher Erfolg dabei auftritt." Kluges Erzählung lehnt sich deutlich an die historische Wirklichkeit an: er findet einmal seine Geschichten in den Fakten der Realgeschichte, und zum anderen erfindet er sie, nämlich als Autor, der seinen eigenen Protest, den "Antirealismus" seiner Gefühle, auf den vorgefundenen Stoff anwendet - in der Hoffnung, dass so, vermittelt über eine subjektive Perspektive, die harten Fakten dieser Geschichte in der Vorstellung der Leser ankommen.
Um dies zu erreichen arbeitet Kluge mit einigen Überraschungsmomenten und Verrätselungen. Zunächst mag man sich fragen, warum dieser Text, dessen erzählte Zeit auf die Dauer des beschriebenen Experiments begrenzt ist, in ein Buch aufgenommen wurde, das den Titel Lebensläufe trägt. Über den Sprecher des Textes, der den Ablauf des Versuchs rekapituliert, erfahren wir nicht mehr, als dass er nicht nur als Zeuge zugegen, sondern selbst aktiv an seiner Durchführung beteiligt war ["Wir führten einen männlichen und einen weiblichen Gefangenen zu einem Versuch zusammen." (770)]. Kein Wort über seine Identität und auch nicht über den Zeitpunkt, an dem er sein Erinnerungsprotokoll anlegt. Der Eingangssatz legt allerdings nahe, dass einige Jahre zwischen dem Protokoll und dem erinnerten Geschehen liegen ["Als das billigste Mittel, in den Lagern Massensterilisationen durchzuführen, erschien 1943 Röntgenbestrahlung." (770)]. Was wir erfahren, liegt eher auf der Ebene der Mitteilung selbst, denn der Text, den Kluge seinen Erzähler sprechen läßt, besteht aus einem stereotypen Schema von Fragen und Antworten, das zunächst an die Befragung eines NS-Täters durch eine zweite Sprecherinstanz denken läßt, wie wir sie heute aus zahlreichen Film- und TV-Dokumentationen über das Dritte Reich kennen. Nur richtet sich keine einzige Frage direkt an den Befragten als Person. Statt "Woher wußten Sie das?" heißt es "Woher wußte man das?" (771) Irritierend ist auch, daß Fragen wie Antworten in demselben "kühle(n), förmlich antiseptische(n) Ton" vorgetragen werden; erst die Frage "Wurden wir selbst erregt?" (772) klärt uns darüber auf, dass die fragende und die befragte Instanz ein und dieselbe Person sind. Ein Beteiligter der NS-Verbrechen hält in diesem Text Zwiesprache mit sich selbst. Wie durch eine subjektive Kameraeinstellung blicken wir mit den Augen des Täters zurück und werden selbst zu Zeugen des Experiments. Indem er auf jeden auktorialen Kommentar verzichtet, etabliert Kluge ein Wahrnehmungsdispositiv, das den Leser quasi nötigt, sich den voyeuristischen Blickwinkel des Täters ungeschützt, ohne distanzschaffende Deckung zu eigen zu machen. Die Erzählperspektive schwankt zwischen "ich" und "wir", so dass wir gezwungen sind, uns selbst als Teil des Täterkollektivs zu imaginieren. Unversehens befinden wir uns in einer Rolle, in der wir es nur schwer aushalten und mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Dies umso mehr, als die Selbstbefragung des Sprechers keineswegs von Schuldgefühlen motiviert ist; was ihn umtreibt ist vielmehr der Umstand, dass das Experiment fehlschlug und er nicht begreifen kann, warum. Die Fragen, die er sich (und uns) vorlegt, betreffen allein die technische, organisatorische Seite des Versuchs; sie konfrontieren uns mit der Kälte einer ratio, der jede Form der Empathie abhanden gekommen ist. Nicht die Sinnfrage stellt sich dem Sprecher, sondern nur die nach dem Fehler im System. "Hat man denn alles versucht?" Seine Antwort: "Ich kann garantieren, dass alles versucht worden ist. Wir hatten einen Oberscharführer unter uns, der etwas davon verstand. Er versuchte nach und nach alles, was sonst todsicher wirkt." (772) Man zog also einen Fachmann hinzu, der wußte, wie man Gefangene gefügig macht, und wir ahnen bereits, dass derartige "Versuche" eher die Regel als die Ausnahme waren. Das Experiment stand unter einem hohen Erfolgsdruck, denn es hatten sich "hochgestellte Gäste [...] angesagt" (770), die das Geschehen durch ein Bullauge beobachten wollten. Entsprechend die Akribie, mit der die Täter an ihr Werk gingen. Selbst die Auswahl der "Versuchspersonen" war keineswegs zufällig, sondern das Resultat sogfältiger Recherchen:
"Nach den Akten mußten die beiden Versuchspersonen erhebliches erotisches Interesse aneinander empfinden. Woher wußte man das? J., Tochter eines Braunschweiger Regierungsrates, Jahrgang 1915, also etwa 28 Jahre, mit arischem Ehemann, Abitur, Studium der Kunstgeschichte, galt in der niedersächsischen Kleinstadt G. als unzertrennlich von der männlichen Versuchsperson, einem gewissen P., Jahrgang 1900, ohne Beruf. Wegen P. gab die J. den rettenden Ehemann auf. Sie folgte ihrem Liebhaber nach Prag, später nach Paris. 1938 gelang es, den P. auf Reichsgebiet zu verhaften. Einige Tage später erschien auf der Suche nach P. die J. auf Reichsgebiet und wurde ebenfalls verhaftet. Im Gefängnis und später im Lager versuchten die beiden mehrfach, zueinanderzukommen. Insofern unsere Enttäuschung: jetzt durften sie endlich, und jetzt wollten sie nicht." (771)
Wie bereits im Titel der Geschichte angedeutet, läßt Kluge in der entmenschlichenden Realität des Konzentrationslagers zwei Erfahrungsdimensionen aufeinandertreffen, die keinerlei Zusammenhang bilden können. Die private Liebesbeziehung der Opfer soll - im pervertierten Liebesverständnis der KZ-Funktionäre - unter den instrumentellen Bedingungen einer Versuchsanordnung fortgesetzt werden. Indem der Sprecher den Inhalt der Aktennotiz wiedergibt, wird er zum Erzähler der einzigen Lebensläufe, die dieser Text enthält. Was bei der ersten Lektüre als skandalös empfunden werden mag, dass hier der Täter das letzte und einzige Wort über die Opfer haben darf, verleiht dem Text aber bei genauerem Hinsehen erst seine Authentizität, denn da die Geschichte mit der Ermordung der Gefangenen endet, können wir nicht mehr über sie wissen, als uns die einzigen Überlebenden, die Täter, über sie mitteilen. Kluge konfrontiert uns hier mit Lebensläufen unter den Bedingungen ihrer Auslöschung; was von ihnen bleibt, ist die Spur eines Aktenvermerks. Darin liegt der trostlose Realismus der Erzählung: "Es wird nichts Subjektives an den Opfern fingiert, keine Einfühlung oder Innenschau, kein Wort zwischen den beiden wird berichtet. Sie bleiben uns unerreichbar. [...] sie werden uns nicht nahegebracht, sondern ferngerückt. Der Weg zu ihnen führt [...] nur über die Täter. Es ist ein Berührungsverbot aus Trauer und Entsetzen." Das dialektische Moment, das sich hier offenbart, ist charakteristisch für Kluges Erzählweise: Auf der einen Seite wird deutlich, dass die Reduzierung der Versuchsopfer auf bloße statistische Größen mit dem Akteneintrag bereits stattgefunden hatte. Die Verkürzung der Namen auf die Initialen antizipiert bereits die Auslöschung jeglicher Identität durch das Einbrennen der Nummer und die schließliche Tötung der Gefangenen. Nur die Daten sind erfaßt worden, die dem Verwertungsinteresse des Systems zuarbeiten, indem sie die Auswahl der Gefangenen als Versuchspersonen begründen. Umgekehrt verweisen die Initialen J. und P. auf die Zeit vor ihrer Verhaftung und "verleihen ihnen eine vergangene Geschichte, in der die Initialen Namen waren, und eine Individualität, die ihnen durch die Aura der Entmenschlichung genommen wurde." Sie ist im Lager abwesend, aber als abwesende dem Leser doch präsent. Gerade das Verschweigen der Opfer in der Sprache der Täter, ihr Versuch, ganze Lebensgeschichten aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen, fordert eine Lektüre gegen den Strich heraus. Dies gilt auch für die grotesk wirkenden Redefiguren, die auf seiten der Opfer eine selbstbestimmte Situation fingieren, dabei aber deutlich machen, in welchem Maße die NS-Sprache Rationalisierungsangebote für die Täter bereithielt. Etwa wenn von der "hochzeitlich ausgestalteten Zelle" (770) und der Möglichkeit der "Freigeisterei" (771) die Rede ist, oder wenn das Scheitern des Experiments einer freien Willensentscheidung der Gefangenen zugerechnet wird. Diese verfremdenden Eingriffe Kluges entstellen den Täterjargon zur Kenntlichkeit, denn sie liegen auf derselben Sprachebene wie das in eben diesem Jargon geläufige Wort "Versuchsperson" - "ein Wort aus dem verdinglichten Bewußtsein" , das euphemistisch darüber betrügt, dass im Rahmen der Versuchsanordnung die personale Integrität der Gefangenen längst zerschlagen ist, "weil die beteiligten Individuen durch das Realitätsprinzip der Gewalt bereits psychisch vernichtet sind." Daran läßt die Beschreibung der Entwürdigung und Entpersönlichung der Opfer nicht den mindesten Zweifel. Vom Wegnehmen der Kleider, dem Stimulierungsversuch durch Musik bis zum Anspritzen "aus Gartenschläuchen", um ein "Wärmebedürfnis" zu erzeugen, und weiter reichen die Maßnahmen, die die gewünschte Reaktion herbeiführen sollen: "Wir preßten ihre Leiber aneinander, hielten sie unter langsamer Erwärmung in Hautnähe aneinander, bestrichen sie mit Alkohol und gaben den Personen Alkohol, Rotwein mit Ei, auch Fleisch zu essen und Schampus zu trinken, wir korrigierten die Beleuchtung, nichts davon führte jedoch zur Erregung." (771f.) Dass sich Emotionen ebensowenig unterdrücken wie willkürlich herbeizwingen lassen, zeigt Kluge nun ausgerechnet an den Tätern: "Wurden wir selbst erregt? Jedenfalls eher als die beiden im Raum; wenigstens sah es so aus. Andererseits wäre uns das verboten gewesen. Infolgedessen glaube ich nicht, dass wir erregt waren." (772) Die Beobachtung der eigenen Erregung widerspricht dem ideologischen Selbstverständnis der KZ-Wächter, denn ihr nachzugeben, wäre "Rassenschande gewesen" (772). Der Sprecher scheint angesichts dieser Möglichkeit zu erschrecken und korrigiert rasch seine Erinnerung, indem er sich auf das Verbot beruft: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Mit der Zeichnung dieses zwanghaft-widersinnigen Verhaltens stellt Kluge den Ort der Vernichtung, ohne den Ernst der Situation zu mindern, in ein unerwartet komisches Licht: "Mitten im Zentrum des Terrors werden wir der lächerlichen, nichtigen Seite des Faschismus ansichtig."
Man mag sich keinen Leser vorstellen, der es fertigbringt, sich in dieser vom Text zugewiesenen Rolle während der Lektüre einzurichten, ohne zu rebellieren. Und doch zielen die von Kluge angewandten Erzähltechniken darauf, dass der Leser sich zunächst auf das "Denk- und Wertesystem" des Sprechers einläßt, es sich zu eigen macht: "Denn hat dieser Leser einmal die im ersten Satz formulierte Voraussetzung des Experiments mit Menschen zur Kenntnis genommen, so basieren schon die dann folgenden Bemühungen des Sprechers, die Ursachen des Mißlingens zu klären, auf einer Rationalität und auf Verhaltensannahmen, die der Leser mit ihm teilen kann. Warum funktioniert etwas nicht?" Der Text stellt also mit dem Leser seinerseits einen Versuch an, allerdings in aufklärerischer Absicht, indem er ihn - im Medium der Täterperspektive - mit sich selbst konfrontiert, so dass er seinen eigenen "Antirealismus" überprüfen, aber auch in die eigenen Abgründe blicken kann: Inwieweit lassen wir uns auf die Frageperspektive des Sprechers ein, und wann beginnen wir, diese Perspektive selbst in Frage zu stellen? In welchem Maße sind wir bereit, sinnlose und unmenschliche Bedingungen widerspruchslos zu akzeptieren? Die Probe darauf macht die offene Frage am Schluß des Textes: "Soll das besagen, dass an einem bestimmten Punkt des Unglücks Liebe nicht mehr zu bewerkstelligen ist?" (772) Verfangen wir uns in der affirmativen, fatalistischen Logik der Sprechweise des Erzählers, so stimmen wir dieser Frage vermutlich spontan zu - und sind schon in die Falle gegangen, indem wir nun unsererseits unterstellen, dass Liebe unter anderen, besseren Umständen zu "bewerkstelligen" sei. Weil Liebe eben willkürlich überhaupt nicht herbeizuführen ist, weil sie sich jeder Intentionalität entzieht, und weil sie schon gar nicht identisch ist mit einem bloßen Sexualakt, muß diese Frage des fiktiven Erzählers unbeantwortet bleiben. Sie reflektiert zu beantworten hieße sie zurückzuweisen.
In der Camouflage der Täterperspektive beschreibt Kluge jene Bedingungen, die unserem Verständnis von Liebe den Boden entziehen. Ebensowenig wie sich der Begriff der Liebe mit dem des Versuchs kombinieren läßt, ohne dass er seine Bedeutung verlöre, hat er in der Wirklichkeit des Konzentrationslagers einen Ort, denn hier werden die Lebens- und Liebesgeschichten gewaltsam abgebrochen. Liebe und Gewalt aber verhalten sich zueinander exterritorial. In Kluges Text hat das Wort Liebe eine Sensibilisierungsfunktion, indem es auf das verweist, was in dem "Versuch" und seiner sprachlichen Rekapitulation verdrängt wird: Liebesfähigkeit. Assoziativ verknüpft es sich mit den Wünschen des Lesers, die als Protestgefühle dem "organisatorischen Aufbau" des beschriebenen Unglücks widersprechen. Dies gelingt Kluge mit zwei Versen, die er kursiv in den Text einmontiert, so dass dessen Ordnungsschema plötzlich von einem lyrischen Ton unterbrochen wird: "Will ich liebend Dir gehören, kommst Du zu mir heute Nacht?" (772) Im Kontext der entfremdeten Sprache des Erzählers werden diese ortlosen, an alte Schlager erinnernden Verse - es handelt sich um fiktive Zitate - zu einer utopischen Chiffre, die auf einen Zustand verweist, in dem Liebe allererst möglich wäre.
Radikaler noch als in seinen anderen Prosaarbeiten und seinen Filmen konfrontiert uns Kluge in diesem Text mit dem Schrecken, dem rücksichtslosen "Real-Roman" gesellschaftlicher Verhältnisse - und mit der unbequemen Wahrheit, dass dieser nicht allein in der historischen Tatsache der Judenvernichtung zu verorten ist, sondern darüber hinaus im Mechanismus des Vergessens und Verdrängens fortwirkt. Kluge hat eine Darstellungsform gefunden, die uns nicht gleichgültig lassen kann, weil sie uns zu Zeugen des Geschehenen macht.

Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt am Main 2000, S. 675.
Leo Finndegen, "Kommentar zu: Alexander Kluge, Ein Liebesversuch", in: Freibeuter 1 (1979), S. 88-93, hier S. 90.
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1970, S. 354.
Vgl. Ulrike Bosse, Alexander Kluge - Formen literarischer Darstellung von Geschichte, Frankfurt am Main 1989, S 43.
Zit. nach Finndegen (Anm. 2), S. 92.
Vgl. Bosse (Anm. 4), S. 42.
Zit. nach Bosse (Anm. 4), S. 43.
Die Theorie des Antirealismus entwickelt Kluge in dem Aufsatz "Die schärfste Ideologie: dass die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft", in: Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hrsg. von Christian Schulte, Berlin 1999, S. 127-134; vgl. dazu auch Kluges Rede "Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle", in: Kluge, Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde. Zur Grammatik der Zeit, Berlin 1987, S. 7-18.
Finndegen (Anm. 2), S. 90.
Rainer Stollmann, Alexander Kluge zur Einführung, Hamburg 1998, S. 41.
Ernestine Schlant, Die Spache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust, München 2001, S. 77-92, hier S. 85.
Adorno, "Erziehung nach Auschwitz", in: Th. W. A., Kulturkritik und Gesellschaft, Bd. II, Frankfurt am Main 1997, S. 674-690, hier S. 686.
Ulrich Schmidt, Zwischen Aufbruch und Wende. Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre, Tübingen 1993, S. 112.
Stollmann (Anm. 10), S. 37.
Jürgen Nieraad, "Shoah-Literatur: Weder Fiktion noch Dokument - Alexander Kluges Liebesversuch und Heimrad Bäckers nachschrift", in: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, hrsg. von Stephan Braese, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 137-148, hier S. 142.
Kluge (Anm. 1), Bd. I, S. 514.
Kluge, "Die schärfste Ideologie" (Anm. 8), S. 134

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