Wie ein altes Ehepaar

Von Sascha Lehnartz | Quelle Die Welt: Montag 25.10.2010 | | Presse

Der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge beleuchtet in Paris das Verhältnis von Marianne und Germania

Nachdem er 1958 sein zweites juristisches Staatsexamen abgelegt hatte, war Alexander Kluge mit dem festen Vorsatz nach Paris gegangen, "ein neues Leben" anzufangen. "Ich hatte ein Französischbuch in der Hand, mich in einem kleinen Hotel billigst einquartiert und habe wieder angefangen zu schreiben." Sieben Wochen lang blieb er in der französischen Hauptstadt: "De Gaulle war gerade wieder an die Macht gekommen, und die Generäle und Obristen in Algerien meuterten", erzählt Kluge in der Bar des Pariser "Hotel Raphael". Die schöne Idee vom neuen Leben zerschlug sich allerdings rasch, weil der schriftstellerisch ambitionierte Jungjurist in Frankreich "beruflich nichts werden" konnte. Er kehrte zurück nach Deutschland. "Es war, als ob man auf den Mond fährt und von dort sein Land neu sieht", sagt er heute über sein selbst gewähltes Kurzzeitexil vor 52 Jahren.
In gewisser Weise schloss sich daher jetzt für Kluge ein Kreis. Das Pariser Goethe-Institut veranstaltete gemeinsam mit dem Centre Pompidou ein feines Alexander-Kluge-Festival. Vier Tage lang gab es Filmvorführungen und Lesungen mit dem Künstler. Kluge eröffnete das Programm im Goethe-Institut mit einem filmischen Extrakt aus den Gesprächen, die er Anfang der Neunziger mit seinem Freund Heiner Müller führte. Aus 33 Stunden Aufzeichnungen schnitt Kluge 73 Minuten, in denen es in kühnen gedanklichen Sprüngen um die Aktualität der Antike geht. "Die Auswahl aus einer derartigen Materialmenge sei reine "Willkür", beschreibt Kluge die Methode. Zu Ende ist eine Geschichte dann, wenn der Autor das Ende setzt.
Den zweiten Teil des Abends widmete Kluge dem Anlass gemäß dem deutsch-französischen Verhältnis von "Marianne" und "Germania." Ein eigens dafür montierter Film beleuchtete eine Relation, die über Jahrhunderte von tödlicher Rivalität geprägt war und sich lange, durch eine spezielle Dynamik ausgezeichnet habe: "Der Sieger wurde dumm. Der Verlierer antwortete mit einer Bildungsreform." Das Werk galoppiert mit Hilfe von Peter Sloterdijk, Helge Schneider (als Cousin von Asterix) und Jean-Luc Godard durch tausend Jahre deutsch-französische Geschichte. Heute, sagt Kluge, eine These des Philosophen Sloterdijk aufnehmend, sei diese Rivalität in einer Art "informierter Indifferenz" aufgehoben. Wie bei einem alten Ehepaar, das zwar "noch die Toilette miteinander teilt, aber ansonsten nicht mehr viel. Man "ignoriert sich friedlich". Angesichts der Massengräber, die das Verhältnis zuvor produziert habe, sei dieser Zustand erkennbar ein Fortschritt.
Kluge kontrastierte seine filmischen Betrachtungen mit einer Reihe sehr persönlicher Momente. Er las aus seinem bei Suhrkamp erschienenen Erzählband "Das Labyrinth der zärtlichen Kraft", in dem 166 Liebesgeschichten versammelt sind - unter anderem jene, die von der Hochzeitsreise seiner Eltern nach Paris erzählt. Das junge Paar, das sich erst wenige Wochen kannte, reiste 1928 im Nachtzug von Berlin nach Paris. "Ein Heiratsvermittler hätte die beiden nicht zusammen gebracht", sagt Kluge. Zu verschieden seien sie gewesen. Nach wenigen Jahren ließen sie sich scheiden. Die Familie wurde geteilt. Aus seiner Heimatstadt Halberstadt zog Kluge gleich nach dem Krieg mit seiner Mutter nach Berlin. Seine Schwester blieb beim Vater. Auf der besagten Hochzeitsreise war das junge Paar noch gänzlich unvertraut, "zwei Handelnde der Liebe, einander, Engel, Retter - aber auch Kriegführende" und insofern dem deutsch-französischen Paar nicht unähnlich.
Es gibt Momente, da nutzt Kluge die deutsch-französische Geschichte als Hintergrund einer - oder mehrerer - eigener Geschichten. Die Begegnung von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in der Kathedrale von Reims 1962 - Urszene der deutsch-französischen Aussöhnung, habe ihn "tief bewegt", erzählt er. Zwei alte Männer, "in deren Gesichtszüge sich die Geschichte eingegraben hatte, standen da als Repräsentanten des katholischen Europas und lauschten einem Te Deum". Für Alexander Kluge, der 1949 nach der Lektüre von André Gides Erzählung "Die Pastoralsymphonie" beschlossen hatte, Schriftsteller zu werden, bleibt die Begegnung in Reims bis heute ein ergreifender Moment. Sein Vater habe noch jahrzehntelang seine Erlebnisse der Marne-Schlacht im Ersten Weltkrieg schreibend aufgearbeitet. Insofern ist das Werk, das sich um Marianne und Germania dreht, auch eine Hommage an den Vater.
Für ihn selbst, so Kluge, wirke sich die Auseinadersetzung mit Frankreich heutzutage vor allem gedankenordnend aus: "Franzosen sind Gartenbauer des Geistes. Sie denken anders. Ich folge ihnen zwar nicht, denn ich würde keine Hecken stutzen. Bei mir wird das eher ein englischer Garten - oder Pückler. Aber das Chaos in meinem Kopf fühlt sich gut an, wenn es einmal durchs Französische gegangen ist."

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