Ich liebe das Lakonische

Quelle DER SPIEGEL, 45/2000 | | Presse

Nach gut zwanzigjährigem Schweigen als Erzähler legt Alexander Kluge jetzt ein kolossales Prosawerk vor: Die zweibändige "Chronik der Gefühle" ist ein epischer Kraftakt - und der so kühne wie fragwürdige Versuch, unsere Gegenwart in der Geschichte zu spiegeln.

Unter den bekannten deutschen Autoren sei Alexander Kluge "der Unbekannteste", schrieb vor knapp 23 Jahren Hans Magnus Enzensberger. Daran hat sich bis heute wenig geändert - kein Wunder: Nach dem Prosawerk "Neue Geschichten. Hefte 1-18", das der Lyriker und Essayist Enzensberger damals rezensierte (SPIEGEL 1/1978), gab es jahrzehntelang keine größeren poetischen Veröffentlichungen aus Kluges Feder. Wenig sprach dafür, daß er sich je als Schriftsteller zurückmelden würde: In der Zwischenzeit hatte der promovierte Jurist die Welt des Fernsehens erobert, hatte als Chef der TV-Produktionsfirma DCTP mit unabhängigen Programmen im Privatfernsehen - darunter anspruchsvollen Interviews - das Massenmedium unterwandert.

Doch nun ist der Literat Kluge, 68, urplötzlich wieder da und gleich mit einem starken Auftritt: In zwei Bänden von insgesamt mehr als 2000 Seiten, unter dem Titel "Chronik der Gefühle" in einer Kassette zusammengefasst, legt er gesammelte Prosaschriften vor. Und er ist fleißig gewesen: Weit mehr als die Hälfte der Textmasse ist in den vergangenen zehn Jahren entstanden, angeregt vor allem durch die Wende, "als das russische Riesenreich zusammenbrach", wie Kluge es im SPIEGEL-Gespräch formuliert.

Der in München lebende Tausendsassa war immer schon für Überraschungen gut. Ende der fünfziger Jahre, kaum hatte er sich als Anwalt etabliert, war er vom Film fasziniert: Sein philosophischer Lehrmeister Theodor W. Adorno vermittelte den jungen Mann, angeblich um ihn von Schriftstellerträumen zu befreien, zum Kino-Altmeister Fritz Lang, bei dem Kluge eine Zeitlang assistierte.

Fortan gab es zwei künstlerische Verlockungen: Literatur und Film. Kluges erster Prosaband "Lebensläufe" erschien 1962, sein Spielfilmdebüt "Abschied von gestern" wurde im September 1966 bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigt. Und so ging es munter parallel weiter: Im Kino trat Kluge mit Produktionen wie "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" (1967), "Die Patriotin" (1979) oder "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" (1985) an, daneben publizierte er die Bücher "Schlachtbeschreibung" (1964) und "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang" (1973).

Leicht konsumierbar waren weder Kluges Filme noch seine kühlen, chronistenhaften Prosatexte. Doch seit jeher konnte sich der Autor über treue Anhänger freuen: Er wurde als "Chronist des Jahrhunderts" und "Wächter der Differenz" gefeiert, ja als der letzte wahrhaft Moderne - und seine "Chronik der Gefühle" wurde soeben von den Kritikerjury der SWF-Bestenliste auf den ersten Platz gehoben.

Besonders getreue Kluge-Leser können sich nun an einen Vergleich zwischen alten und neuen Textfassungen machen: Der Autor, der sein Werk stets als große Baustelle verstanden hat, ließ es sich nicht nehmen, seine frühen Werke, zum Teil überarbeitet, neben die in den neunziger Jahren entstandene Prosa zu stellen. Ein Gesamtkunstwerk: jede Menge Geschichten - und viel Begriffsarbeit.

Zurück