Vertrauenswürdige Irrtümer

Von Claus Philipp | Quelle kolik 13 / 2000, Wiener Literatur Zeitung | | Interviews

Ein Gespräch mit Alexander Kluge

Philipp: In Ihrem erzählerischen Gesamtwerk Chronik der Gefühle spielen Katastrophen als Testfälle für menschlichen Eigensinn und Relationen zu menschlicher Lebenszeit eine große Rolle. Was fällt ihnen ein, wenn Sie in den Medien mit Desastern wie der brennenden Concorde, der versenkten Kursk oder dem Inferno am Kitzsteinhorn konfrontiert werden?
Kluge: Eine Verwandtschaft mit der Titanic, die ja auch sozusagen ein Zeichen setzte - eine Metapher. Es ist ja nicht so, dass es nicht auch viele andere Schiffsuntergänge gegeben hätte in der Geschichte der Passagierfahrt; das Mittelmeer zum Beispiel ist voll von Schiffsuntergängen, es ist das am häufigsten mit Unfällen beglückte Meer. Gleichzeitig wird darüber kaum gesprochen.
Philipp: Weil die Ausmaße der Katastrophen nicht groß genug sind?
Kluge: Unter Umständen auch groß, aber sie sind nicht dramatisch, sie treffen nicht auf eine vorbereitete Medienstruktur wie der Untergang der Titanic, und nicht auf eine vorbereitete Erwartung. Irgendetwas muss doch schief gehen, wenn die Verhältnisse eine bestimmte Geschwindigkeit erreichen. Das hat schon
der einzelne Mensch im Gefühl, wenn er erfolgreich ist und die Tage schnell werden. Er glaubt: Jetzt passiert mir was. Manche Leute sterben daran, kriegen einen Herzinfarkt aus diesem Grund.
Philipp: Einfach weil sie das Gefühl haben, die Kurve wird zu steil...
Kluge: Es geht zu schnell. "Ich bin nicht mehr auf der Höhe der Zeit, mit so viel Macht, wie ich sie plötzlich habe, so viel Omnipotenz, kann man gar nicht umgehen. Das ist, glaube ich, ein allgemeines Gefühl, und an das erinnern
mich auch solche plötzlichen Unfallwarnungen, als seien sie das Kleingedruckte zu dem Feuer, das Nebukadnezar als Schrift an der Wand liest.
Philipp: Aber gleichzeitig hatten zuletzt all diese Zerstörungen - der Kursk etwa oder des Moskauer Fernsehturms oder eben im Tunnel auf dem Kitzsteinhorn - eines gemein: Es gab keine Bilder aus dem Zentrum des Geschehens. Es setzte zwar ein medialer Bildersturm ein - wie damals in Tschernobyl -, der eigentliche
Schauplatz selbst aber war mit Kameras nicht zu erreichen. Was wirklich passiert ist, darüber kann man vorerst nur spekulieren.
Kluge: Das erinnert an die "nachrichtenlosen Konten" in der Schweiz: Die nachrichtenlosen, bilderlosen Tatsachen sind die bewegendsten. Sie schaffen ein Vakuum in der Wahrnehmung, egal, wie trivial sie berichtet werden. Daher wird über sie auch nach 20, 30 Jahren noch erzählt, weil man sie nicht fassen
kann. Es ist im Grunde auch eine Beerdigung nicht wirklich möglich. Der Landeshauptmann von Salzburg hat in einer sehr gekonnten Weise, von der Putin lernen müsste, einen Abschied, eine Emotion sozusagen staatstragend dargestellt. Auch unser Bundeskanzler Schröder, in der Art, wie er im einfachen Anzug in Kaprun erscheint, hat einen Eindruck hinterlassen. Das alles hat aber eigentlich mit dem Ereignis nichts zu tun.
Philipp: Und wie verhält es sich bei der Geschichte mit dem Kind, dem kleinen Joseph in Sebnitz? Da sagte Schröder: Ich empfange diese Stadträtin, die Mutter dieses ertränkten oder ertrunkenen Jungen, sie soll zumindest das Recht haben, über ihren Fall zu reden.
Kluge: Das ist ja nun eine angemessene Feststellung. Selbst wenn diese Frau irrt, dürfte sie das. Umgekehrt werden hier für die Öffentlichkeit gleichzeitig zwei einander widersprechende Kriminalromane ausgeweidet. Das heißt, die
Presse arbeitet an zwei geschenkten Kadavern von Nachrichten. Ich denke, im Gegensatz zu manchen anderen Katastrophen wird diese Geschichte nicht ewig weitererzählt werden, weil es Ambivalenzen auslöst, wenn zwei so verschiedene Variationen über ein Ereignis erzählt werden. Die Unschlüssigkeit darüber hebt sozusagen selbst die Unheimlichkeit des übrig gebliebenen Wassers auf. Oder: Diese Schwimmmeisterin, die den Jungen nicht retten konnte. Offenkundig waren Fehlleistungen am Werke, sind Fahrlässigkeiten zu vermuten. Das alles stellt sich vor das Ereignis.
Philipp: Die Fehlleistungen sind zu profan?
Kluge: Nein, überhaupt nicht profan. Aber es ist ein Gefühlssturm, der einsetzt. Da sind einerseits die Augen dieses Kindes, das ja oft genug abgebildet war, und man fragt sich: Was mag dieses Kind gewesen sein, was ist das für ein Lebewesen, wie ist es überhaupt ertrunken? Das wird ja nicht berichtet. Waren Rettungsmaßnahmen unterwegs? Auch das wird nicht erzählt, sondern im Nachhinein wird quasi eine dissonante Aktenlage berichtet: Die einen erzählen
dies, die anderen erzählen das, beides scheint irgendwie glaubwürdig zu sein, beides kann man sich vorstellen - und so entsteht, wie ich meine, eine kognitive Dissonanz, die die Erinnerung löscht.
Philipp: Hingegen die Geschichte dieses Mannes in der brennenden Kapruner Bergbahn, der für seine Tochter das Fenster einschlägt und im Gegensatz zu den anderen sagt, wir laufen dem Feuer entgegen, wir laufen vor dem Rauchgas davon. Wäre der nicht ein ideales Gegenüber für Ihre Interviewsendungen (10 vor 11, News and Stories) im deutschen Kabelfernsehen?
Kluge: Sofort! Es hat mich gewundert, dass er nicht ausführlicher befragt wurde. Das wäre ein klassischer Partner, ein Beleg dafür, dass man eigentlich mitten im Unglück irgendetwas haben will, das rettet, jemanden, der erfindungsreich ist. Man möchte selbst im untergegangenen Dampfer noch Ingenieur-Intelligenz entdecken, die nicht an die richtigen Stellen kam, und der Kapitän hat davon nie erfahren. So etwas möchte man wissen und als Möglichkeit besprechen, aber wenn etwas vollkommen verloren ist... Den Joseph erweckt niemand mehr zum Leben, und der Gerechtigkeit ist auch nicht mehr Genüge zu tun, weil die Ermittlungsvorgänge alle verdorben wurden. Und jetzt fragt man sich: Wo soll ich eigentlich Stellung beziehen? Ein Mensch will Stellung beziehen.Diese Eigenwilligkeit will der Mensch haben.
Philipp: Das heißt, es muss sehr viel offen sein? Erst aus Möglichkeiten und Möglichkeitsformen schaffen sich die Menschen eigene, dauerhaftere Bezugspunkte zum Verhängnis?
Kluge: Ja, zum Beispiel: Beinahe wäre es nicht passiert. Beinahe wäre die Bahn noch vor dem Tunneleingang stehen geblieben. Es wäre ein furchtbarer Brand
gewesen, aber die Feuerwehr hätte die Skifahrer theoretisch noch erreichen
können. Da hört die Phantasieproduktion merkwürdigerweise nicht auf, weil man jetzt an Sprinkleranlagen denkt. Diese Anlagen gehen zum falschen Zeitpunkt los. Die Vorstellungskraft entwickelt sozusagen Ecken und Kanten und Umwege, sogar komische Umwege: Man überlegt sich, wie man so etwas verfilmen würde als Quatsch.
Philipp: Als Quatsch?
Kluge: Stellen Sie sich einen Hollywood-Film vor, so ein B-Movie, wo die Macher noch einen Tunnel übrig haben, aus einer früheren Produktion, und sie haben den Auftrag, das Unglück ernst und bitter zu verfilmen, aber es gelingt ihnen nicht. Die Technik funktioniert nicht, und jetzt brauchen Sie sich nur vorzustellen, die Marx-Brothers versuchen, einen Unfall zu produzieren, und die Sprinkler-Anlage, die haben sie übrigens aus einem ganz anderen Film noch übrig, geht los, und jetzt lassen sie es überall regnen. Nass sitzen sie da, aber in Sicherheit. Das wäre für mich als Autor eine befriedigende Möglichkeits-Konstellation, auch wenn man dauernd das Grauen noch im Hintergrund spürt.
Philipp: Jetzt könnte man ja Ereignisse wie jenes in Kaprun oder den Bergwerkseinsturz in Lassing in die Nähe dessen stellen, was Sie in der Chronik der Gefühle als Verfallserscheinungen der Macht nachvollziehen. Auch in den Katastrophen manifestiert sich ja oft so eine Art Auslaugung eines Terrains, eine Orientierungslosigkeit, wo keiner mehr weiß, wie er der Lage beikommen soll...
Kluge: ... und das implodiert, und bei Machtverhältnissen ist das ja eigentlich ein Muss. Im Fall solcher Desaster fällt es einem halt schwer, Befriedigung darüber zu empfinden. Diese Gesellschaft ist ja keine machtvolle Gesellschaft, wie etwa die Medienkonzerne von Kirch und Co...
Philipp: ... bei denen es aber auch einmal zur Implosion kommen wird?
Kluge: Dessen bin ich ganz sicher. (Blättert in der Chronik der Gefühle:) Ich
suche gerade mal eine Geschichte... da, genau: "Kann man ohne Hoffnung irgendetwas finden?" Die findet eigentlich in Österreich statt, aber ich habe sie hier nach Australien verlegt, aus irgendeinem Grund. Da sind Retter tätig, die sind Skilehrer...
Philipp: Es ist die Geschichte eines Mannes, der in einer Lawine begraben ist...
Kluge: So ist es. Und zwar in einer Schlamm-Lawine, das sind die gefährlicheren...
Philipp: Der Leiter der Rettungsaktion muss im Endeffekt verhindern, dass es zu
einem Übermaß an Störungen in der Rettungstruppe kommt - etwa durch zu viele Abwägungen: "Das ist es, was ich tue: ich lasse keine besonderen Gedanken zu."
Kluge: Das ist genau der Kern und meine Fragestellung: wenn solche Systeme in sich keine Rettungschance haben, dann muss es irgendwie, meinetwegen mit dem Charakter der unerschütterlichen Ruhe von Seneca, irgendwo Tugenden
geben, wie man sich verhalten kann. Und die Zufälle sortieren sich dann möglicherweise vor diesem Magneten der Ruhe anders. Das hat etwas Befriedigendes: Auch dass man eine Glückschance in dem Ganzen sieht, das wird ja immer sehr stark empfunden - etwa wenn es bei einem Zugunglück hieß: Drei Leute wurden gerettet, weil sie den Anschluss verpassten. Oder, bei der Titanic: da gab es mehrere Personen, die - zuerst zu ihrem Bedauern - nicht mehr aufgenommen wurden in das Unglücksschiff. Der Mensch stirbt zur Hälfte in einer Wahrscheinlichkeitswelt, in der die Katastrophe gewiss ist... ja, und zugleich leben wir natürlich als Wesen, die glauben, dass sie ein Kokon schützt. Ich war als Kind ziemlich überzeugt, dass es einen Schutzengel gibt, und auch heute würde ich Unglück nicht unmittelbar auf mich beziehen. Ich steige ja zweifellos weiterhin in Flugzeuge ein.
Philipp: Andererseits denken Bürger als Familienmenschen: So etwas könnte mir und meinen Kindern auch passieren. Irgendwann stehe ich vielleicht auch in dieser brennenden Kabine.
Kluge: Ich denke das sehr oft, bin auch sehr vorsichtig. Ich ziehe etwa immer nur Hosen an, in denen ich kein Unglück hatte. Ich bin total abergläubisch in dieser Frage: Wie dem Zufall entkommen? Die Zufälle marschieren getrennt, schlagen vereint zu, und irgendeine Kontrolle darüber gibt es nicht; oft ist es geradezu gefährlich, da noch eine Kontrolle zu installieren, denn gerade dann passiert was.
Philipp: Dieses abergläubische Element hat sich in Ihren Texten, wie mir scheinen will, zunehmend verstärkt. Oftmals stehen den eigenen Lebens- und Handlungsplänen der Protagonisten da Zufallsverschwörungen entgegen.
Kluge: Es wäre Unsinn, die Möglichkeitsformen zu leugnen. Ich bin ein ganz vernünftiger Mensch, wenn ich mit einem Physiker oder als Anwalt rede; da werden Sie von meinem Aberglauben nicht viel merken. Aber poetisch ist er vertrauenswürdig. Und man geht ja nicht mit "wahr" und "unwahr" um in einem literarischen Text, sondern mit: ist das vertrauenswürdig oder nicht? Wenn bei Ovid das Wort "Götter" vorkommt, und die Metamorphosen von Göttern nacherzählt werden, und das ist vertrauenswürdig, dann wäre es geradezu doktrinär, so etwas in einem Text nicht zu verwenden.
Philipp: Auch wenn es eine falsche Aussage ist?
Kluge: Was heißt "falsch"? Eine Sammlung von Irrtümern kann richtig sein. Adorno hat den Plan gehabt, die Odyssee aus zwei Elementen heraus zu erzählen, nur mit Judenwitzen und nur aus Irrtümern bestehend. Dieses Prinzip ist sehr befriedigend, aber welche Irrtümer Sie zulassen, das hängt von Glaubwürdigkeit, von Vertrauenswürdigkeit ab.
Philipp: Es gibt ja in einem ihrer Gespräche mit Heiner Müller den Befund des "rettenden Fehlers". Und Sie schreiben einmal in Chronik der Gefühle bzw. im Vorwort des 1977 erstmals erschienen Textteils Unheimlichkeit der Zeit, es könne schon sein, dass es falsch war, was Sie hier aufgeschrieben haben, aber Sie würden es nachher nicht mehr korrigieren. Wie viel mussten Sie korrigieren, als Sie jetzt für die Chronik Ihre gesamten bisherigen Erzählungen überarbeitet haben?
Kluge: In meiner Textmontage zu Stalingrad etwa - Schlachtbeschreibung - wurden rund 50 Seiten im Mittelteil geändert, manches wurde etwas verstärkt, ist aber nicht Korrektur im Sinne von: Da war etwas falsch. Ich muss dazu sagen, dass ich 1964, im Grunde inspiriert und neugierig gemacht durch Gespräche, denen ich zugehört hatte als Kind, die ich gar nicht verstanden habe - dass ich da Dokumente sammelte und Menschen befragte, die noch da waren. Viele sind ja aus dem Krieg nicht zurückgekommen. Ich habe damals auch aus dem Eindruck der Nähe dieser Jahre ein paar Dinge völlig übersehen, auf die mich später erst Heiner Müller aufmerksam machte. Er hat herausgefunden, dass die Winter in Stalingrad nicht besonders hart sind, nicht vergleichbar mit Moskauer Wintern. Das ist zum Teil subtropisches Wetter, vom Schwarzen Meer geprägt, da wachsen im Sommer durchaus Palmen, und die Schneedecke war im Winter 42/43 im Durchschnitt 30 cm dick, und das ist ja eigentlich keine Schneewüste. Und es waren nie mehr russische Soldaten um den Kessel herum als jene Deutschen, die in dem Kessel hochbewaffnet mit Ingenieurs-Kenntnissen saßen. Das machte es erst recht interessant: Warum funktionierte eine derart hochorganisierte Armee wie die 6. eigentlich nicht auch unter primitiven Bedingungen, wo man Pilze sucht oder Gras oder ein Jägerleben aufnimmt? Warum blieb sie einfach stecken und verzweifelte? Das hat mit der subjektiven Seite, mit einer Implosion der Motive zu tun.
Philipp: Ähnliches beschreiben Sie in der Chronik an anderer Stelle über einen General im 19. Jahrhundert, dem durch einen Kanonenschuss das Bein
zertrümmert wird. Seine Untergebenen stehen am nächtlichen Schlachtfeld wo fassungslos, fast lethargisch um ihn herum, und sie wissen eigentlich
nicht mehr, sollen sie ihm jetzt den Hals durchschneiden, um ihn zu erlösen, oder...
Kluge: Ja, und er ist ein Idol der französischen Gesellschaft, in Paris ein allmächtiger Held...
Philipp: Auch hier: Ein jäher Fall von Motivlosigkeit?
Kluge: Von Verzweiflung. Das ist jetzt genau dasselbe, was mich so bewegt, wenn etwa im Fall Joseph eine Ermittlung vollkommen in die Irre läuft oder kein Tunnelende zu sehen ist. Das bewegt mich sehr. Ich habe das erlebt, als ich
wusste, dass meine Mutter in der Klinik nicht mehr zu retten sein wird. Die Ärzte, man sieht es an den Mienen, man sieht es an den Auskünften, hatten sie aufgegeben. Und da ist die erste Bewegung: Weglaufen. Und erst als man sich nicht zu trennen vermag, kommt die Trauer.
Philipp: Sie meinen, Sie wollten aus der Klinik weggehen und das hinter sich lassen?
Kluge: Ich wäre am liebsten geflüchtet. Das macht man dann nicht, weil man in
so einer Hülle der Erwachsenheit steckt, aber in Wirklichkeit war mein Impuls genau der, deswegen habe ich diese Geschichte über Napoleons tödlich verletzten Reitergeneral geschrieben. Sie handelt nicht wirklich von einem berühmten Offizier Napoleons, sondern von meinen Empfindungen beim Tod meiner Mutter.
Philipp: Das heißt, Sie stülpen sich beim Erzählen oft historische Fakten und Konstellationen gleichsam über und erzählen sie dann wie Kalendergeschichten oder chronikale Meldungen aus dem Fluß der Weltgeschichte?
Kluge: Ja, aber der Subtext ist nicht historisch.
Philipp: Sehr oft greifen Sie auf dialogische Formen zurück: Interviews, die angeblich nie gedruckt worden sind, oder Gespräche, die an den unmöglichsten Orten "aufgezeichnet" werden. Warum?
Kluge: Das weiß ich nicht genau, aber es bleibt dabei wohl etwas in der Schwebe zwischen zwei Personen. Und alles, was ich mache als Autor, sind ja
Balance-Zustände: Balancen ausprobieren und darstellen. So wie in einem
Zirkus, wo jemand auf einem Seil entlang geht. Der kann nicht mit Erfolg rechts runterfallen, und der darf nicht links runterfallen, sondern er muss irgendwie das Gleichgewicht halten. Und diese Art von Äquilibristik ist das artistische Element. Sie benutzen es, wenn Sie Sätze bauen, wenn Sie Literatur schreiben, in meinen Augen. Und dazu müssen Sie jetzt sozusagen eine Spannung erzeugen, und das gelingt mir manchmal in der Ich-Form, oder eben wenn dialogische Gegensätze, Gegenpole da sind.
Philipp: Und oft besteht diese Spannung daraus, dass Gedanken und Gefühle noch nicht endgültig formuliert sind? Es regiert im Prinzip der Tratsch, der "davor" ist, die vage Ahnung?
Kluge: Wenn ich quasi "dokumentarisch" schreibe, vermeide ich, etwas festzuzurren, was im Grunde eine Oszillation ist, im Schwebezustand ist, eine Unruhe enthält. Manches muss ich so lassen, wie es meiner Meinung nach erlebt ist, da ist oft eben nichts Fertiges dran.
Philipp: Das ist ja auch eine Konstante in Ihren jüngsten TV-Interviews, die man gewissermaßen als Hintergrundfolien für die Chronik lesen könnte. Es gab etwa ein unglaubliches Gespräch mit Gorbatschow in dieser VIP-Lounge am Flughafen, wo die Dolmetscher gleichzeitig sprachen, eine der tollsten Sendungen überhaupt im deutschen Fernsehen, und dann diese Sachen mit Gorbatschows Berater Valentin Falin, der darüber erzählte, unter welch denkwürdigen Bedingungen damals die Verhandlungen zwischen Gorbatschow und Bush auf der Völkerfreundschaft verliefen...
Kluge: Ich glaube, ich werde bis zum Ende meines Lebens zwei, drei Momentaufnahmen immer wieder überprüfen, wenn ich jemanden treffe,
der etwas darüber weiß. Die eine ist die Gipfelkonferenz in Malta, umweht von den mittelmeerischen Winterstürmen, als diese beiden großen Potentaten, also der Vater Bush und Gorbatschow, es in der Hand hatten, so etwas wie eine Superstruktur, so eine Art Habsburgerreich, für Osteuropa zu erfinden, ein Vielvölker-Regime mit oberstem Gerichtshof und neutralen Zonen. Eine Wiederbelebung Österreich-Ungarns gewissermaßen als Regierungssystem. Was ja nichts anderes wäre als eine Wiederaufnahme der römischen Verfassung für etwas wildere Völkerstämme. Und das Zweite ist Rejkjavik, was mich immer wieder interessiert, und das Dritte ist der 23.
Dezember 1989, als Mitterand mit Bankexperten und Beamten in Ostberlin einmarschierte und eigentlich die DDR französisch machen wollte. Er wollte
dass sie sogar in die EU eingeht, als Musterstaat von Brüssel, gleichsam als zweites Österreich unter französischer/britischer Protektion... So ein historischer Konjunktiv ist etwas, was mich immer interessiert hat, weil ich eigentlich einen relativen Unglauben habe an historische Notwendigkeiten.
Philipp: Warum?
Kluge: Ich bin als Anwalt sehr oft tätig gewesen in der Nähe von Machtverhältnissen und kann sie analysieren, und ich halte sie für höchst porös und zufallsgebunden.
Philipp: Also schreiben Sie mit Texten und Interviews, in denen etwa Valentin Falin über den nie eingetretenen 3. Weltkrieg erzählt, eine fast pynchoneske Subgeschichte der Welt, über Ereignisse, die in den normalen Geschichts-Kompendien nicht stattfinden. Die geradezu in persönlichen Verschwörungsprogrammen weiterformuliert werden. Interessanterweise greift das dann weniger als Faktenlage, sonst eher als Sagenwelt. Wie erklären Sie das?
Kluge: Sie meinen, was Falin erzählt? Alle Historiker, mit denen ich gesprochen habe, sagen, dass er flunkert. Dabei hat er Akten-Kenntnis, und ein paar Dinge, dass z.B die 6. Armee von Stalingrad aus im Frühjahr 1943 Moskau endgültig umzingeln sollte, das ist offensichtlich wahr, als Plan wahr. Ich frage: Warum ist das so, dass wir so eine fixe Vorstellung von wahrscheinlichen Verläufen in uns tragen, die nur die Summe dessen ist, was durch die objektive Geschichte oder die Medien eingeprägt wird? Warum halten wir so energisch daran fest, während die Phantasie anders kreist, und die Möglichkeit der Rettung - meinetwegen der Rettung der Titanic - bevorzugt? Ich kann mir das nicht erklären. Die veröffentlichte Meinung ist sehr stark bestimmt von Leuten, die Angst haben, die sich im Realismus wie in einem Panzer, einer Ritter-Rüstung einrichten - als abschließender Historie. So wie man noch einen Stein auf den Sarg tut, dass der Tote nicht herauskommt. Das gibt wohl eine gewisse Sicherheit, Abschlüsse, Bilanzen. Also dass man sich vom Zufall nicht so abhängig fühlt und das Unwahrscheinliche ausgrenzt. Obwohl die Summe von Unwahrscheinlichkeiten eigentlich genau so groß ist wie die Summe aller Wahrscheinlichkeiten.
Philipp: Wie haben Sie das geschafft, neben Ihrer TV-Arbeit auch noch diese 2000 Seiten der Chronik zu schreiben bzw. neu zu edieren? Ist das nicht eine irre Beschleunigung der Produktion, der sie sich da aussetzen?
Kluge: Ja, aber nicht konkret.
Philipp: Ich meine: Beschleunigung im Bereich der Wahrnehmung und der Argumentation. Die es ermöglicht, auch die Unwahrscheinlichkeiten und Irrtümer geradezu organisch zulassen zu müssen. Ich habe oft, wenn
ich diese Texte lese, das Gefühl, dass konkret, inhaltlich von den Argumentationsketten gar nicht so viel im Kopf bleibt. Was bleibt, ist eine Art von Sounds, musikalischen Texturen. Ist das ein Ziel von Ihnen oder ergibt es sich fast logisch aus der Beschleunigung der Arbeit?
Kluge: Das hat nichts mit beschleunigter Arbeit zu tun. Wie Sie gesagt haben, das wird im Grunde hergestellt wie Musik. Man hat da eine Idée fixe, also meinetwegen Geschlechtsorgane von Tigern in Großaufnahme, und das wird eine Geschichte, wo ein Fotoreporter und ein Journalist sich auseinandersetzen... (lacht:) vielleicht doch kein so gutes Beispiel...
Philipp: Nehmen wir doch als Beispiel den kurzen Text Ein Fehlkauf...
Kluge: Da kauft ein Geschäftsmann aus Hameln als Gelegenheitsschnäppchen ein Grundstück, das von der Quadratmeteranzahl gut aussieht, aber eigentlich ist es nur ein endlos langer, schmaler Weg... Das erinnerte mich an die sibirische Eisenbahn bzw. an György Ligeti: Der sagte mal, die sibirische Eisenbahn sei eigentlich nichts weiter als ein Eiffelturm in die Länge gestreckt bis Wladiwostock. Ein Eisenbau, ein Stück Westeuropa quer durch Russland, ein seltsames Gebilde. Wenn ich mir nun diesen Weg als "Fehlkauf" vorstelle, ein grenzenlos nutzloses, in die Länge gestrecktes, räumlich aber großzügiges Gebilde, dann reizt das meine Phantasie enorm. Die Marx Brothers hätten es sicher für eine glänzende Idee gehalten, so ein Grundstück zu haben.
Philipp: Wie verhält sich dazu Ihre Arbeit fürs Fernsehen? Ist die auch "literarisch"?
Kluge: Mit dem Fernsehen mache ich etwas ganz anderes als in einem
Buch. In einem Buch äußere ich mich selbst. Da komme ich selbst auch vor zeitweise. Im Fernsehen dagegen begeistere ich mich für die Ideen Anderer. In meinen Magazinen geht es um das Sammeln von Originaltönen. Solche Töne entstehen unter wirklichen Verhältnissen, immer außerhalb des Fernsehens, z. B. in der Wissenschaft, in der Oper, bei arbeitenden Menschen, im Schwatz u.s.f.. I einer Fernsehanstalt werden solche Originaltöne grundsätzlich homogenisiert, TV ist verdichtete Wirklichkeit. Meine Arbeit liegt darin, durch Weglassen, Sabotage oder Dekonstruktion, aber auch durch besondere Gründlichkeit diese bschottung aufzubrechen. Immer aber mit dem Interesse, dass sich ein anderer äußert. Ich selbst bin "Hebamme".
Philipp: Das nennen Sie dann "authentisch".
Kluge: So würde ich das nennen. Und das aufrecht zu erhalten bzw. von jedem Tier ein Exemplar irgendwann mal vorzuführen - das ist das, was ich im Fernsehen tue.
Philipp: Es gibt da auch Sendungen, wo das kippt, wo Kluge 15 Minuten spricht und der andere sagt "ja, ja, ja", und Sie legen Ihre Idee dar. Das ist ja auch ein sehr interessantes Moment immer. Oder die Gespräche mit Peter Berling, wo fiktive Figuren zum Leben erweckt, befragt werden.
Kluge: Vollkommen richtig, da bin ich dann inkonsequent. In 12 von 52 Sendungen im Jahr bricht der Schriftsteller durch. Mit Schlingensief zum Beispiel ist das genauso. Das beginnt zum Beispiel mit einem Grundgedanken wie: "Schlingensief, der alte Wolfgang Wagner kann doch nun wirklich nicht
weiter regieren. Man hat Sie nun also eingeladen, Bayreuth übernehmen", und dann antwortet er, nicht verabredet: "Ja, gestern kriegte ich das Schreiben",
und er erzählt, wie er Bayreuth umbaut, und da kommt er dann zum Schluss darauf, dass er das Völkerschlachtdenkmal, ein schreckliches Denkmal in
Leipzig, gewidmet dem Sieg der Alliierten über Napoleon, in die Umlaufbahn der Erde schießen will, und dass in diesen wunderbaren, halligen Räumen eine Musik erklingt, die jeden Punkt der Welt erreichen kann, richtig schöne schlechte Qualität, die Radio Leipzig nie senden würde.
Philipp: Andererseits gibt es da Gespräche wie jenes mit dem US-Regisseur Richard Linklater, den Sie plötzlich mit der Geschichte seines Großvaters in den Sezessionskriegen konfrontierten, was auch nicht mehr die normale Informationspflicht einer Interview-Sendung erfüllte, sondern eigentlich Linklater fassungslos mit seiner eigenen Geschichte zurückließ.
Kluge: Und gerade da sprach er authentisch, war bei sich selbst. Das war kein
Trick meinerseits, sondern das ist das, was mich interessiert. Das gebe ich Ihnen gerne zu, dass mein Interesse da eine Rolle spielt, aber das ist sozusagen das Interesse eines Souffleurs. Ich interessiere mich an sich für die Vorstellung dieses anderen, dieses Linklater. Das ist natürlich keine Frage von "Information". Und es ist so, dass mein Interesse eher erlahmt, wenn ich vorher über mein Gegenüber furchtbar viel weiß.
Philipp: Sie sind eher froh, wenn Sie wenig wissen?
Kluge: Ja, dann bin ich neugierig.
Wie gehen Sie nun beim Schreiben bzw. später bei der Montage der Texte vor?
Kluge: Das sind zwei ganz verschiedene Arbeitsgänge. Zuerst mache ich Einträge in Hefte, mit Bleistift, und da schreibe ich, bohre mich in Geschichten rein, die aber keinen festen Ort haben. Oft ist das letzte Wort oder der letzte Gedanke einer Geschichte der Anfang einer neuen.
Philipp: Streichen Sie viel?
Kluge: Sehr viel. Aber nicht im einzelnen, sondern ganze Geschichten, die
ich dann noch mal schreibe - nicht, weil man ein Wort besser oder schlechter
machen kann, sondern weil sie nicht stimmig sind. Dann gibt es eine zweite Phase, in der ich einer vertrauten Person aus meinen Heften diktiere. Dabei ändert sich einiges, es fällt viel weg, wird wesentlich kürzer. Das ist eigentlich schon ein bisschen Montage. Diese Vertrauensperson speist den Text in den Computer ein. Und im Computer wird er beweglich. Jetzt finden die Geschichten, pathetisch ausgedrückt, nach ihren eigenen Gravitationen zu einander. Ich habe da zum Beispiel einen großen Haufen, der heißt Das veruntreute Fronttheater, und ich merke selber, dass das alles nicht passt, dass es sich sehr aufwendig verhält. Das sind falsche Montagen. Jetzt lese ich ein Buch, und da lese ich von Adorno den Begriff "verwilderte Selbstbehauptung", der mich anspringt, mir gefällt. Und aufgrund dieser Kapitel-Überschrift reduziert sich der Text. Alles, was nicht zu Adorno und zu Opern passt, fällt aus diesem Kapitel raus. Dieses ganze Buch bestand zuerst eigentlich nur aus neuen Geschichten, und ich fand das unwirklich: Ohne die Materialität der Geschichten, die ich früher geschrieben habe. Früher haben mich Komplexe wie "Luftangriff", "Schlachtbeschreibung" und "Verschrottung durch Arbeit" stark bewegt. Ich kann aber diese selbe Bewegung, z.B. für Stalingrad, jetzt in mir nicht wieder herstellen, das ist schon weggerückt. Nicht mal mehr über einen Luftangriff kann ich mich jetzt so aufregen, wie ich es konnte, als ich es geschrieben habe. Es ist aber ohne solche Texte wie Luftangriff oder Ein Liebesversuch auch das unwirklich, was ich heute schreibe. Auch Lebensläufe nach 1989 sind unwirklich, wenn die von 1945 nicht vorkommen. Und deswegen ist dann hier die Schlachtbeschreibung eingewandert. Und Der lange Marsch des Urvertrauens hat sich gebildet aus einem Rest aus Lebensläufe, der meinem Gefühl nach nicht vertrauenswürdig zu den neuen Lebensläufen passte. Letztlich verdichtete sich der Grundgedanke, dass wir eine Schubkraft in uns haben, dass also, wenn wir 4,2 Milliarden Jahre in unseren Zellen alt sind, in dem Gestein, aus dem wir sozusagen bestehen, nicht eine Zeitvorstellung angebracht ist, eine Chronik, die sagt "2000" ist etwas anderes als "1965", sondern in beiden ist eine Parallelwelt enthalten, und die ist so alt wie die Evolution.
Philipp: Mir geht es halt immer so, wenn ich Texte von Ihnen lese: Man denkt sich, wie geht das überhaupt alles in einen Kopf hinein, oder verhält sich der Autor nicht mehr oder weniger wie ein Patiencen-Spieler, der verschiedene Muster vor sich hat und auch über die einzelnen Fakten bis auf die Schönheit des Musters, die er mit ihnen verbindet, gar nicht so viel Ahnung hat. Z.B. diese immensen Rekurse auf antike Mythologie in ihren Texten, auf die europäische Zeitgeschichte, auf Soziologie, naturwissenschaftliche Beobachtung usw.: Wie würden Sie sich da selber sehen? Als eine Art von Filter, durch den all diese Sachen durchrasseln, oder wie gehen Sie mit diesen Mustern um?
Kluge: Müller ist im Jahr 1987 zu mir angereist, hier in die Wohnung und
kam da in meine Küche, wo wir die Interviews immer aufgenommen haben. Er hatte mir einen Zettel zukommen lassen durch einen Bekannten: Ich solle mich auf Tacitus und "Lakonie" einstellen, das sei irgendwie jetzt sein Thema. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was der Ausdruck "Lakonie" bedeutet. Und dann kam Müller hier an, und in ruhiger Form entwickelt sich so ein Gespräch. Ich weiß nicht, was er antworten wird. Er antwortet auf Fragen oft mit Gegenedanken, die die Frage ignorieren. Nach 3 Stunden Gespräch wunderte ich mich, dass Tacitus gar nicht dran kam. Ich habe danach gefragt und dadurch kamen wir auf die "Kinder Sejans", eine erschütternde Geschichte. Tacitus berichtet darüber, dass der tyrannische Kaiser Tiberius, der auf Capri sitzt, den angeblichen oder wirklichen Staatsverbrecher Sejan, seinen früheren Geheimdienstchef, töten läßt. Auch die Kinder Sejans will Tiberius umbringen. Das ist nach römischem Recht bei einem minderjährigen Mädchen, der 12-jährigen Tochter des Staatsverbrechers verboten. Das Recht gebietet, nur "mannbare" Mädchen dürften hingerichtet werden. Deshalb muss der Henker dieses Kind erst vergewaltigen und so "mannbar" machen, ehe er es vom Felsen stürzt. Brutalität der Macht, Rigidität des Rechts, Kürze der Erzählung. Es war meine erste Begegnung mit Müller, und deshalb erzähle ich sie hier. Tacitus ist für mich seither ein Nachmittag, an dem mir Müller gegenüber sitzt. Er erzählt von Titus Andronicus und diesen beiden Kindern Sejans, die umkamen. Ein blinder, nachrichtenloser Text.
Philipp: Das hat auch wieder etwas mit Sound zu tun, mit Musik.
Kluge: Sie dürfen auch dieser Hirnhälfte nicht misstrauen, es gibt Einigungen unter Menschen aufgrund der Musik, die sehr stark sind. Das ist es eben, was ich vorhin meinte mit Vertrauen... (blättert in der Chronik:) Sehen Sie hier: Das
ist mein Lieblingsbild, da sehen Sie einen Mann, der schon ein halbes Jahr blind einen Lastwagen fährt. Er will nicht arbeitslos sein. Und sein neunjähriger Sohn erklärt ihm, wo es langgeht.
Philipp: Woher haben Sie das Bild?
Kluge: Aus einer italienischen Zeitung.
Philipp: Sie greifen ja in Ihren Bild-Text-Montagen sehr selten auf aktuelle Fernsehbilder zurück.
Kluge: Oder, hier: Da hängt sich ein Mann auf eine ganz unwahrscheinliche Weise aus dem Fenster und fängt wie ein Schutzengel das Kind auf, das aus dem oberen Fenster gefallen ist. Stellen Sie sich dazu mal den Begriff der Rechtzeitigkeit vor. Man würde das doch für unmöglich halten. Solche Bilder sind eine Entsprechung zu den Moritaten. Auch die ganze Welt der Balladen ist so gezeichnet worden, immer wieder. Das ist Anti-Hochkunst, wenig intellektuell, aber sehr glaubwürdig. Ähnlich verhielt es sich mit den Geschichten, die die Kantinenfrauen in Halberstadt, meiner Heimatstadt, nach 14 Uhr erzählten, wenn das Geschirr gewaschen war. Da gab's Kaffee und Kuchen, und dazu eine Geschichte nach der anderen. Und solche Geschichten sind geeignet, um Gefühle abzuklopfen auf ihren Irrtumswert, auf ihren Wert, Gemeinwesen zu gründen, Frieden zu stiften in Familien. Es geht da um mündliche Traditionen, und in denen war Müller versiert wie ich. Das ist eine gemeinsame Herkunft in Ostdeutschland, wo man ungeheuer viel schwätzt.
Philipp: Paradoxerweise wird aber gleichzeitig Ihnen wie auch Müller eine immense Künstlichkeit und Konstruiertheit oft geradezu vorgeworfen.
Kluge: Es ist eben wie auf einem Trapez, Sie haben zwei Gegensätze, und es kommt noch hinzu, dass Sie sich als Autor "bewegen", die sind nicht
so starr wie im Zirkus. Und man darf das Gleichgewicht nicht verlieren. Wenn etwa der Präsident von Frankreich nur 400 Meter von der defekten Concorde entfernt aus dem Bullauge in seinem Präsidentenflugzeug blickt - was tatsächlich geschah! - , und er sieht den Feuerschweif, und kann es eigentlich gar nicht glauben: Das gibt es doch eigentlich als literarische Erfindung nicht, Aber die Epiphanie, dass es doch sein könnte, dass es doch verbunden sein könnte, das will ein Mensch haben, das ist vertrauenswürdig. Es muss aber gleichsam ein Schwebezustand herrschen, eine Unbestimmtheit zwischen wahrscheinlich und unwahrscheinlich, und das ist moderne Literatur in meinen Augen.

Claus Philipp, geboren 1966 in Wels, ist Leiter der Kulturredaktion des STANDARD. Zuletzt erschien bei der edition suhrkamp die von ihm und Matthias Lilienthal herausgegebene Dokumentation "Schlingensiefs Ausländer Raus".

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