"Sie können nicht gleichzeitig dichten und Irrtümer vermeiden!"

Von Thomas Combrink | Quelle Süddeutsche Zeitung Juli 2006 | | Interviews

Interview mit Alexander Kluge über Gottfried Benn

In Ihrer Rede zur Verleihung des Büchner-Preises sagen Sie: „Ich stütze mich darauf, dass bei Georg Büchner das wissenschaftliche und das poetische Interesse in Eins geraten.“ Können Sie auch bei Gottfried Benn eine Verbindung von Poesie und Wissenschaft entdecken?

Ja, die ist bei ihm sicher gegeben, denn Benn verknüpft eine Hitzigkeit der Beobachtung mit einer Kälte des Gemüts und kehrt damit die Rede von dem „warmherzigen Gemüt“ einfach um. „Gemüt? Gemüt habe ich keines.“ - das stammt von ihm, und er würde dagegen behaupten, dass das Beobachten den heißen Atem hätte, die Neugierde, wenn Sie so wollen, das wissenschaftliche Interesse. - Es gibt zu Anfang der ganzen bürgerlichen Entwicklung um 1600 eine Gier nach der Ferne, die sich auf abgelegene Länder, auf die Erfindung der Musik bei Monteverdi, auf das unendlich Kleine bei Leuwenhoek, wenn er durch sein Mikroskop schaut, oder auf die fernen Sterne und Planeten bei Galilei, der die Jupitermonde betrachtet, bezieht. In dieser Gier kommt ein sachliches Moment zum Vorschein, das auch vor dem menschlichen Körper nicht halt macht. Diese Sachlichkeit besagt, dass mein Körper wie ein Gegenstand ist, sich wie ein Instrument anwenden lässt und gerade dadurch alle menschlichen Eigenschaften hat - auch das heiße Blut. Darauf kann ich setzen, während ich auf die Sentimentalität nicht bauen kann - das ist ein Kern von Benn.

Benn hatte großes Interesse am menschlichen Gehirn, und dabei kombinierte er medizinische und geisteswissenschaftliche Perspektiven.

Die Nerven sind ein menschliches Konzentrat wie auch die Füße, die Hände und die Fingerspitzen, aber auch die sind zunächst einmal sachlich. Das was nun im Gemüt, im Solarplexus siedet, was sich dort an romantikgenährter Sentimentalisierung befindet, das hält vor dem Krieg nicht stand und das hält vor der Anatomie nicht stand, sagt Benn, und das ist im Grunde auch gar nicht die wirkliche Eigenschaft des Menschen. Ein Mann kann ganz sentimental ein Kind auf den Arm nehmen, zum Beispiel in einem Konzentrationslager, und anschließend greift er unauffällig zu seiner Pistole und schießt das Kind in den Kopf. Vorher hat er es aber mit einer fast mütterlichen Geste beruhigt. Das könnte eine Beobachtung von Benn sein, und er würde behaupten, dass so der sentimentale Mensch funktioniert. Das reicht aber nicht, meint Benn, denn dieses Verhalten, so unmenschlich „hart“ es ist, hat keine Härte. Es ist unsachlich, dass der Mann das Kind erst beruhigt und dann tötet. Sie können eine Vielzahl von Phänomenen der dreißiger Jahre aber auch des Ersten Weltkriegs mit den Augen von Benn sehr exakt beschreiben.

Häufig geht es Gottfried Benn um Vererbung und um Erbmasse. So schreibt er im „Doppelleben“: „Man sieht das Bild eines nahen Ahnen, und es trägt die Züge des Urjägers, den Schnitt des langschädeligen Jägerindividualisten, einst belebend den Raum südlich des Eises, des flackernden Streifers und Felsbezwingers, des Hochgezüchteten der Megalithkultur...“

Jetzt bemerken Sie eine Differenz zwischen meiner Art zu beschreiben, was wir an Erbe in uns tragen, und der von Benn. Ich würde nicht mit dem „langschädeligen Jägerindividualisten“ beginnen, sondern automatisch weiter zurückgehen und bei den Lebewesen ansetzen, die vor 620 Millionen Jahren aus dem Eis kamen, zu dem Zeitpunkt von „Snowballearth“, als die Erde vollkommen vergletschert war und alle Kontinente sich am Äquator aufreihten, in einer Eiszeit, die weit über die Kälteperiode, die Benn hier zitiert, hinausgeht. Da waren unsere Vorfahren vielleicht nur Mikroben. Als nun dieses Eis taut und der Planet blau wird, da gibt es die erste Globalisierung und eine Glücksmöglichkeit entsteht, die darin beruht, dass das Leben sich jetzt in wenigen Jahren - 90 Millionen Jahre sind geologisch wenig -  über den ganzen Planeten ausdehnt und eine Vielfalt erzeugt, die es später nie wieder geben wird. „Rassisch“ ist dieser Prozess keinesfalls, eher genau das Gegenteil, alles vermischt sich, und darin sind auch die Mitochondrien verwurzelt. Diese Entwicklung tragen wir in unseren Zellen mit uns. Ich würde also nicht aus der Menschheitsgeschichte die Glücksmöglichkeit entwickeln, sondern aus dem, was uns vorangeht.

Aber die Einsicht, dass Naturgeschichte und kulturelle Geschichte miteinander verbunden sind, würden Sie doch mit Benn teilen?

Die Kultur ist ja gesellschaftlich vermittelt und nicht biologisch. Was in dieser Kultur elementar ist, wird in Diskursen entwickelt. So wäre es albern zu behaupten, dass unsere Zellen einer gesellschaftlichen Erziehung gehorchen. „Der stählerne Mensch“ war eine Vorstellung der dreißiger Jahre, eine Absurdität, denn wir bestehen nicht aus Stahl. Wir haben zwar Zellkerne aus Eisen, aber keinerseits sind wir stählerne Lebewesen, sondern Hautwesen.

In dem Gedicht „Kann keine Trauer sein“ heißt ein Vers „Wir tragen in uns Keime aller Götter“. Wie würden Sie ihn interpretieren?

Das ist eine starke Passage. Er spricht zwar von Göttern, aber ich kann auch Animist sein und die Frömmigkeit seitlich von mir haben. „Keime aller Götter“ bedeutet, dass wir zu Göttern werden, dass wir diese in uns tragen - allerdings glaube ich das kaum; dass sie in uns walten, davon bin ich ziemlich überzeugt. Ich zögere aber bei der Annahme, dass künftige Götter in Aussicht stehen, da ich davon ausgehe, dass der Reichtum des Menschengeschlechts hinter uns liegt, und wir von ihm leben. Ein Reichtum von früher, von den Vorfahren, kann heute in Erscheinung treten, aber er wird nicht neu gezeugt. In den „Keimen aller Götter“ steckt eine Grundidee, die es in den zwanziger und dreißiger Jahren gab, dass wir auf eine Jugend und eine ewiges Leben zugehen und wir etwas zeugen, das größer ist als wir, also wie bei Friedrich Nietzsche der „Übermensch“ zum Beispiel. Nietzsche meinte den Übermenschen aber nicht im biologistischen Sinne, kein Menschenpark schwebte ihm hier vor. Bei Benn kann es sein, dass er mal einen Gedanken daran verschwendet hat, obwohl ich ihn für exakt beobachtend halte. Vielleicht irrt er da, weil ihn eine Sehnsucht treibt, bei der er selbst wiederum sentimentalisiert.

Wie würden Sie Benns Kniefall 1933 vor den Nazis beurteilen?

Das trifft mich tief und mindert die Vertrauenswürdigkeit. Er hat aber vorher und nachher auch gelebt und gedichtet. Benn ist ein bürgerlicher Charakter, und vorhin habe ich ihn in die Epoche um 1600 gesetzt, weil das die große Zeit ist, in der ein selbstbewusstes, bürgerliches Subjekt sich entwickelt, das sagt: „Ich will der Eigentümer meines Lebens, meiner Liebesverhältnisse, meiner Abenteuer, meiner Erkenntnisfähigkeit, meines Betriebes, meiner Bilanz und meiner Texte sein.“ Das ist eine starke Umgebung; gleichzeitig sind diese Menschen alle ambivalent. Was Brecht über Galilei schreibt, ist ja wahr: Sie können nicht die Brillanz, die Genauigkeit, die Einsichtsfähigkeit, die Bestimmtheit und Vertrauenswürdigkeit des bürgerlichen Charakters haben wollen und dabei unterschätzen, dass der dauernd schwankt und ständig verführbar ist. Die Anziehungskraft, die so etwas wie „Züchtung“ haben mag, die Idee, man könne die Nationalsozialisten links überholen, was Heideggers Problem war, die Vorstellung man könne sich als Stabsarzt doch eingemeinden in so einen Marsch… Verstehen Sie? Sie können nicht gleichzeitig dichten und Irrtümer vermeiden!

Sie vertrauen also Benn?

Mit den Kategorien der politischen Tugendlehre darf ich einen Mann wie Gottfried Benn nicht beurteilen, dann wäre ich sein Amtsrichter. Das bedeutet aber keinen Relativismus; manche Aussagen nehme ich ihm einfach nicht ab. Anderes glaube ich ihm, aber ich würde Benn nicht insgesamt ablehnen, weil er 1933 grandios irrt. Sonst müsste ja ein Rechthaber, der politisch korrekt am richtigen historischen Ort eine Radioansprache hält, den ich verehre, also Thomas Mann, einen Bonus bekommen. Aber der wird kein besserer Dichter durch das, was er politisch richtig gemacht hat. Und Benn wird kein schlechterer Dichter durch das, was er grotesk an Fehlern begeht - so lange er nicht Menschen mordet. - Einen Schriftsteller, den ich ernst nehme, kann ich nicht nach seiner Biographie beurteilen. Eine ganz andere Person ist es, die im Dichter schreibt, und nicht bloß die Charaktermaske, die ihre Biographie ausfüllt und auch Echtheitsmerkmale haben kann. Authentizität beim Schreiben drückt sich anders aus.

War Benn einfach ein charakterschwacher Dichter?

Vertraue ich mich jemandem an, und das tue ich, wenn ich die Arbeiten von Gottfried Benn lese, dann mache ich das nicht, indem ich ihn gleichzeitig beurteile. Ich stelle mich nicht über ihn. Zwar habe ich selber eine politische Haltung, die ich mir zu jedem Zeitpunkt meines Lebens abfordere, und bei dieser Einstellung hier kann ich manche Haltung von Benn nicht billigen. Dieser Zusammenhang spielt sich aber im Gemeinwesen des Politischen ab; im Gemeinwesen der Dichter ist das anders. Das Gemeinwesen der Dichter hat nicht dieselben Kategorien. Da können Sie charakterlich Defizite haben und sind als Beobachter dennoch authentisch. Sie können politisch irren oder die Wirklichkeit zu bestechen versuchen. Ein politisch korrupter Mensch kann ganz exquisite Texte schreiben. Es ist eine Überschätzung von uns selbst, dass jeder sich zum Richter des andern machen will. Das ändert nichts daran, dass wir politisch unterscheiden müssen. Ich würde Benn nicht als meinen Vertreter in ein Parlament wählen, aber wenn ich entscheiden kann zwischen parlamentarischen Reden und den Bennschen Auskünften über Wirklichkeitsverhältnisse in seinen Gedichten, dann würde ich Benn nehmen. So leben wir doch in mehreren Gemeinwesen gleichzeitig.

Und wenn Sie ihm heute begegnen könnten?

Dann würde ich mich zunächst einmal in ihn vertiefen. Dabei ist nicht die Hauptfrage, die ich an ihn richten kann, ob er wie einige hunderttausend Andere im Jahre 1933 versagt hat. Die Neugier zielt da nicht primär drauf, weil ich mir denken kann, warum er sich damals getäuscht hat. Meines Erachtens, weil er Angst hatte, aber zu einem Dichter zu sagen, er sei eine Memme, so wie man das zu einem Soldaten sagt, der flieht, ist geradezu albern - der darf doch Angst haben! Die Furcht ist ein notwendiges Werkzeug, um solche Texte zu schreiben. Möglicherweise würde ich ihn politisch attackieren, aber ich kann doch den Benn aus dem Jahre 1933 nicht im Jahre 2005 bekämpfen. Ich reiche mit meinem Leben gar nicht in die Realitätsdimensionen hinein, die 1933 bestanden haben, da war ich ein Jahr alt und gar nicht aufgefordert, ihn zu wählen.

Die Frage war auch rein hypothetisch…

Ja, aber diese genaue Perspektivität beherrscht Benn sehr gut. Wir befassen uns hier mit einem Ungefähr, welches wir politische Haltung nennen, und mit dem wir dauernd Dinge beurteilen, die gar nicht einer politischen Entscheidung offen stehen. Wir hantieren häufig mit Gratiskorrektheiten, die für die Zeitgeschichte völlig irrelevant sind. Selbst wenn wir nun in lehrbuchartiger Form festhalten, um es anderen Menschen mitzuteilen, dass wir es missbilligen, dass ein Dichter vom Range Gottfried Benns kapitulatorisch oder anpasserisch im Jahre 1933 sich verhalten hat, damit die folgenden Generationen es sich merken und grundsätzlich vermeiden, dann ist dies eine Gratiskorrektheit. Wer braucht von uns diese Mitteilung? Das kann sich jeder Antifaschist auch selber denken. Wen diese Zeit nicht interessiert, wer gleichgültig oder wer sogar Nationalsozialist ist, den werde ich mit meiner Mitteilung nicht überzeugen können.

Vielleicht ist Benn unter den Schriftstellern kein Einzelfall?

Nehmen Sie ein ganz anderes Beispiel: Ein großer Dichter verführt junge Frauen. Er macht sie unglücklich, sie kriegen Kinder, die abgetrieben werden - bis zur Kindstötung kann das reichen. Der ganze Charakter Goethes tendiert dazu, Gretchen zu verführen und anschließend im Stich zu lassen. Natürlich ist dieses Verhalten charakterlich das Letzte. Ich würde meine Tochter mit ihm ungern verheiraten. Aber Goethe verheimlicht seine Erfahrungen in den Texten ja nicht, sondern stellt seinen Charakter in seiner ganzen Miesigkeit nackt dar. Persönliche Zuneigung ist hier so wichtig wie eine objektive Betrachtungsweise. Wenn einer charakterschwach in Fragen seiner Beziehungen ist, eine Frau schmählich betrogen und andere Personen missbraucht hat, dann lese ich doch trotzdem seine Texte.

Das Interview führte Thomas Combrink.

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