Lange Texte

Von Lydia Dykier und Philippe Roepstorff-Robiano | Quelle Revolver - Zeitschrift für Film | | Interviews

Sonden in Randbereiche der Zeitgeschichte Ein Interview mit Alexander Kluge

P.R.-R.: Herr Kluge, Sie haben auf ihrer Webseite www.dcptv.de zum Thema Tschernobyl einige Videos online gestellt. Was treibt Sie dazu an, dieses Thema erneut zu betrachten?

A.K.: Das ist ja nun kein großes Wunder! Wenn Sie die Erfahrung nehmen von Fukushima, dann ist das ja keine eigene Erfahrung von mir, hier in Mitteleuropa, und ich übersetze mir diese Erfahrung in das, was ich erlebt habe mit meiner Familie, meinen Kindern im April und Mai 1986. Mich hat das sehr berührt damals: wir sind richtig geflüchtet, nach Portugal, weil wir einfach niemandem mehr getraut haben. Das heißt also, aus diesem Menetekel, dieser Schrift an der Wand muss man arbeiten, lebenslänglich. Wir haben das nämlich online gestellt nicht jetzt, sondern vor einem halben Jahr und da wussten wir ja nichts von Fukushima...

L.D.: Das war uns nicht bewusst.

A.K.: Ja. Jetzt haben wir vor einer Stunde sieben Stunden über Japan online gestellt.

P.R.-R.: Sieben Stunden!

A.K.: Sie wissen schon, dass die Filme, die meine Freunde oder ich machen, verschiedene Längen haben. Also sieben Stunden bedeutet nicht an einem Stück etwa. Sondern es besteht in größeren und kleineren Elementen, auch aus sehr kurzen Stücken bis herunter zu einer Minute. Aber dafür ist es so möglich, die ganzen Aspekte der Katastrophe auf dem Hintergrund alles dessen, was in Erscheinung tritt, zu betrachten. Mich hat bei Tschernobyl etwas, was kein Bild werden kann, aber ein Bild ist, frappiert, nämlich: die Halbwertzeit einiger dieser gefährlichen Strahlenpartikel ist dreihunderttausend Jahre; die Regierung, die das Ganze zu organisieren hatte (also erst nicht verhindert hat, dann schlechtes Management gemacht hat und dann nicht helfen konnte), die hat eine Halbwertzeit von zweieinhalb Jahren.

P.R.-R. Was sind für Sie unsichtbare Bilder?

A.K. Ein unsichtbares Bild steht im Kontrapunkt zu dem, was in seinen Auswirkungen natürlich sichtbar ist – also: die Radioaktivität auf der Haut, die können Sie sehen; und wenn Sie Fotos machen oder Dreharbeiten in dem ehemaligen Tschernobylgelände, dann sehen Sie, dass es eine Landschaft außerhalb der Welt ist. Aber das wirkliche und unsichtbare Bild, das ist dieser Gegensatz der Halbwertzeiten.

P.R.-R.: Sie sprachen von der Haut. Wie kann man das Thema: Haut im Medium des Films verarbeiten, das ja gewissermaßen auf die Absenz des abgelichteten Körpers beruht?

A.K.: Auf Französisch heißt das Filmmaterial pelicule oder: Haut. Es zeichnet Licht auf, was auch unsere Haut tut, die dauernd mit Strahlung umgeht. Wenn ich Ihnen da eine Geschichte erzählen darf. Wiederum ein Bild, das man nicht sehen kann: die Wissenschaftler an der Universität Sendai bei Fukushima haben vier Wochen vor dem Tsunami eine Publikation veröffentlicht, in welcher stand, dass jetzt schon tausendeinhundert Jahre vergangen sind seit dem letzten Megabeben und, dass sich dies bald wiederholen wird. Und dann kam es. So etwas entspricht einem Gongschlag der Natur, der tausendjährig tönt.

P.R.-R.: Könnte man das auch mit den Begriffen: Lebenszeit und Weltzeit umschreiben?

A.K.: Das können Sie so sagen. Und es ist für uns ganz wichtig, dass wir gewissermaßen noch einmal in die Fußstapfen von Voltaire treten, der das Erdbeben von Lissabon beobachtete und sagte: wieso darf die Natur die Menschenverfassung derart beleidigen und verletzen? Führet den Krieg gegen die Natur, sagte er. Diese Vorstellung hat einen hohen Grad an Absurdität: Das ist ja nicht nur Reaktion, sondern: Witz plus Reaktion. Das ist ein Till-Eulenspiegel-Geist französischer Art. Die Niederlande aber beispielsweise zeigten, dass es möglich ist durch Gemeingeist und durch Kooperation, Dämme zu bauen. Wenn das Land zu niedrig liegt und die Nordsee zu grausam ist, kann man sich trotzdem gegen sie verteidigen. Das ist die andere Seite von Lissabon. Es gibt also auch Siege im Verhältnis zur Pranke der Natur. Und dies alles wird im achtzehnten Jahrhundert diskutiert. Heutzutage ist es anders, was aber nichts daran ändert, dass in den Menschen Erschütterungen entstehen, und zwar durch Fernempathie. Theodor Fontane behauptet, dass der Stechlinsee in der Mark Brandenburg eine Gänsehaut bekommt auf seiner Oberfläche wenn in Java ein Vulkan explodiert und Menschen vernichtet; und da würde ich behaupten, dass das Erdbeben, das eine Verrückung von ganz Japan um vier Meter verursachte, über die ganze Welt gegangen ist und uns hier auch um ein Paar Millimeter bewegt hat.

P.R.-R. Wie sehen Sie Ihre Arbeit in diesem Prozess als Filmemacher, also in diesem unterirdischen Strom der Veränderung des öffentlichen Gemütszustandes?

A.K.: Es ist so, und da liegt etwas Behauptung drin: Ich bilde mir ein, dass ich etwas beobachten könnte. Bei mir kann ich es auf jeden Fall beobachten, und bei meinen Nächsten auch, bei Mitarbeitern auch und dann kann ich es aber auch bei anderen Menschen beobachten. Insofern bin ich da wie ein Arbeitszeitmesser, der gewissermaßen in den Empfindungen, in dem emotionalen Bereich der Menschen, Messungen vornimmt.

P. R.-R.: Ist das auch der Grund, warum Sie mit so vielen verschiedenen Menschen so viele Interviews machen?

A.K.: Diese Form, Gespräche zu führen, würde ich mit einer Sonde vergleichen. Wenn ich mich ganz auf einen anderen Menschen konzentriere und erreiche, dass der sich auf eine Sache konzentriert, dann ist das so ähnlich, als ob man einen Film macht, nur ist der wirkliche Mensch wie eine Kamera und ich bin wie eine Kamera. Das sind dann die wirklichen Sonden. Zum Film und zum Bild gehören für mich auch Dinge, die gar nicht so leicht festzuhalten sind. Zum Beispiel habe ich in Früchte des Vertrauens mit Christoph Hochhäusler und Christian Petzold folgenden Versuch gemacht: sie haben aus einem Film von Dominik Graf fünf Minuten herausgenommen, die sonst keinem separat aufgefallen wären, in Einzelaufnahmen zerlegt und haben darüber wie zwei Rabbis ihre Beobachtungen ausgetauscht. Jetzt erst entsteht ein Bild. Diese Szene ist so plastisch und so ereignisreich und ist gerade durch diese Kommentierung anders dramatisch, als ein Drama. Ein Drama verdrängt von Moment zu Moment eigentlich die Emotionen und auch die Wahrnehmung. Hier wird Wahrnehmung erst hergestellt. Das finde ich filmisch.

P.R.-R.: Wo Sie über Bilder sprechen: es ist auffällig, dass Sie sehr viel mit dem Schrift-Bild arbeiten. Es ist fast so, als würden Sie die Schrift zu einem Bild machen, das Bild zu einer Schrift.

A.K.: Da treffen Sie aber genau das, was ich möchte! Ich war immer im Stummfilm über die Wechselwirkung von Bildern und Schriften sehr entzückt. In einem Film, wie Doktor Mabuse, konzentriert Fritz Lang die Handlung auf die Schrift und wird jetzt frei um einen Moment, Details, Wahrnehmung frei zu assoziieren. Er befreit das Bild dadurch, dass er die Handlung in einen Schriftband konzentriert. Im Abbildrealismus des Spielfilms begleitet man gewissermaßen schlechte Theaterstücke mit der Kamera.

P.R.-R.: Alfred Hitchcock hat einmal über die meisten Filme seiner Zeit gesagt, sie seien „photographs of people talking to each other.“

A.K.: Das ist genau das Negative am Abbildrealismus. In Wahrheit muss der Film Konzentrate bilden: zur Freiheit und zur Konzentration. Auf der einen Seite können Sie das Bild freilassen. Freilassen heißt: die Kamera hat eigene Gesetze und guckt anders, als ein menschliches Auge. Die Emotion, die das movie ausmacht, hat eigene Gesetze. Das kann alles frei gelassen werden. Auf der anderen Seite können Sie die Handlung auf einem Stück Schrift wie über eine Balkenüberschrift in einer Zeitung verkürzen und ebenfalls dagegen setzen. Sie polarisieren somit die beiden Konzentrate der Rede und des Bildes...

P.R.-R.: Wird dann so etwas, wie Phantasie oder ein Phantasiepotenzial freigesetzt, das es ansonsten nicht geben könnte?

A.K.: Ja. Denn, anders, als bei einer Photographie, arbeitet der Film eigentlich nicht mit Abbildung, sondern mit dem, was seitlich der Quadrierung zu ahnen ist, was zwischen den einzelnen Einstellungen einer Montage an Gegensatz enthalten ist, so dass sich gewissermaßen etwas bewegt aufgrund des Ansehens eines Filmes. Je weniger der Film abbildet, je mehr Vorstellungsvermögen entsteht im Zuschauer. Das habe ich mir nicht ausgedacht, sondern das sagt Pudovkin, das sagt Eisenstein, das sagt Walter Benjamin.

L.D.: Also fordern Sie auch viel vom Betrachter: dass er auch angeregt ist, selber nachzudenken.

A.K.: Ich fordere eigentlich vom Zuschauer nichts Besonderes. Er kann mit der Aufmerksamkeit der Schulpause vollkommen auskommen. Er braucht nicht die Aufmerksamkeit einer Schulstunde. Er braucht überhaupt keine Willenskräfte. Er macht von selber, dass er auf etwas, was er ahnt und was als Nebensache im Bild ist, stärker reagiert, als auf eine Hauptsache, die ihm sozusagen die Vorstellung abnimmt; da bildet er sich kaum ab.

P.R.-R.: Sie sagen also, dass manche Typen von Filmen...

A.K.: ...gar keine Bilder sind. Sondern sind eigentlich mit der Schrift verwandt. Plakate sind sie.

P.R.-R.: ... Abbildrealismus...

A.K.: Ich meine das aber nicht nur negativ! Ich würde es nicht machen. Aber ich meine nicht, dass es negativ ist. Das ist so ähnlich, wie beim Comic. Der ist ja auch eher Schrift als Bild. Plakate ist eigentlich der richtige Ausdruck.

P.R.-R.: Vielleicht können wir darüber auf eine andere Technik kommen, die Sie einsetzen. Es gibt bei Ihren Interviews eine kleine Störung oder ein kleines Spiel. Sie drehen nämlich die Interviews manchmal mit wirklichen Zeugen: Leuten, die eine Funktion bei einem Ereignis wie Tschernobyl ausgeübt haben; und manchmal sind es aber Schauspieler, die einstehen für wirkliche Zeugen. Was hat das auf sich?

A.K.: Ich glaube, dass es einen Muskel gibt im Menschen, der kann Spiel von Ernst unterscheiden. Das kann jedes Kind. Und insofern geht jeder Mensch mit seiner Wahrnehmung mit Phantasie und mit Wirklichkeit, mit Dokument und mit Roman immer gleichzeitig um. Es liegt sogar ein Genuss darin, wenn er wechseln darf. So als ob man während der Abendschau alle fünf Minuten Karaoke machte und singen dürfte, das gibt es aber nicht.

L.D.: Oder Topfschlagen.

A.K.: Oder Topfschlagen. Spiel und Ernst sind hier identisch und ich gebe mich nicht zufrieden mit dem, was dokumentierbar ist. Natürlich würde ich, wenn ich einen in einem Gefängnis von New York festsitzenden Wirtschaftsboss vor die Kamera kriegte und befragen dürfte, ihn mit aller Kunst und auch mit Hingabe (dass ich ihn nicht vergattere auf seine Schuldfragen) interviewen und ihn niemals durch einen Schauspieler ersetzen wollen. Wenn ich aber doch weiß: so einer wird mich gar nicht empfangen, aber es gibt diese Art von Wirtschaftsverbrechen, und Gefängnisse in New York gibt es auch, dann werde ich mir meinen Peter Berling bitten, sich das intensiv vorzustellen und ihn befragen. Und dafür gibt es wieder Regeln, das heißt, ich darf ihn nicht einfach danach befragen, was ich hören möchte, sondern ich darf ihm vorher gar nichts erzählen, außer, dass ich ihm seine Rolle erkläre und dann weiß ich nicht, was er sagt, und er weiß nicht, was ich frage und dann entsteht eine Art Drahtseil, auf dem man balancieren kann.

L.D.: Eine Art Assoziationsspiel in den Interviews. Es scheint auch, als würden Sie bei diesen Interviews zusätzlich zum Lachmuskel das Unbewusste zum Bewegen und zum Sprechen bringen...

A.K.: Ich möchte aber kein Loblied der Fiktion singen. Sie ist mir vollkommen gleichwertig der Dokumentation. Ich bin ein absoluter Dokumentarist. Wenn etwas Wirkliches da ist, werde ich es nicht durch Fiktion ersetzen. Aber so vieles bildet dokumentarisch gar nicht erst einen Zusammenhang und ist erst gar nicht zu verstehen, ist kein Zusammenhang, sondern vereinzelt. Es ist unbefriedigend, wenn ich nur auf Tschernobyl mit der Kamera starre, die ja während des Ereignisses nicht da war und sowieso nicht geeignet ist um etwas so Komplexes aufzunehmen. Da nehme ich lieber eine Geschichte, die ich authentisch durch eine Erzählung erfahren habe, aber nicht mit der Kamera. Das ist der Taucher, der in diesem dunklen Becken, das mit Wasser gefüllt ist schwebt. Das Wasser muss man ablassen, sonst gibt es (wie in Fukushima) eine Wasserstoffexplosion. Der Taucher geht jetzt in diese Dunkelheit als handelte es sich um ein Schwimmbad in Halberstadt. Es ist sehr klaustrophobisch, sehr unheimlich. Er taucht, und mit der Kraft seiner Hände dreht er an einer veralteten ungeprüften Schraube, die vielleicht nicht mehr funktioniert. Aber sie funktioniert dann doch. Er ist ein Techniker, ein Ingenieur, gleichzeitig ein mutiger Schwimmer und ein Mann, der sein Leben hingibt wie ein Mann im Krieg

L.D.: Wie gehen Sie denn mit einer Katastrophe um?

A.K.: Zunächst einmal, indem ich sie leugne. Das ist mein erstes Gefühl: ist nicht so schlimm. Zweitens flüchte ich. Drittens: ich flüchte nicht alleine, ich gehe in Gesellschaft. Und jetzt können Sie sieben Stationen sagen bis ich anfange zu filmen. Die Summe der internen Widersprüche, die man als Mensch hat (die nicht alle nur gut sind), stellt sich dem Ereignis. Und dann fängt man an, vom Rande her zu erzählen. Nehmen Sie meinetwegen in Tschernobyl: Jäger, ehemalige Genossen, die immer auf Jagd gingen, gemeinsam, nach Dienstschluss. Und die erschießen jetzt die letzten kontaminierten Hunde. Noch einmal ein großes Jägererlebnis. Das ist so albern, wenn Sie sich überlegen, dass Regierende so etwas machen, weil sie nicht wissen, was sie sonst tun sollten. Da haben Sie sozusagen in einer Metapher alle Absurditäten. Aber in einer Randszene. Der menschliche Neugiertrieb, den ich ja gerne pflege und den ich liebe, denn er ist sehr lebendig, ermüdet wenn er immerzu auf die Hauptsache guckt. Wenn Sie hundertmal gehört haben: 26. April, 23 Uhr und das Ding explodiert, dann können Sie das irgendwann auswendig, so wie Sie auswendig konnten: wann wurde Hitler geboren? Am 20. April 1889. Das können Sie dann auch nicht mehr hören. Insofern dürfen Sie nicht immerzu auf der Hauptsache herumreiten, sondern Sie müssen etwas in der Peripherie suchen, das als Metapher dient. Heiner Müller sagt: die Metapher verlangsamt das Ereignis, so wie die Architektur unseres Ohres – dieses eigenartige und auch sehr schöne und auch erotisch interessante Gewölbe da, das zum Ohr führt, also unsere Ohrmuschel – ein Hindernis für den Ton ist. Der geht dann nicht gleich so direkt rein und raus, sondern er kann sich erstmal sammeln, wie in einer Muschel. Das sind also ganz komplizierte Vorgänge, die gewissermaßen die Wahrnehmung so verlangsamen, dass das Gefühl auf das zu schnelle Ereignis antworten kann. Die Gefühle sind langsam. Diese Verlangsamungsmöglichkeit: dass Sie Menschen, so wie Menschen mit ihren Widersprüchen und Gefühlen sind, aufnehmen können, finde ich anreizend. Das ist im Grunde die Arbeit: egal ob Sie Geschichten schreiben, oder einen Film machen. Viele Kilometer von Tschernobyl entfernt, in der Stadt Lemberg, gibt es ein Design-Unternehmen und das kriegt jetzt den Auftrag: man soll für das Gebiet von Pripjet ein Warnschild machen, das auch in zweitausend Jahren erkennbar ist. Sie haben daran gearbeitet, haben aber nichts gefunden, was länger, als über zweihundert dreihundert vierhundert fünfhundert Jahre zuverlässig funktioniert.

P.R.-R.: Werden in solchen Zeiten Grenzen der Vernunft abgesteckt? Sie zeigen in einem Beitrag, wie die Haut beim Kontakt mit übermäßiger Strahlung bräunlich-rot wird.

A.K.: Wie eine Sonnenbräune.

P.R.-R.: Dieses sichtbare Zeichen kann aber nicht unterscheiden zwischen Lebensgefahr und Sonnenbrand; gleichzeitig haben in Tschernobyl auch die Geigerzähler versagt, weil sie nicht auf den Katastrophenfall kalibriert waren. Das heißt: Sie zeigen auf, wo vielleicht Grenzen unserer menschlichen Unternehmungen sind und setzten dann den Umweg als Ausweg.

A.K.: Wir sind überfordert. Wir sollen demütig sein vor der Pranke der Natur und ich arbeite an einer Überprüfung unserer eigenen Werkzeuge. Die Haut ist ja eigentlich ein Warninstrument und ein kluges Lebewesen – ich habe hohe Achtung vor der Menschenhaut, und bei Tieren ist das nicht anders – und die weiß viel und ist sehr alt und kann auch reagieren und wird mit einfacher Kernstrahlung fertig. Hier kommt sie in eine Situation, die sie nicht kennen kann, und in der sie verrückt wird. Wenn Sie das sehen: zunächst rötet sich die Haut nur, dann explodiert sie aber. Da muss man einfach sagen: davon die Hände weg! Diese moralische Fassung oder die politische kommt am Ende und da muss ich auch als Filmemacher gar nicht groß tätig werden.

P.R.-R. Sie haben an der Stelle auch ein Bild gezeigt einer leicht verstrahlten Person. Wie gehen Sie mit Schreckensbildern um? Welche Bilder können Sie zeigen, wollen Sie zeigen, welche nicht?

A.K.: Das hängt von der Sache ab, die ich beschreibe. Schreckensbilder haben ja zwei verschiedene Wirkungen: sie schaffen Entschiedenheit in der Wahrnehmung („das darf doch nicht sein!“) aber sie töten auch die sensible Seite (ohne Lust will Keiner etwas sehen). Eigentlich würde ein Mensch pursuit of happiness betreiben wollen und angenehme Bilder haben.

P.R.-R.: Meinen Sie nicht, dass solche Bilder auch kathartische Wirkung haben können?

A.K.: Das meine ich ja mit diesen zwei Seiten. Kathartisch und zementierend. Wir müssen abwechseln, wir können nicht nur rumballern mit furchtbaren, mit Schreckensbildern – dann können Sie weder Auschwitz darstellen, noch Hiroschima, noch irgendetwas. Sie müssen also abwechseln können, sie dürfen die Wahrnehmung nicht unterdrücken, also müssen grausame Bilder möglich sein. Sie müssen mit der Grausamkeit aber unterwegs aufhören und der Wahrnehmung eine Pause gönnen. Mit einem kleinen Schluck Paradies müssen Sie die Schreckensbotschaft begleiten, ohne beides zu vermischen. Ich versuche auf eine nicht-ideologische Weise, von der Seite her zu kommen. In Die Nibelungen von Fritz Lang verödet der Zuschauer am Ende dadurch, dass alle Helden brennen, nichts übrig bleibt: nachdem das Kind von Kriemhild geschlachtet ist, ist es so, dass man eigentlich noch viel schlimmere Sachen nicht sehen will. Dazu hat mir Lang folgende Geschichte erzählt: Stellen Sie sich vor, hat er gesagt, der letzte Fußkranke der Nibelungen kommt drei Wochen zu spät zum Geschehen. Er verbrennt nicht, da seine Landsleute alle schon tot sind und er hat jetzt etwas zu erzählen und kehrt zurück. Er ist nur zu spät gekommen. Das kennen wir bei jeder Katastrophe: einer hat das Flugticket nicht mehr gekriegt und ist deswegen nicht in den Atlantik gestürzt. Das können Sie hier aber nutzen, indem Sie diese Geschichte des letzten Fußkranken der Völkerwanderung beschreiben. Das haben wir mit Helge Schneider in der Hauptrolle im letzten Jahr so verfilmt. Es geht nicht so, dass Sie in den Krieg einen Schwank reinbauen und sagen: auch im Krieg, auch im Untergang gibt es lustige Szenen in der Kantine. Sie müssen immer wieder sagen: es gibt nicht eine Welt, es gibt nicht eine Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit ist durchlässig wie eine dünne Eisdecke. Sie können durchrutschen in die Katastrophe oder zu den glücklichen Zwergen, die sozusagen andere Gesetze haben. Und jetzt können Sie freundlich sein, einen Moment freundlich sein. Also man darf nicht den Glauben befestigen zu sagen, dass das Grausame zu unserer Welt wirklich gehört. Man muss den gesunden Zweifel, den jedes Kind hat, dass das Grausam-Wirkliche auch unrealistisch ist, den muss man aufrechterhalten. Sie bleiben damit höflich, Sie dürfen nicht auf unhöfliche Weise klotzen.

P.R.-R.: Wir haben jetzt viel über das Fernsehen gesprochen: Wie schätzen Sie die neuen Medien ein? Es gibt einen Technologiewandel, der Rezipient beginnt sich zu regen...

A.K.: Nicht nur politisch. Das ist eine unglaubliche Zunahme der Partizipation in der Öffentlichkeit. Soviel Teilnehmer einer Weltöffentlichkeit hat es noch nie gegeben. Es ist gewissermaßen eine Umwälzung etwa so stark wie die von Gutenberg, etwa so stark wie die Erfindung der Schrift, etwa so stark wie die Erfindung der Sprache. Also das ist wirklich etwas Verblüffendes. Wenn der Immanuel Kant das gekannt hätte, der wäre begeistert gewesen.

P.R.-R.: Glauben Sie es gibt da auch Gefahren?

A.K.: Es ist nicht mein Amt über Gefahren nachzudenken, sondern für mich ist es erstmal der Zugewinn der objektiven Möglichkeiten, der zählt. Man muss Gärten bauen oder was die Kelten befestigte Scheunen nannten. Man müsste in dem, was zunächst so wild ist, wie ein Dschungel, oder so offen, wie ein Ozean, wo man nicht als Mensch beliebig leben kann, Häfen und Leuchttürme bauen oder aus dem Dschungel Äcker machen – und das macht der Kopf von selbst. Unsere Köpfe sind gut geordnete Gärten. Und diese Mühe sich gemeinsam zu machen, das machen die Nutzer. Wir dürfen die Blogger da nicht unterschätzen, das sind neue Gemeinden, die unheimlich erfindungsreich sind. Da müssen klassische Autoren nicht denken, sie könnten die Architekten davon werden – das wird da nicht gebraucht. Eher Sammler werden gebraucht, wie bei den Gebrüder Grimm, die das Gute aufsammeln und wie die Tauben das gute ins Töpfchen, das Schlechte ins Kröpfchen sortieren helfen. Eine solche Bilderflut oder Informationsflut führt notwendig in den Menschen auch zu einer Gegenreaktion, das heißt, die wollen ein Zuviel abwehren. Es geht darum, bestimmte Plätze, Communities zu schaffen, in denen man es aushalten kann – Korallenriffe gewissermaßen.

P.R.-R.: Facebook-Kritiker würden aber sagen, dass genau das passiert, indem ein sensus communis geschaffen wird, der auf Klickanzahl beruht. Mit dem „Like“-Button wird die Differenz hergestellt. Dann werden kleinere Communities aufgebaut, derer man sich nicht entziehen kann wenn man noch Gesicht bewahren will.

A.K.: Genau. Das geschieht aber selbsttätig. Jetzt kann man nur noch Zäune bauen bei bestimmten Themen. Nehmen Sie anlässlich von Ägypten und Tunesien das Thema Revolution: darunter können Sie alles zusammentragen, was es da gibt. Ein solcher Themenzusammenhang hat eine Gravitation. Wenn man dies hier zusammengetragen hat, dann sagt dies: das Material erweckt Neugier. Diese Neugier der Nutzer und der Macher sorgt dafür, dass sich das erweitert und plötzlich können sie die Revolution auf Gebieten entdecken, wo man sie normalerweise gar nicht sehen würde. Und auch ein Tahirplatz hat übrigens etwas von einem Netz. Dieses Netz reicht viertausend Jahre zurück in Ägypten, und plötzlich merken Sie: die Bodenbearbeiter in Ägypten, die sogenannten Fellachen, haben nie regiert. Unter den Pharaonen nicht, und später nicht. Sie haben jedes Jahr neuen Reichtum geschaffen. Und nach den Pharaonen kommen dann die Römer, die Türken, die Mamelucken, die Briten. Das geht bis heute zu den Offizieren des Mubarakregimes, die wiederum stellvertretend die Waffen und die Organisation an sich genommen hatten. Hier gab es wieder wie im Bienen- oder Termitenstock eine Arbeitsteilung zwischen denen, die arbeiten und denen, die regieren. Dessen Untergang können Sie jetzt durchaus mit der Implosion der Sowjetunion vergleichen. Das lässt sich auch darstellen und unsere Arbeit besteht darin, Momentaufnahmen gegen die falschen Zusammenschlüsse von Werbe- und Spielfilm zu setzen. Da muss man die Einzelheit, die Momentaufnahme, den Augenblick, das Authentische wieder herstellen. Man müsste beispielsweise, einen Nachmittag von Antonius und Kleopatra von der Perspektive ihres Küchenpersonals beschreiben. Das wäre der Gegenfilm zu dem damaligen Flop eines Großfilms Antonius und Kleopatra. Jetzt hätten Sie das Eine, nämlich den Moment, wieder hergestellt, den Augenblick (deswegen sage ich ja Nachmittag und nicht die ganze Geschichte). Der Gegenpol der Momentaufnahme wäre dann der Zusammenhang: das wäre dann ein zwölfstündiger Film, der dann wirklich in der Lage wäre, meinetwegen wie Tausendundeine Nacht, so etwas wie Revolution zu verfilmen.

P.R.-R.: Es gibt ein Buch von Roland Barthes, das Fragmente der Sprache einer Liebe aus der Literatur versammelt. Ist das so ein ähnliches Projekt, wie dasjenige, das sie verfolgen, diese Einzelheiten, diese Details zusammenzufügen zu einem...

A.K.: Einzelteile so zusammenstellen, dass ein Prisma entsteht. Dieses Prisma bleibt aber nicht stehen, sondern bewegt sich, dass heißt, wir sind jetzt bei der Metamorphose und die Metamorphose hat die Neugier und die Erfahrungswelt der Menschen, in denen sehr viel Vergangenheiten stecken. Da kommen Sie auf die Epiphanie, dass Sie durch etwas hindurch sehen können in die Tiefe. Sie tauchen jetzt aus der Einzelheit, aus der Erscheinung heraus zu etwas auf, das sie immer ahnten. Dazu brauchen Sie polyphone Bilder, cross-mapping. Sie müssen eine Karte auf eine andere Karte, ein Bild auf ein anderes Bild legen können und wenn die Bilder sich missverstehen und Kontraste bilden, dann fällt Ihnen auf, was interessant ist und was Sie interessiert. Diese Formenwelt ist die wirkliche Welt der Filmgeschichte. Nichtsdestotrotz: Ich liebe das Kino persönlich sehr, weil es auch zu meiner Lebensgeschichte gehört; aber ich verkenne doch nicht, dass es eigentlich eine Anstalt ist, wo vorne eine Kasse ist und dann werden Sitze aufgerichtet, dass man regimentsweise eine Flachbildleinwand beobachtet. Alle Freiheiten des Films sind nichts gegen das gewaltige Prisma, das Insektenauge, welches das Internet darstellt. Im Großfilm kommen Sie schnell ins Schema, das die Aufmerksamkeit von der Einzelheit weg auf die Gesamthandlung zieht. Ich würde da sozusagen im Schatten eines Großfilms sofort anfangen mit den Statisten zu arbeiten und den Film machen. Wenn wir Jungfilmer um 1968 gewusst hätten, dass Kubrick gerade an einem Großprojekt über Napoleon arbeitet, hätten wir sofort mit den B, C, und D-Filmen angeschlossen.

L.D.: Sie hatten ja gerade beschrieben, wie Sie mit den Bildern im Internet umgehen, dass Sie sich gewappnet fühlen. Aber ich habe auch von einem Freund gehört, der die Katastrophe in Fukushima drei Tage drei Nächte alleine über das Internet zuhause wie unter einem Brennglas verfolgt hat, und danach so überfordert und fertig war, als wäre es eine persönliche eigene Katastrophe und nur noch Horror- und Schreckensszenarien ausgemalt hat. Wie ist es Ihnen...

A. K.: Da gibt es im Menschen eine Gegenwehr. Und ob der will oder nicht, das ist noch nicht mal unbewusst, sondern das ist ein Mechanismus, der ist noch älter als unsere Seele, die im Körper steckt. Dann wehrt sich der Gequälte und wirft dieses, was ihn quält, ab, dann will er es nicht mehr sehen. Wir haben das in unseren Beiträgen zu Japan gezeigt: Godzilla kommt nach Fukushima, er kommt ja aus dieser Meerestiefe wie der Tsunami und wir legen eine so schöne Musik darunter, dass Sie als Zuschauer einen Moment getröstet werden. In der Gestalt wird es ja von den Nachrichten nicht erzählt. Dann können Sie weitere Geschichten nehmen, meinetwegen diejenige von Yoko Tawada. Das ist eine Dichterin aus Japan, die einen Vers geschrieben hat: „Mein Auge eintätowiert auf den Oberarm von Marco Polo kann Europa nicht sehen.“ Das sind sehr komplexe Folgen von Perspektiven. Und jetzt interpretiert Tawada das.

P.R.-R.: Gibt es nicht oft auch eine Gefahr, dass gerade diese poetischen Zugänge zu einem Ereignis, die ja auch eine lange Geschichte haben und etwa auch beim 30-jährigen Krieg einen Grimmelshausen oder bei den Persern einen Aischillos auf den Plan gerufen haben, eine Gemeinschaft schaffen, die mit der rechtlichen und politisch korrekten Gemeinschaft gar nicht mehr oder schwer kommunizieren kann? Das alte Problem des Elfenbeinturms.

A.K.: Also dieses Gerede von Gefahren können Sie sich bei mir abschminken. Da werde ich Ihnen immer wieder widersprechen, weil ich sage: dieser Gefahr, der muss man ins Auge sehen, die ist selbstverständlich da und dann muss man eben Wege suchen, sie zu kompensieren. Der Elfenbeinturm entsteht selten durch die Menschen selber, er entsteht durch Gelehrte oder irgendwen, der da eine herausragende Stellung verteidigt. Sie können sich aber sicher sein, dass irgendwo im Bauernkrieg es einen Till Eulenspiegel geben muss, und der verzerrt Wirklichkeit, da können Sie ganz sicher sein, und das ist eben nicht elfenbeintürmisch, sondern das ist die Rolle des Zwerchfells gegenüber dem Denken im Kopf! Das Zwerchfell bleibt lila – dass wir unter der Fußsohle Intelligenz haben, dass wir im Zwerchfell eine haben, dass wir in den Händen eine haben lässt sich nicht leugnen. Und: dass wir im Kopf eine haben und, dass diejenige im Kopf im Grunde nur zwischen den Menschen existiert, also gar nicht im Einzelkopf. Das Gesumm der Kommunikation, alle Köpfe zusammen, das macht die Erfindung aus. Fühlen und Denken ist etwas, das zwischen den Menschen stattfindet. Und obwohl wir die Gedanken und Gefühle so oft missbrauchen, sind wir nur durch sie übriggeblieben. Eigentlich müssten wir uns nach der Wahrscheinlichkeitslehre längst umgebracht haben als Menschheit. Aber die Wirklichkeiten laufen nicht so, weil zwischen uns Lücken sind und in diesen Lücken entsteht etwas, und das ist das Menschliche. Während die Vorstellung des Menschen, dass er Herr seines Ichs sei oder seiner Gesellschaft oder seiner Nation, das ist wohl mehr oder minder Einbildung.

Das Interview führten Lydia Dykier und Philippe Roepstorff-Robiano für Revolver.

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