Der Friedensstifter

Von Iris Radisch und Ulrich Greiner | Quelle DIE ZEIT, 23.10.2003 Nr.44 S. 41 | | Interviews

Alexander Kluge erhält an diesem Sonntag den Büchnerpreis. In einem ZEIT-Gespräch erläutert er die poetischen Prinzipien seines Schreibens

die zeit: Ihr neues großes Werk heißt Die Lücke, die der Teufel läßt. Wer ist der Teufel?

Alexander Kluge: Das weiß ich so wenig wie Sie.

zeit: Könnte das Buch auch heißen: Die Lücke, die Gott läßt?

Kluge: Wenn der Teufel der Beobachter Gottes ist, kann man das sagen. Die Betonung liegt auf Lücke. In der Lücke wohnen die Menschen. Das Buch handelt nicht vom Teufel, sondern vom Prozess der Aufklärung. Wenn wir unsere heutige Erfahrung zugrunde legen, dann genügt die historische Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht mehr. Die ist zu planwirtschaftlich, zu rhetorisch, emotional zu gleichgültig. Es gibt hundert Jahre vorher eine ganz andere Vorstellung von Eigentum, von Emanzipation. Um 1600 würde der selbstbewusste Mensch sagen: Mein Eigentum richtet sich auf meinen Lebenslauf, auf meine Gefühle und Bindungen. Erst dann kommt mein Geschäftsbetrieb und das gesammelte Geld. Das ist der „neue Mensch“.

zeit: Ihre großen Geschichtenbücher wissen etwas von der Lücke, die die Moderne gerissen hat. Sind Ihre Geschichten dazu da, diese Lücke wieder zu füllen, den verlorenen Zusammenhang wiederherzustellen?

Kluge: Das könnte ich nicht. Aber davon zu erzählen ist etwas anderes. Erzählen ist so etwas Ähnliches wie Fragen. Die Fledermaus wirft ihre Töne gegen eine Wand. Aus dem Echo hört sie einen Raum. Das ist es, was Erzähler können.

zeit: Das Erstaunliche an Ihren Büchern ist, dass der Erzähler auf eine gewisse Weise darin verschwindet.

Kluge: Ichlose Vielfalt! Eines meiner Kapitel heißt: Der Mann ohne Kopf. Ich habe großen Respekt vor den Gefühlen und ihrem Antirealismus. Wenn der Mensch auf etwas stößt, was er nicht erträgt, bekommt er einen Hautausschlag. Er ist allergisch gegen Unglück. Diesen Antirealismus im Menschen muss man anerkennen. Dazu verhält sich das Ich als Popanz.

zeit: Ihre Geschichten wollen mehr als einfache Erzählung, mehr als Chronik sein. Sie sollen doch etwas beweisen.

Kluge: Es gibt zwei Arten von Geschichten. Die einen weisen auf überhaupt nichts hin. Sie sind Monaden. Die anderen sind Kartografien. Da werden Geschichten wie Karten übereinander gelegt, es gibt ein cross mapping. Eine Dada-Anweisung lautet: Mit der Straßenkarte von London den Harz durchwandern. Das ist ergiebig insofern, als Sie sehr gut merken, wann Sie in den Abgrund fallen. Sie können mit einer falschen Karte viel erfahren. Wir können nie genau sagen, welche Karten richtig sind.

zeit: Die Ergebnisse dieser Kartenlegerei sind verblüffend. Plötzlich sieht es so aus, als gebe es durch alle Jahrhunderte hindurch immer wieder verwandte Geschichten.

Kluge: Sie könnten sich solche Geschichten von Brecht erzählt vorstellen. Dann würde irgendeine Moral herausschauen. Bei mir schaut ein Raum heraus, ein Erzählraum. Es gibt Erfahrungsbeben, so wie es Erdbeben gibt. Die Erfahrungsbeben verändern die Linearität von Erzählungen. Das messe ich wie ein Teufel.

zeit: Die gleichnishaften Geschichten sind zusammengebunden durch den Titel, durch die Lücke. Ist diese Lücke das Glück?

Kluge: Ereignisse wie Tschernobyl, den 11.September, Auschwitz, Verdun, den Gaskrieg und andere Menetekel dieses und des vergangenen Jahrhunderts empfinde ich als unerträglich, und ich nehme mir vor, genauso viele Geschichten über Rettung unter unwahrscheinlichen Umständen zu erzählen.

zeit: Eine Art literarischer Katastrophenschutz? Kann das Erzählen vieler Katastrophen die nächste Katastrophe abwenden?

Kluge: Nein. Sie sind zu radikal in diesen Fragen. Sie gehen von normaler Literatur aus. Was ich mache, ist unterhalb der Schwelle von Literatur. Es ist Antiliteratur. Wenn Literatur nicht in der Lage ist, irgendetwas gegen den Faschismus zu bewirken, sagte Adorno, dann müssen wir sie reicher machen. Dann müssen wir auf den Rohstoff der Literatur zurückgehen. Und näher am Rohstoff unter einfacheren Bedingungen Straßenbau betreiben.

zeit: Also Dokumentarliteratur?

Kluge: Ich bin für diese Begriffe nicht zuständig. Aber statt Katastrophenschutz würde ich sagen: Perspektive. Erzählen heißt, dass ich verantwortlich bin für die Perspektivität. In der Schlachtbeschreibung, meinem Buch über Stalingrad, habe ich versucht, meine Achtung vor den Toten auszudrücken, indem ich nur mit dokumentarischem Material gearbeitet habe. Dann habe ich gemerkt, dass auch da etwas nicht stimmt. Schlachtbeschreibung ist das Buch, das ich am häufigsten umgeschrieben habe. Noch in der Chronik der Gefühle habe ich es um fast 80 Seiten ergänzt und viele Seiten niedergerissen. Es ist jetzt nicht mehr dokumentaristisch.

zeit: Was sind die Vorteile dieser Antiliteratur gegenüber der Literatur?

Kluge: Das Wort Antiliteratur ist polemisch. Selbstverständlich hänge ich an den vertrauenswürdigen Schriftstellern. Philologie ist für mich heilig, weil wir in den Büchern Erfahrung aufbewahren können. Heute fehlt etwas in der Literatur, und etwas anderes ist zu viel darin. Ich möchte zurückgehen zu dem, was Menschen untereinander reden, wenn sie Erfahrungen machen, und daraus lernen, zurückgehen zum Gespräch zwischen Mutter und Kind, zum Gespräch über Beziehungsfragen. Das sind Wandergeschichten. Einfache Vielfalt. Primitive diversity. Etwas Ähnliches werden Sie auch bei Walter Benjamin im Passagenwerk finden.

zeit: Benjamin hatte eine Utopie. Er hat geglaubt, wenn er das Material in Konstellationen bringt, beginnt es zu sprechen. Dann entsteht etwas, das mehr als nur die Summe der erzählten Geschichten ist.

Kluge: Adorno nennt das „dialektischen Kitsch“. Ich teile Benjamins Interesse, bin aber viel skeptischer, vorsichtiger als er.

zeit: Sie haben keine Utopie?

Kluge: Doch. Wenn es gelingt, Poesie und Wissenschaft wieder zu vereinigen, können wir das intellektuelle Selbstbewusstsein, das wir ja brauchen, die Intelligenzfähigkeit des bürgerlichen Menschen noch einmal neu konstruieren. Ich glaube, dass das Selbstbewusstsein am Anfang unserer modernen Epoche wie ein siamesischer Zwilling falsch zusammengewachsen ist. Galilei ist einerseits völlig respektlos gegenüber allem, was er nicht versteht, und gleichzeitig selbstbewusst. Wie kann ich das falsche Omnipotenzgefühl, den westlichen fundamentalistischen Standpunkt, der nicht religiös aussieht, aber durchaus religiös ist, und seine gute Kehrseite, die Eigenschaft, Horizonte versetzen zu können – wie kann ich diese beiden Eigenschaften wieder voneinander trennen? Nach der Art, wie in Singapur operiert wird, geht das nicht. Ich will von Räumen erzählen, in denen diese Frage verhandelt werden kann. Dann kann ich darauf hoffen, dass dieses Selbstbewusstsein andere Koalitionen von Emotion, Intelligenz und Geselligkeit hervorbringt. Kant sagt einmal, wir seien Bauleute und wollten Wohnungen für unsere Erfahrungen bauen. Dann kamen wir auf Abwege und bauten einen Turm. Dabei entzweiten wir uns, es entstand die Sprachverwirrung. Also müssen wir zurück zu einfachen Bauelementen. Das ist es, was ich mache.

zeit: Wo ist Ihr Ich? Trifft es denn keine Auswahl, geben Sie den Geschichten keine Richtung?

Kluge: Selbstverständlich. Mindestens die Hälfte der Geschichten hat einen glücklichen Ausgang. Gegen alle Wahrscheinlichkeit. Eine Frau stürzt sich vom Mailänder Dom. Dabei fällt sie auf ein schlecht gebautes Auto, auf biegsames Blech, das rettet sie. Daraus können Sie aber keine Kausalität entwickeln.

zeit: Sie schreiben an einer Stelle: „Die Kausalketten marschieren getrennt und schlagen vereint.“

Kluge: Das ist es, was ich so schlimm finde. Es gibt Kausalketten, die haben nicht aufgehört zu wirken, von Verdun bis heute. Und sie können Menschen töten. Während die Menschen auf der anderen Seite in ihren Lebensläufen wie in einer Froschperspektive eingegrenzt sind.

zeit: Können Kausalketten auch glücklich wirken?

Kluge: In einer Geschichte fliegt ein amerikanischer Pilot im Morgenland einen Bunker an, in dem Terroristen sitzen sollen. In Wahrheit sitzt dort eine Hochzeitsgesellschaft und feiert. Sein Kopf kann ihm hier nicht helfen. Aber sein Darm hat in diesem Moment eine Kolik, und er macht sich in den Anzug. Das verwirrt ihn, und er verreißt die Maschine. Da haben Sie meine Lieblingsthese, dass ein Darm klüger sein kann als ein Kopf.

zeit: Gibt es den für das bloße Auge unsichtbaren Zusammenhang der Ereignisse quer durch alle Epochen hindurch?

Kluge: Ich glaube das nicht. Das Pathos bei mir liegt in der Möglichkeitsform und im Optativ. Die Wunschform ist nicht wirklichkeitsverändernd. Sie können noch mit dem Wunsch auf der Zunge sterben, dass es anders sein möge. Es gibt Glücksfälle, die in der Vergangenheit verborgen sind und nicht genutzt wurden, das ist das future antérieure. In Unheimlichkeit der Zeit verwandle ich mich als Autor in eine Lehrerin mit vier Kindern, die dasselbe erlebt, was ich erlebt habe, als in meiner Nähe Bomben niedergingen. Sie weiß nicht, ob sie, wenn sie jetzt betet, vielleicht irgendetwas verwirrt und die Bombe sie gerade deshalb trifft. Oder ob sie, wenn sie nicht betet, etwas unterlassen hat. Das ist völlig unlösbar. Jetzt überlege ich: Wo ist hier in diesem Wirklichkeitsgefängnis, aus dem ich als Mensch nicht herauskomme, der letzte Ausweg? Und dieser last exit ist nichts weiter als ein Erzählraum, den man auf seine Vertrauenswürdigkeit überprüfen kann. In mir rasselt es dann so lange wie in einer Registrierkasse, bis ich die Bedingungen eines Auswegs in aussichtsloser Lage weiß. 1928 hätte jene Lehrerin die Möglichkeit gehabt, sich mit anderen Lehrern so zu organisieren, dass es kein 1933 gibt, dann gibt es auch kein 1936 und auch kein 1945. Ich habe nichts weiter benannt als die Bedingung für ein glückliches Ende. Das nenne ich Lieblingsthese.

zeit: Da Sie nicht wissen, ob es Gott gibt, überlegen Sie als Autor nachträglich, was Gott hätte tun müssen, um jemanden zu retten.

Kluge: Es könnte auch sein, dass ich denke, dass es Gott gibt, aber dass er sich nicht um uns kümmert.

zeit: Wozu neigen Sie?

Kluge: Zu Letzterem. Er ist nicht sinnstiftend bei uns tätig.

zeit: Und doch durchwühlen Sie die Zeitgeschichte nach dem Prinzip Hoffnung.

Kluge: Nein. Nach dem Prinzip Ausweg. Ausweg bedeutet, dass ich, obwohl Handeln oder Nichthandeln gleichermaßen ein Fehler sein kann, einer Suchbewegung folge.

zeit: Um die Vergangenheit zu retten?

Kluge: 1942 haben sich meine Eltern scheiden lassen. Ich war immerhin ein Kind von zehn Jahren. Ich konnte innerlich nie unterscheiden, war das jetzt das Ende meines Vatershauses, oder war es 1945, als es abbrannte. Ich verwechsele es immer noch. Ich war damals verschwörungsmäßig tätig, meine Eltern wieder zusammenzubringen.

zeit: Mit Erfolg?

Kluge: Ich habe es nicht geschafft. Aber diese Perspektive ist für mich geblieben: Dies würde ich nachträglich gerne ändern. Deswegen bin ich Jurist geworden. Ich kann gut Frieden stiften. Das kann ich politisch, und das kann ich literarisch. Ich glaube nicht, dass es einen Sinnzusammenhang in der Welt gibt. Ich glaube aber umgekehrt, dass mich kein Mensch davon überzeugen wird, dass es den Sinnzusammenhang grundsätzlich nicht geben kann.

zeit: Sie planen das Glück.

Kluge: Im Gegenteil. „Ja mach nur einen Plan…, das Glück läuft hinterher.“ Das glaube ich ja ganz zutiefst. Ich zeige zum Beispiel, wie Planwirtschaft und Tschernobyl miteinander korrelieren. In der Liebe gibt es Planwirtschaft gar nicht. Ein Grundgefühl, das ich von meiner Mutter habe, sagt mir, dass man Aufklärung nicht mit Einsicht finanzieren kann, sondern mit Glückserwartung. Dazu baue ich Metaphern, die wirkliche Verhältnisse in der Beschreibung so verlangsamen, dass die Emotion Kontakt zur Sache aufnehmen kann. Denken Sie an die Geschichte des Ehepaares, das zum Scheidungstermin fährt, durch die brennende Lüneburger Heide aufgehalten wird und sich schließlich doch nicht scheiden lässt. Der Brand ist Zufall, aber er korreliert mit etwas, das in den beiden versteckt war. Menschen sind vielstimmig, eine Partitur, ein Orchester. Dafür muss man Räume schaffen.

zeit: Sie sprachen von der Versöhnung von Poesie und Wissenschaft. Wo ist bei Ihnen die Poesie?

Kluge: Die Poesie ist eingedickte Emotion. Sie kann entweder erzählen oder einen Gedanken haben. Als Jurist wende ich meinen Verstand an, als Erzähler richte ich mich nach Gemütskräften. Die haben feste Beziehungen. Da ist meine Mutter, da ist mein Vater, da ist meine Frau, da sind meine zwei Kinder, und dann ufert das weiter aus, als wären das Äcker.

zeit: In Ihren Erzählungen haben die Figuren selten mehr als eine Buchseite Zeit, sich nach ihren Gemütskräften zu richten. Warum spielen die vielen tausend Geschichten, die Sie bisher aufgeschrieben haben, so gut wie nie in den menschlichen Innenräumen?

Kluge: Denken Sie an Anna Karenina. Wenn der große Aufwand dieses bewundernswerten Romans von Tolstoj, den ich sehr liebe, nur dazu führt, dass sie zum Schluss umkommt, dann sage ich mir, dass sowohl die Gefühle von Wronskij als auch die Gefühle von Anna Karenina überflüssig sind für einen glücklichen Ausgang. Mich interessiert nur der glückliche Ausgang.

zeit: Die Literatur fragt nicht nach der Nutzanwendung der Gefühle.

Kluge: Aber das Kind fragt danach. Das zehnjährige Kind der Anna Karenina, in dem ich mit meinem Ich und meiner ganzen Beobachtungsgabe stecke. Und dieses Kind will nicht, dass die Mutter unter dem Zug umkommt. Sie sollten die Intelligenz nicht so verteufeln. Die ist hart genug dran. Es gibt sie ja kaum noch.

zeit: Aber bei aller Intelligenz sind Sie doch Schriftsteller.

Kluge: Adorno hat zu mir immer gesagt, es ist völlig überflüssig, dass du Geschichten schreibst. Du kannst nicht besser werden als Proust. Die Literatur ist eigentlich eine Arche Noah, die vollständig belegt ist. Ich denke etwas anderes. Ich denke, dass man alle Geschichten noch einmal erzählen muss unter der Sogwirkung der Jetzt-Zeit. Ich beschreibe die emotionalen Unruheherde im Menschen perspektivisch, aufgrund von Romanen, die bereits die wesentlichen Dinge beschrieben haben. Alles muss ich nicht mehr wiederholen.

zeit: Sie sind sehr ergebnisorientiert.

Kluge: Ich würde mich zu Tode langweilen, wenn ich etwas erzählte, was vollkommen luxurierend wäre im Verhältnis zu anderen Geschichten, die auch erzählt werden müssen. Es geht um Proportionsverhältnisse. Ich finde es lästig, in einer Zeit, in der wir unsere Beobachtungsfähigkeit als literarisches Prinzip neu überprüfen müssen, die traditionellen Aufmerksamkeiten einer Gesellschaft vor 1914 immerzu zu wiederholen.

zeit: Also hat Adorno doch Recht. Man soll nicht noch mal machen, was Proust schon gemacht hat. Das ist einleuchtend, aber auch furchtbar. Ihre Kinder haben doch das Recht, neu anzufangen. Die dürfen auch Romane schreiben.

Kluge: Meine Kinder lesen keine Romane, und die schreiben auch keine Romane. Proust hat das 20. Jahrhundert in Sachen menschlicher Beziehungen abschließend bearbeitet. Das muss man nicht mehr wiederholen. Das Prinzip der Moderne ist der Neubau. Und dabei muss man Zusammenhang stiften. Wie eine Fledermaus, die verschiedene Wände anfliegt, probiere ich das aus. Eine Geschichte, eine Tonalität beeinflusst die andere wie in einer Partitur.

zeit: Es gibt viele Tonlagen und Klangfarben in Ihren Geschichten. Und doch meint man einen Grundton der Distanz heraushören zu können.

Kluge: Ich schulde meinen Figuren Genauigkeit. Und zur Genauigkeit gehört…

zeit: Antisentimentalität?

Kluge: Ja. Wenn ich zum Beispiel in der Geschichte vom Selbstmörder Maxwell einen Trauergesang anstimmen würde, wäre das Phrase. Auch die großen Opern, Zimmermanns Soldaten oder Bergs Wozzek, sind im Grunde Kürzel. Was bei Wagner eine Viertelstunde dauert, dauert dort sieben Sekunden. Die Wirklichkeit hat sich verdickt, hat sich materiell aufgeladen. Meine Frage ist immer: Wo gibt es den Ausgang? Ich suche nicht die intensive Beschreibung.

zeit: Zieht es Sie nie zur großen Erzählung?

Kluge: Die Geschichten, die mich am meisten angehen, sind die kürzesten.

zeit: Gibt es für die wichtigsten Dinge keine Worte?

Kluge: Natürlich, aber man darf nicht quasseln.

zeit: Kunst ist, wenn man nicht quasselt?

Kluge: Kunst ist Verkürzung. Das kann nicht jeder. Ich bin antirhetorisch. Rhetorische Attitüden sind für mich des Teufels. Wenn es ernst ist, muss gesprochen werden. Dann ist die Phrase verboten. Sie hält auf. Die Verdichtung ist eine Tugend. Ich schreibe für die kurzen Stellen am Ende einer Geschichte. In ganz ernsten Augenblicken sagt der Mensch nichts.

zeit: Finden Sie in der Gegenwartsliteratur auch diese ausgeleierte, rhetorische Sprache?

Kluge: Ich bin kein Kritiker. Aber ich empfinde das oft. Nehmen Sie Büchners letzten Satz im Lenz: „So lebte er hin.“ Das ist Verdichtung. Was es schon gibt, muss man nicht verdoppeln. Sehr viele Personen, denen ich vertrauen würde, sitzen im 17. Jahrhundert. Nicht weil ich dort zu Hause bin. Sondern weil die noch einen offenen Blick dafür haben, wie reich unsere Interessen eigentlich sind. Dass Liebesgeschichten und Bilanzen kein Gegensatz sind. Dass Tulpenfelder und Politik zusammengehören. Die können noch Entdeckungen machen.

zeit: Das Unglück der deutschen Literatur begann also erst mit der Romantik.

Kluge: In gewissem Sinne, ja. Mich können Sie in die Wahlverwandtschaften als Portier einbauen. Ich würde dort französische Texte lesen. Die Herrschaft würde mich ganz nett finden. Der Hauptmann begrüßt mich. Ich wäre aber ganz auf der Seite des Jungen, der dem Liebsten, was er hat, in den Fluss nachspringt und dann eine Ehe führt. Das gefällt mir besser, als wenn Goethes Ottilie das Kind ins Wasser fällt, und die Liebenden sich nur im Jenseits begegnen können.

zeit: Das goldene Zeitalter der Literatur…

Kluge: Damals sind mehr Publikationen erschienen als im Jahr 1928. Dazwischen sind Wüstenzeiten. Wenn man sucht, findet man im 17. Jahrhundert sehr viele Baustellen, auf denen wir weiterschreiben können für das 21. Jahrhundert, das mich sehr beunruhigt. 1989 dachte ich, wir gehen jetzt auf ein glückliches Zeitalter zu. Nun merke ich, dass es seit 2001 atavistisch wird. Teile des Völkerrechts gehen wieder verloren. Erkenntnisse wie „Politik ist die Kunst des Möglichen“ werden übersetzt in: „Eine Großmacht kann sich doch nicht ins Mögliche einsperren lassen.“ Wenn ich so etwas höre, klingelt etwas bei mir. Jetzt treten Geistesrichtungen aus der Zeit vor 1914 wieder auf, in einem ganz anderen Weltteil. Das irritiert mich. Das möchte ich genauso zum Erzählen bringen wie die Frage: Wie kann ich Scheidungen unmöglich machen? Das Poetische ist eine Sammlertätigkeit.

zeit: Wer sind Ihre Kombattanten in dieser Sammlerangelegenheit?

Kluge: Tacitus, Ovid, Montaigne, im Mittelalter Cäsarius von Heisterbach, da komme ich her.

zeit: Unter den Lebenden sind Sie recht einsam.

Kluge: Heiner Müller und Einar Schleef leben noch als Geister. Mit Durs Grünbein kann ich wunderbar sprechen. Aber Gottfried Benn wäre mir näher. Proust kann ich Ihnen absatzweise aufsagen. Flaubert, Tolstoj oder Thomas Mann bedeuten mir sehr viel. Ich wollte eigentlich so schreiben wie Thomas Mann. Aber das wurde nichts. Weil mich diese Art von ornamentaler Ausschmückung gar nicht wirklich interessiert. Ich bin kein Erzähler, der in Ruhezeiten anderen etwas berichtet. Ich bin ein nervöser Mensch, der feststellt, dass sich in dem Maß einer Verletzung sämtliche Perspektiven und Horizonte verändern. Das muss ich treffen. In einem Bild, in einem Satz. Die meisten Geschichten, die ich schreibe, gehen über einen einzigen Satz.

zeit: Wer ist der wichtigste Mensch in Ihrem Leben?

Kluge: Die emotionale Haltung habe ich von meiner Mutter. Die wendet alles in der Welt in die friedensstiftende Richtung. Meine Mutter hat mir mal erzählt, sie habe beim Fahren einen Unfall gesehen und sei sofort stehen geblieben, damit sich das Unglück nicht wiederhole. Das ist richtig oder falsch. Aber ausprobierenswert. So denke ich.

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