Arbeitsbücher für die Phantasie

Von Annett Volmer | | Interviews

Gespräch mit Dr. Christian Schulte über "Fact & Fakes" Fernseh-Nachschriften von Alexander Kluge

Was verstehen Sie unter Facts & Fakes?
Christian Schulte: Facts & Fakes bezeichnet das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion. Im ganzen Werk von Alexander Kluge gibt es diese Grundorientierung. Der reine Dokumentarismus, der glaubt, die Wirklichkeit so aufzeichnen zu können, wie die Kamera sie vorfindet, also unbeteiligt, ist letztlich immer nur die Bestätigung der Wirklichkeit. Alles, was an dieser Wirklichkeit unerträglich ist, kann die Kamera gar nicht empfinden. Dazu bedarf es künstlerischer Eingriffe in das aufgezeichnete Material selbst. Das, was aus der Wirklichkeit herausgedrängt wird durch die normative Kraft des Faktischen, arbeitet im Bereich der Phantasie weiter. Daher ist Realismus immer auch auf die Fiktion angewiesen. Wenn Sie sich frühere Titel im Werk Kluges ansehen, finden Sie zahlreiche Entsprechungen zu Facts & Fakes: z.B. Geschichte und Eigensinn, Öffentlichkeit und Erfahrung oder News & Stories. Es geht immer um diese Polarität. Geschichte wird als etwas begriffen, was dem Einzelnen übermächtig gegenübertritt, der Eigensinn, die Wünsche, die subjektiven Gefühlsenergien von Menschen wehren sich dagegen. Das ist gemeint, wenn Kluge vom Antirealismus der Gefühle spricht.

Mit Kluges Sendung News & Stories sind wir beim Fernsehen angelangt. Die Publikationsreihe, die Sie gemeinsam mit Reinald Gußmann im Berliner Verlag Vorwerk 8 herausgeben, nennen Sie Fernseh-Nachschriften. Was ist damit gemeint?
Christian Schulte: Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Es geht darum, die Interviews, die Kluge in seinen Kulturmagazinen führt, lesbar zu machen. Dabei werden immer wieder auch neue Kontexte hergestellt, die in den Sendungen so gar nicht vorkommen. Das können neue Geschichten von Kluge sein, aber ebenso Texte anderer Autoren, Bilder, die in irgendeiner Weise mit dem Thema des Heftes korrespondieren. Es handelt sich um konsequente Fortschreibungen der Sendungen.

Welche Themenhefte sind bisher erschienen?
Christian Schulte: Das erste Heft ist dem Verbrechen gewidmet und enthält u.a. ein Gespräch mit dem Kriminalsoziologen Joachim Kersten. Das zweite Heft, ein Doppelheft, ist ein imaginärer Opernführer mit dem Titel "Herzblut trifft Kunstblut". Hier werden auf experimentelle Weise Möglichkeitsopern, also Opern, die es so noch nicht gibt, entworfen. Das letzte Heft ist im vergangenen Herbst erschienen und hat den Titel "Der Eiffelturm, King Kong und die weiße Frau". Die nächste Ausgabe wird eine Hommage an den verstorbenen Theatermacher Einar Schleef sein. In allen Heften gibt es immer ernsthafte, sachbezogene Gespräche, ebenso aber Dialoge, die eher grotesk sind mit Slapstick-Qualitäten. Eben jene Fakes mit Peter Berling, der als Gesprächspartner von Kluge in verschiedene Rollen schlüpft, z.B. als Manfred Pichota in die des Leibwächters von Adolf Hitler. Hier wird das Wahrscheinliche ad absurdum geführt und dem ganz und gar Unwahrscheinlichen Raum gegeben. Auf diese Weise wird das Zwerchfell ebenso angesprochen wie der Verstand.

Verblüffung ist also nach Kluge ein Weg der Erkenntnis?
Christian Schulte: Ja, die Texte, Filme, Bilder - und das ist ein Arbeitsideal von Kluge - müssen überraschend sein. Das Staunen über das Unerwartete wird als Produktivkraft genutzt.

Spielt das Staunen auch eine Rolle bei der Erkenntnis von aktuellen Zusammenhängen? Das letzte Heft "Der Eiffelturm, King Kong und die weiße Frau" evoziert doch in gewisser Weise den 11. September?
Christian Schulte: Indirekt jedenfalls, insofern die hier erzählten Geschichten ebenfalls von Anschlägen handeln. Es gibt ein Interview mit Ulrike Sprenger, das heißt "Super Heroes im Schock", in der die Trauer der amerikanischen Superhelden aus den neuesten Comics thematisiert wird. Alle berühmten Comiczeichner der USA haben sich in den vergangenen zwei Jahren mit diesem Thema auseinandergesetzt. Gleichzeitig wird die Ohnmacht dieser Superhelden ausgedrückt. Superman, Spiderman und wie sie alle heißen haben das Unglück vom 11. September nicht verhindern können. Und wenn die Kennzeichnung "Held" auf jemanden zutrifft, dann sind es die Feuerwehrleute, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Superhelden sind fiktive Figuren, in denen sich die reale Ohnmacht konkreter Menschen spiegelt. Wenn Menschenkraft allein nicht genügt, gibt es offenbar immer wieder dieses Bedürfnis, Superhelden zu erschaffen. Andererseits wachsen bei solch einem Ereignis wie dem 11. September ganz schlichte, einfache Menschen über sich hinaus.

Welche Idee steht hinter dem Heft? Wie verbinden sich der Eiffelturm, King Kong und die weiße Frau?
Christian Schulte: Das sind zwei sehr unterschiedliche Geschichten. Die eine, eine Comicphantasie der dreißiger Jahre handelt von der Entführung des Eiffelturms, der plötzlich über dem Grand Canyon wieder auftaucht, an einem Ort also, wo er gar nichts zu suchen hat. Durch Zauberkraft gelingt es, ihn wieder zurückzuholen. Ebensowenig hat in der anderen Geschichte King Kong in New York verloren, wohin er als Attraktion verschleppt wurde. Beide, der Eiffelturm wie der Riesenaffe, sind an einen falschen Ort geraten. Diese beiden Geschichten parallel zu erzählen, bekommt nach dem 11. September einen ganz neuen Aspekt, denn man assoziiert automatisch die Entführung der Flugzeuge, und die Ohnmacht der Menschen ähnelt zugleich der Ohnmacht King Kongs auf dem Empire-State-Building. Die Geschichten haben viele Sinnmomente: Wie geht die Zivilisation mit dem Fremden um, das sie nicht kontrollieren kann? Gerade bei King Kong gibt es ja die überraschende Wendung, daß er sich fast als menschlicher erweist als seine Verfolger, indem er die weiße Frau beschützt. Er verliebt sich in sie. Bindungen werden sichtbar. Paris trauert um den Eiffelturm, weil die Stadt ihre Mitte verloren hat. Die Idee besteht also darin, daß hier am Beispiel irrealer Vorgänge Befindlichkeiten und Sehnsüchte gespiegelt werden, die jedem Menschen vertraut sind. Beim Lesen sollen Phantasien in Gang gesetzt werden.

Wie sind die einzelnen Ausgaben gemacht? Was erwartet den Leser?
Christian Schulte: Im diesem Jahr sollen zwei Hefte erscheinen, wie gewohnt im großen Format, graphisch angelehnt an die Ästhetik der Kulturmagazine, das heißt in den dominierenden Farben schwarz, weiß und rot. Durch die Montage von Texten und Bildern sollen Auge und Verstand gleichermaßen angesprochen werden. Der Leser kann ganz nach dem Lustprinzip damit umgehen, wie er will. Es gibt keinen Sinnzwang. Die Hefte sind sozusagen Arbeitsbücher für die Phantasie.

Verbrechen. Facts & Fakes 1 - <alink>393091638X</alink>
Herzblut trifft Kunstblut. Facts & Fakes 2/3 - <alink>3930916428</alink>
Der Eiffelturm, King Kong und die weiße Frau. Facts & Fakes 4 - <alink>393091655X</alink>

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