Von Mülheim in die Welt - Diskussion über Politik-Mechanismen

Von Claus Leggewie + Alexander Kluge | Quelle Frankfurter Rundschau Online | | Gespräche

Ist die arabische Revolution eine echte Revolution? Bringt Leidenschaft den Menschen voran? Was tun mit dem Überangebot an Fakten? Politologe Claus Leggewie und Autor Alexander Kluge haben sich in München zu einem Gespräch getroffen.

Das Ergebnis haben sie der FR zur Verfügung gestellt:

Claus Leggewie: Es gibt eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen praktischer Politik und Schriftstellerei, dass nämlich beide Geschichten in einem künftigen Möglichkeitsraum entwerfen, die sich eventuell bewahrheiten und wirklich werden könnten.

Alexander Kluge: Das ist schon seit Herodot so. Die Erzählung, der Mythos ist das Wasser, in dem die Politik schwimmt. Wer politisch etwas verwirklichen will, muss seinen Plan erst einmal an der Theke eines Lokals in Mülheim an der Ruhr (dem Wohnsitz Helge Schneiders) ausbreiten können. Wenn er dort nicht plausibel wird, sollte er den Plan fallen lassen. Politik muss von unten nach oben erzählt werden.

Leggewie: Der Bundesumweltminister verlangt von seinen wissenschaftlichen Beratern nicht nur Zahlen, wie viel die Kilowattstunde Strom 2014 wahrscheinlich kosten wird, was ihm ja niemand so genau sagen kann, er will vor allem eine Geschichte, ein Narrativ, wie die Energiewende gelingen könnte. Die politischen Geschichten, die Sie in Ihrem neuen Buch „Das Bohren harter Bretter“ erfinden, sind genauso plausibel wie die, die Sie berichten.

Kluge: Weil ich mich als Schriftsteller einfühlen kann in eine wirkliche Welt, die Romane erzählt. Heinrich von Kleist, der in seinen Berliner Abendblättern das Boulevardprinzip erfunden hat, die Kunst des Fabulierens über Tagesdinge, war ein politischer Dichter. Politik und Gesetzgebung leiden oft unter der Schwäche der Abstraktion, an dem Mangel der Einbildungskraft, der einer Gesetzgebung zugrunde liegt. Dieser Mangel macht Gesetze unter dem Druck der Verhältnisse zur Ruine.

Leggewie: Berufspolitiker halten sich zugute, Wirklichkeit gestalten und formen zu können.

Kluge: Es gibt die Berufspolitik und das Politische, das in jedem von uns Menschen steckt. Dieses Politische ist nicht sogleich offen sichtbar. Wie das Erdöl in den Poren des Gesteins lagert, also nicht in großen Seen dort unten auf die Förderung wartet, findet sich das Politische mitten in der ganzen Person, äußert sich zwar stets, aber ist nicht professionell organisiert. Leider ist in der Evolution der „Berufspolitik“ von dieser Potenz nicht viel übrig geblieben.

Leggewie: Es fehlt die Leidenschaft, die Max Weber neben dem verantwortungsethisch fundierten Augenmaß als Wesensmerkmal der Politik erkannt hat. Sie fehlt nicht allein in den bürokratisch administrierten Prozessen, die mit Sachzwängen und Pfadabhängigkeiten argumentieren, sondern auch in der Variante deliberativer Debatte, die Jürgen Habermas als Form der vernünftigen Erörterung öffentlicher Angelegenheiten vorgeschlagen hat.

Kluge: Die Speerspitze der Ratio ist die Leidenschaft. Leidenschaftliche Menschen tun etwas zunächst nicht um der Sache willen, sondern jemand Anderem zuliebe. Aus dieser gewissen Freundlichkeit und Geselligkeit zieht Politik ihre stärkste Energie. Das heißt: Zum Homo sapiens gibt es stets Seitenlinien, für die wir keinen rechten Namen haben, wenn wir Leidenschaft nicht mit Pathologie gleichsetzen wollen. So ist der Mensch z.B. ein HOMO COMPENSATOR (Gleichgewichtler). Daher kommt das Augenmaß. Es ist nicht gleichgültig, sondern lebhaft auf Ausgleich bedacht. Rationale Politik ist das Derivat einer sechsfach verschlüsselten Leidenschaft.

Leggewie: In Arabien entpuppt sich diese Leidenschaft gerade. Für mich ist „Arabellion“ der aufregendste politische Akt seit langem. Was auch immer daraus wird, zwei populäre Vorurteile sind schon widerlegt – dass Islam sich grundsätzlich nicht mit Demokratie verträgt und zu Arabien nur die Autokratie passt.

Kluge: Das scheint eine echte Revolution zu sein. Revolution bedeutet in Frankreich, in China und in Ägypten sicher etwas Verschiedenes. In meinem Buch handelt ein ganzes Kapitel von dieser Verbindung. Es heißt „ein Gesumm von Seelenlampen. Jakobiner fliegen im Ballon zum Mond“. Mich haben die Vorgänge in Ägypten verblüfft. In diesem Land, auf das die Pyramiden mit der Gewalt von 4000 Jahren Vorgeschichte herabblicken, haben die Fellachen (die Bodenbearbeiter) nie selbst regiert. Stattdessen gab es immer eine Kaste von Bewaffneten, die herrschten. Und an Stelle der Bodenbearbeiter regierten. Das gilt für die Pharaonen, für Kleopatras Voreltern, für die Römer, die Araber und Marmelukken, die Khediven, die Briten und Napoleon. Nach dem Sturz des letzten Königs im 20. Jahrhundert stiegen zum ersten Mal Bauernsöhne aus dem Unteroffiziersstand in Form eines Militärrats auf, wie Nasser, Sadat und Mubarak. Aber die Arbeitsteilung zwischen Herrschaft und arbeitender Bevölkerung war gleich. Und das scheint sich massiv zu ändern.

Leggewie: Auf dem Tahrir-Platz haben junge Männer und Frauen die Geschichte selbst gemacht…

Kluge: Das ist neu. Auch die Französische Revolution hat übrigens auf öffentlichen Plätzen stattgefunden. Es geht da um einen besonderen Typ der Revolution, die sich im Zentrum, d.h. in der Hauptstadt äußert. Daher das Argusauge, mit dem die chinesische Führung aufgrund der Ereignisse im Maghreb den Tiananmen-Platz betrachtete. Dort fand zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution, 1989, eine solche vom Zentrum ausgehende revolutionäre Bewegung statt. Die Beobachtung zeigt aber (und Mao Tse Tung würde das so annehmen), dass Revolutionen gleichzeitig auch von der Peripherie ausgehen müssen, wenn sie nachhaltigen Erfolg haben sollen. Manche gehen überhaupt von den Rändern aus. In China findet alle 500 Jahre ein Bauernaufstand statt, dessen Führer dann der neue Kaiser wird, wie bei Gründung der Ming-Dynastie.

Leggewie: China ist auch heute nicht so stabil, wie es unseren Industriellen und Diplomaten erscheint. Dort finden mit die häufigsten Protestereignisse pro Kopf der Bevölkerung statt.

Kluge: Die tunesische Revolution ging in der Peripherie aus. Vom Selbstopfer eines Einzelnen.

Leggewie: Mir ist berichtet worden, wie stolz die Tunesier waren, als Slogans, die man im Maghreb vorher kaum verstanden hätte, in Kairo nachskandiert wurden.

Kluge: Genau bei so etwas setzt die politische Phantasie eines literarischen Autors an. Denke ich an Tunis, so will ich auch die Geschichte des dreimal untergegangenen Karthago forterzählen. Die in der Geschichte verborgenen Bilder gehören zum aktuellen Ereignis. Ohne dass man es beweisen kann, sind einige davon stets präsent. Um davon zu erzählen, muss man sich nicht an die Hauptpersonen des Dramas halten, sondern an scheinbare Nebenpersonen. „Ad unum omnes“, der lateinische Satz, der in der Antike die vollständige Vernichtung einer Truppe bezeichnete, bedeutet: alle sind untergegangen bis auf einen, und der erzählt davon. So müsste man, um über Ägypten aus der Ferne etwas zu erzählen, vielleicht mit der Geschichte vom unehelichen Sohn beginnen, den Napoleon in Alexandria hinterließ. Oft kommt man damit der historischen Wirklichkeit näher als wir ahnen. Kürzlich habe ich in einem Film einen Stenografen Hitlers beschrieben, der an dessen letztem Tag, am 30. April 1945, alle Ereignisse im Bunker in der Geschwindschrift von Stolze-Schrey mitgeschrieben hat. Das war Fiktion, von einem Darsteller gespielt. In der Woche nach Sendung des Films meldete sich ein erfahrener Experte der Stenografie, fragte nach dem Realitätsgehalt und berichtete, dass tatsächlich ein Reichstagsstenograf auch noch die letzten Gespräche Hitlers aufgenommen habe, allerdings ein Mann mit einem anderen als dem in meinem Film angegebenen Namen. Seit 1942 wurden tatsächlich alle Lagebesprechungen Hitlers mitstenografiert.

Leggewie: Geschichte im Konjunktiv und Zukunft im Optativ. Robert Musil hat diesbezüglich vom Möglichkeitssinn gesprochen. Ich glaube, dass Politik, die so oft von Durchschnitten, von Regelmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten ausgeht, also probabilistisch denkt, viel stärker Möglichkeiten in Betracht ziehen muss. Und damit meine ich nicht nur eine Katastrophe wie in Tschernobyl oder Fukushima, sondern auch die „fantastischen“ Möglichkeiten einer anderen Welt, die exakt nach einer solchen Zäsur „urplötzlich“ vorhanden sind. Die arabische Revolution ruft uns in Erinnerung, wie Hannah Arendt das Politische definiert hat, als „Anfangenkönnen“, oder was Christian Meier das im 6. Jahrhundert v. Chr. in der antiken Polis entstandene „Könnensbewusstsein“ der Griechen genannt hat.

Kluge: Neues entstand nicht in den Megastädten Mesopotamiens, dort war Wüste und Statik, sondern auf den insularen Seeräubersiedlungen Griechenlands, wo alle ihre Individualität ausprägen konnten. Auf diesen Korallenriffen konnten die Egoismen zusammenschießen.

Leggewie: Solche Synergien verteilter Intelligenz – das ist ja der wesentliche Vorzug der Demokratien – bräuchten wir für den Aufbau einer nachhaltigen Ökonomie und Infrastruktur, die weltweit synchron entstehen muss, bevor der Klimawandel und der Verfall der biologischen Vielfalt ihre gefährlichen Kipppunkte erreichen. Einen Planungsstaat als Steuerungszentrum, wie einst für die „Ponts & Chaussées“ der französischen Monarchie oder die Kameralistik, gibt es ja nicht.

Kluge: Steuerung muss nicht groß sein. Es kommt auf eine schlanke Navigationstechnik an. Anstöße sind genug. Diktate wären kontraproduktiv. Max Weber hätte für das Bohren harter Bretter sich um 1918 noch einen Befehlshaber wie den General von Seeckt oder einen autoritären Industriellen wie Hugenberg vorstellen können. Heute zählt kapillarische Netzwerksteuerung. Die Trasse über Benghazi ist jetzt frei…

Leggewie: Sie meinen für Desertec, das Solarstromprojekt, das unter demokratischen Verhältnisse ein eurabisches Entwicklungsprojekt auf Augenhöhe werden kann…

Kluge: … ein Projekt, an dem schon jetzt Abteilungen der Deutschen Bank und Entwicklungsstäbe von Ingenieuren an der Planung zusammenarbeiten. Hier entsteht eine „Plantage der Innovation“. Der Begriff der Wüste wandelt sich, wenn sie der Acker für Sonnenenergie wird. Man sieht: nicht die Poeten, sondern die Wirklichkeit zeigt die luxurierenden Möglichkeiten. Solche Projekte müssen kommunikativ ausgemalt und begleitet werden. Der Erfolg von Desertec braucht Metaphern, die die Emotionen bewegen, nicht nur die Kennziffern der Planwirtschaft. Es geht um Lebensläufe und urplötzliche Karrieren. Ich schreibe gerade eine Geschichte, in Anlehnung an Arno Schmidt, dass sich Karl May bei seiner einzigen Orientreise, die er wirklich unternommen hat, in einem Grand Hotel in Persien bei dem durchreisenden britischen Vizekönig von Indien, Lord Curzon, anmelden ließ, um Wasserbauprojekte zu verhandeln. Er meldete sich als Dr. h.c. Karl May an, wurde aber von Lord Curzon nicht vorgelassen. Politik und Roman suchen ihre Nähe, aber manchmal gelingt es nur beinahe.

Leggewie: Wir vertrauen in unserem Gutachten auf „Agenten des Wandels“, die es zuhauf in unseren Gesellschaften gibt, die sich aber selbst nicht für wirksam genug halten und keine dicken Bretter bohren wollen.

Kluge: Dabei muss man sie aus ihrer vermeintlichen Naivität herausholen. Bei mir um die Ecke gab es eine grasbestandene Fläche zwischen Trottoir und Asphalt, die zu einer Hundewiese verkommen war. Freiwillige aus einer Jugendorganisation haben dort Blumengärten angelegt. Sie waren so sorgfältig, die sechs Ladenbesitzer an dieser Straßenstrecke dafür zu gewinnen, auf die Beete aufzupassen. Mikroskopisch gesehen ist das ein kleines Gemeinwesen, lebendige Politik. Auch bei großen Vorhaben muss zur Chirurgie eine gute Dosis politischer Homöopathie hinzu treten.

Leggewie: Leider fehlt es den meisten Bürgern an Instrumenten gelebter Demokratie, ihnen bleibt die gefühlte Partizipation vor dem Fernseher, bei der Talkshow.

Kluge: Günter Gaus hat mich gelehrt, dass die Kritik an den Medien nicht an dem Unterschied ihrer verschiedenen Qualität ansetzen sollte, sondern an dem elementaren Unterschied zwischen unmittelbarer Erfahrung (wie im Leben) und mittelbarer Erfahrung (in den Medien). Vertrauen können wir, sagt er, nur den Tatsachen und unseren Reaktionen darauf, die wir direkt erleben. Der Anteil an solcher unmittelbaren Erfahrung hat sich bei uns gegenüber den Lebensläufen unserer Vorfahren drastisch vermindert. Das Politische, das in jedem Menschen steckt, lebt aber von dieser unmittelbaren Erfahrung. Die „gefühlte Partizipation vor dem Fernseher“ überdeckt die lebendige Erfahrung wie die Lavaschicht in Herculaneum und Pompeji. Wir brauchen für lebendige Demokratie deshalb vor allem eine Emanzipation der Nachrichten. Sie müssen nicht verlautbart, sondern erzählt werden. Dafür brauchen sie mehr Gefäße als wir sie in den Medien besitzen. Sie müssen nicht um das Prinzip Talkshow ergänzt werden, sondern um das Prinzip, wie an der Theke in Mülheim sich Menschen direkt über Nachrichten unterhalten. Ich schlage nicht vor, so zu reden, sondern den kreisförmigen Dialog, der die Themen „erörtert“, zu beobachten. Die Rede ist dort manchmal kürzer als eine Meldung in der Tagesschau, Einwurf, Zuruf, Schweigen, andererseits extrem viel länger und klüger als ein Brennpunkt. Daran können sich Poeten (die Kleist kennen) gut orientieren. Aber auch Journalisten können das.

Leggewie: Man kann fragen: Wie macht man eine Nachricht vom Tage lebendiger? Was ist das Gefäß für eine Nachricht in einer Wochenzeitung? Würde ich mir gerne die Fünf-Jahres-Edition einer Wochenzeitung kaufen und so den Rohstoff für eine hochinteressante Chronik bekommen? Könnte ich Nachrichten leichter einordnen, wenn ich eine Übersicht hätte…

Kluge: … z. B. eine Zehn-Jahres-Chronik, die vom Kopfschuss auf Bin Laden zu den Türmen in New York zurückreicht, also von 2011 nach 2001? Wo wird etwas in Zwiesprache und als Zusammenhang erzählt? Wenn doch in den Lebensläufen der Menschen diese Erzählweise die Realität bildet!

Leggewie: Das Politische und das Erzählen bedingen einander.

Kluge: Würden Nachrichten vielfältiger, wenn wir junge Blogger mit TV-Kameras hätten, die zu den Brennpunkten der Welt wie früher die Reisenden tatsächlich hinfahren und Bewegtbild nach Hause bringen, das dann erfahrenen Auslandskorrespondenten (für die in den Sendern und in den Blättern immer zu wenig Platz ist) gründlich kommentiert wird. Das wären Komponenten für „Gärten der Information“. Was an Überfülle gesammelter Tatsachen von selbst entsteht, bildet zunächst eine Wüste, eine „übermächtige zweite Natur“. Das Überangebot von Fakten in der Welt, von Meldungen in den Medien und von Information im Netz, provoziert eine Abwehrbewegung in den Menschen: gib mir einen Grund, das Zuviel davon abzuwählen, und ich kann mich in der Welt bewegen. Was wir brauchen und bauen könnten, ist Vielfalt. Sie entsteht dadurch, dass sich zunächst die wichtigen Tatsachen nicht gegenseitig erschlagen, wie im März dieses Jahres, sondern dass sie einander nebeneinander dulden. Das ist das, was erzählen heißt. Insofern gehört das Poetische zu den Lebensmitteln, von denen das Politische sich nährt.

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