Der Originalton der Geschichten

Von Christian Thomas | Quelle www.fr-online.de | | Rezensionen

Alexander Kluge rekonstruiert mit dem „30. April 45“ den „letzten ausgeübten Werktag“ des Deutschen Reichs. Deutschland wird in dem Buch noch einmal zu einem Trümmergrundstück, von der Gedächtnisarbeit durchstöbert, die zahllose Geschichten aufliest.

Weiterhin ist vieles liegengeblieben seit diesem Tag, an dem der 13-Jährige in den Trümmern seiner Stadt stand, seit dem 30. April 1945, in den Ruinen von Halberstadt. Verstreutes galt es zu sichern, schon das ein Kraftakt. Vernachlässigtes gehörte noch einmal erzählt, Verabsäumtes vergegenwärtigt. Nicht abgestorben das Material.

Seit seinen Prosaanfängen, zu Beginn der 1960er Jahre, hat Alexander Kluge in Geschichten die Geschichte noch einmal aufgesucht. Wenn es nun zu einem weiteren Anlauf kommt, dann macht der 82-Jährige klar, dass sich die Aufarbeitung eben nicht ad acta legen lässt. Und so steht in seinem Buch „30. April 1945“ das „Ich“, der Erzähler, erneut in der Kleinstadt Halberstadt, der Heimatstadt im östlichen Harzvorland. Deutschland wird in dem Buch noch einmal zu einem Trümmergrundstück, von der Gedächtnisarbeit durchstöbert, die zahllose Geschichten aufliest, Szenen, Fragmente, es sind Bruchstücke, in denen es zu einem Nachbeben der Vergangenheit kommt.

Das Buch, als Held der Erinnerung, inspiziert kaum die Front, aber es zeigt, dass die feindlichen Linien das Reich überzogen wie ein Netzwerk. An diesem „Bilanztag“ verläuft die Front auch durch Familien. 30. April 1945 – wie so oft hieß es dazu, dass der Krieg in den letzten Zügen gelegen habe. Wie oft hat man schon derart vorgefertigtes Sprachmaterial gehört, wie inständig wurde gedankenlos übernommenes Gedankenmaterial kolportiert. Kluge, einen enorm trivialen Satz verwendend, einen Seufzer, aus dem die (totale) Verausgabung spricht, lässt die Banalität des Monströsen aufblitzen: „Es ist schon spät im Krieg.“

Erneut ist Kluge ein Stichwortgeber durchdringender Einsichten, wenn er schreibt: „Man muss nämlich unterscheiden zwischen der unwirklichen Realität, in der wir leben, und dem Originalton der VERLORENEN GESCHICHTE, die sich ungewöhnlich und erhaben äußert.“ Zu den ungewöhnlichen Äußerungen gehören die in das Buch eingestreuten Episoden Reinhard Jirgls, insgesamt sechs Zwischenfälle, darin der „Originalton“ des Dritten Reichs als gespenstisches Erbe. Allein schon Jirgls Rechtschreibreform lässt auf die alten Wörter verstört blicken: Derkrieg, Lieb=Haber, ehe Mann, gegen:seitig, Dassterben. Jirgl visualisiert die Silberrunen der SS an den Kragenspiegeln, er zeigt, dass die Sprache ein ungeheurer Verdrängungskomplex ist ebenso wie eine verletzende Vergegenwärtigungsoffensive.

Der 30. April 1945, der Tag, an dem Hitler sich erschoss, war ein Montag, angekündigt wird er mit dem Buch(-Umschlag) als „letzter ausgeübter Werktag des Deutschen Reiches“. Wie so viele Umschreibungen gibt auch diese ein schillerndes Bild ab, etwas Zweideutiges. Zum Zweideutig-Zwielichtigen dieser Übertragung gehört, dass das Dritte Reich, diese singuläre Tötungsmaschinerie, in den Tagen nach dem 30. April ja nicht etwa Feiertag machte, vielmehr noch bis zum 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation, Sonderschichten fuhr.

Alexander Kluge: 30. April 1945. Suhrkamp Verlag 2014, 316 Seiten, 24,95 Euro. 

Selbstverständlich weiß Kluge das. Wie kaum ein zweiter Erzähler hat er in Episoden (eigentlich Anekdoten) den totalitären Anspruch auf Widersinn in der Geschichte anschaulich und begreifbar zu machen versucht. Das, was die empiriegesättigten Fiktionen dem Leser zu sagen haben, könnte häufig kaum lakonischer sein: „Nach wie vor keine Schule. Dennoch Arbeitstag.“ An einem solchen Werktag schneiden fünf Jugendliche aus den Sitzen nicht fertiggestellter Jagdbomber breite Lederlappen heraus („Raubgut ohne Gebrauchswert“), wird ein Werwolf mit einem Hammer erschlagen, kann kein Arzt gegen die „aktuellen Vergewaltigungen in Berlin helfen“, nutzt ein Kindermädchen in Zürich die „freie Zeit“ im Kino, wird nördlich von Hannover eine „Pferdeherde von hoher Qualität“ vor dem Militäreinsatz gerettet, verliert eine Mutter auf dem Flüchtlingstreck ihre Kinder – von gleichem Rang sind die Geschichten.

Der Ausnahmezustand führt vieles mit sich, vor allem einen Schwebezustand (dazu gehört eine Abschweifung in Richtung Walpurgisnacht). Der Mangel an Normalität sorgt für eine schauerliche Überproduktion an Notwehr. „Schlachtbeschreibung“, so nannte Kluge seinen Abschied vom (eventuell-)gestrigen Erzählen, 1964 war das. Dadurch, dass Kluge nicht zu erzählen scheint, dadurch, dass der Erzähler wieder einmal hinter das Material zurückzutreten scheint, spricht das Faktische umso krasser.

Weites Feld der Versatzstücke

Auch dieses Buch ist ein weites Feld der Versatzstücke. In seiner Mitte kommt es zu einer hohen Konzentration an Ereignissen aus dem amerikanisch besetzten Halberstadt. Hastig werden die Dinge geordnet, auch die Liebe vollzogen – pointiert wird die Affäre zwischen einer Deutschen und einem GI zu den Anfängen der Westbindung gezählt.

Zukunft ist in den Tagen rund um den 30. April auf Ration gesetzt. Wohin denn mit der kopflosen Flucht? Sicherheit ist an diesem Tag eine knappe Ressource. In den Rückblick mischt sich die bittere Reminiszenz, dass der Brocken, in Kindertagen oft zu sehen, ein Leben lang für den Erzähler (Kluge) der ferne Berg geblieben ist, niemals erwandert.

Im Nachwort des Buches berichtet Kluge von seinen Schwierigkeiten, von seiner „Schreibblockade“, im bayerischen Elmau, in einer Art Grand Hotel Alpengrund, vor einem grandiosen Bergpanorama. Zermürbt hat den Autor die Materialbasis, die literarische Organisation des Disparaten, ganz praktisch das ästhetische Arrangement eines Schwebezustands. Schließlich aber der Satz: „Nachmittags kommt meine Frau. Endlich Durchbruch.“ Seltsam: Meine Frau, Durchbruch. Kluge weiß, was er tut, zumal in diesem in seiner fragmentarischen Form dermaßen ambitionierten Buch.

Darin hat Hitler an dem Tag, an dem er sich erschoss, kein Rederecht, allenfalls der Organisator seines Kalenders (der Kalenderführer, wenn man so will), der die Untaten auf die Agenda setzte, darunter Morde in Hitlers Verwandtschaft. Die umkämpften Kommandostellen in Berlin zeigt Kluge als stahlbetonharte Gehäuse des Wahns.

Grab eines gefallenen amerikanischen Soldaten in der Normandie. Foto: X80002

Gehört doch zur letzten Hirngespinstoffensive des Reichspropagandaministers, dass ein Spezialist eine Telefonleitung zur Roten Armee herstellen soll, um den Kontakt für einen „Verhandlungsfrieden“ zu erwirken. Auch dieser Kommunikationsspezialist zählt zum Ich-Personal in diesen Geschichten, ähnlich wie der Batteriechef oder der schwule Berufsoffizier, als Zeugen aus erster Hand, als Gewährsleute des Authentischen, obwohl es natürlich damit so eine Sache ist, ist sie doch eine Konstruktion. Das gilt für den HJ-Gebietsführer oder den Bataillonsarzt, einen ewigen Nationalsozialisten (die rechte Hand des Chefs des Bundeskriminalamts, Horst Herold), womit Kluge die Vergangenheit in die Gegenwart der Bundesrepublik überführt.

Zusammengedrängt in dem Buch ist so etwas wie die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit. Zum 30. April 1945 gehören die Vorgeschichte der UN, eine internationale Arbeiterkonferenz in den USA, ein antibolschewistisches Intermezzo in Prag oder Bert Brechts Bemühungen, das Kommunistische Manifest in Hexameterform zu verfassen. Und wenn Martin Heidegger ins Gebirge steigt, um sich in Ablenkungen zu versteigen, dann ist das Kapitel von Sarkasmus durchwirkt.

Dass die „Zwischenzeit“ als „Achsenzeit“ aktuell fortwirkt bis in die Gegenwart, blitzt nicht nur einmal auf, schrill gewiss in der Reklamation des Requisiteurs an der Berliner Volksbühne. Denn führen die NS-Requisiten, die das Regietheater eifrig nutzt, nicht ein unheimliches Eigenleben?

Kein Mensch, heißt es in der Vorrede, hatte an diesem Tag „einen Überblick über das Ganze“. Wie auch, im letzten Kapitel, in dem es schließlich um verschiedene Formen, Rituale, auch historische Vorbilder der Kapitulation geht, folgen auf das Kapitel im westfälischen Paderborn unmittelbar die Vorgänge im bayerischen Eitting. In einem Kaleidoskop macht Kluge deutlich, dass sich in der Kapitulation, die dem Besiegten die Chance auf ein zweites Leben abspricht, das Racheprinzip über das Rechtsprinzip erhebt. Auch Kluges britischer Oberbefehlshaber wollte „eine möglichst große Zahl von Soldaten vor den Knien des Siegers sehen“ – aber es machen die Kapitulationssitten der Westalliierten die Westbindung plausibel.

Erneut hat Kluge in den Versatzstücken subjektiver Wahrnehmung(ssplitter) die Totalität von Umsturzverhältnissen rekonstruiert. Dieses Bruchstückverfahren hat sich schon deswegen nicht überlebt, weil die Geschichte sich nicht überlebt hat. In einem grandiosen Buch zeigt sich, um was für ein Überlebendes es sich beim 30. April 1945 handelt.

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