Der lange Marsch des Urvertrauens

Von Andrea Köhler | Quelle NEUE ZÜRCHER ZEITUNG vom 16. Dezember 2000 | | Rezensionen

Die Gefühle sind Partisanen, die Subjektivität ist unbestechlicher als die Vernunft. Was Alexander Kluge den "langen Marsch des Urvertrauens" nennt, gibt Anlass zur Hoffnung, auch wenn das, was wir die Wirklichkeit nennen, es nicht gut mit uns meint. Kluges Erzählungen von den kleinen und grossen Katastrophen von heute zurück bis zu Gilgamesch sind aber vor allem eins: ein grosses Prosawerk über das, was sich durch die Zeitabläufe allein nicht ändert: das Inventar, mit dem wir uns orientieren - die Macht der Gefühle.

Er hatte sein Blut im Reagenzglas gesehen. Wie Honig zäh. Das ist, sagte der Internist, die Cholesterinmasse. "Träge, sirupartig, fliesst es Ihnen durch die Adern. Es dringt zu den Kapillaren gar nicht vor." Der Arzt liebt es, den Patienten Proben ihrer Innereien vorzulegen. Er will ihre Abhängigkeit von seinem Wissen verstärken. Tatsächlich kehren sie wie Süchtige in seine Praxis zurück. Ein Manager beispielsweise kann sich schnelle Entschlüsse, wie sie von ihm erwartet werden, nur denken, wenn sein Blut rasch und rosa wie Himbeersaft fliesst. Er wolle, sagt er, "streng flaches Blut" haben. Da es das in der Natur nicht gibt, legt ihm der Arzt keine Probe seines regenerierten, verflüssigten Blutes vor. Der Mann würde an die Gesundung nicht glauben. Was ist schliesslich die Skala der Werte gegen die Macht der Gefühle? Nirgends bilden Geschichte und Eigensinn, Plasma und Phantasma eine stabilere Liaison als bei dem Körper und seinen Säften. "Blut wie Sprudel" hat Alexander Kluge diese kleine Erzählung, eine von vielen Hunderten auf über zweitausend Seiten, genannt, nach einem Motto von Puschkin, das dieser Parabel über den imaginären Trotz vorangestellt ist: "Wie ein Quell musste es sprudeln. Sowie Ideen sprudeln, befindet sich einer in guter Gesellschaft. Dazu müsste ich, sagte der Arzt, Ihre Halsschlagader anstechen; ein breiter Längsschnitt - dann sehen Sie es sprudeln. Der Patient lachte." Was ist das, was durch unsere Adern fliesst, und woher rührt die Kraft unserer Vorstellungen? Wie ist es um das Verhältnis von Blut und Ideen, Staats- und Seelenhaushalt, Vernunft und Erregung bestellt? Und wer ist der Arzt in dieser monumentalen Studie, wer der Patient? Dass die Ideen nur so sprudeln, belegt schon der Umfang. Alexander Kluges Operation an der Halsschlagader der Gesellschaft aber besteht aus lauter kleinen scharfen Schnitten. Es geht um das, was wir häufig nicht wissen, aber sofort verstehen. Zum Beispiel: Warum der Patient lacht.

PARALLELUNIVERSUM

"Nordweststurm über Berlin. Kurze, schnell dahinfliegende Wolken rhythmisieren die Bewegung des Mondes. Simon Weigel, Unternehmer der Gruppe Zentrum Bau S. A., die am folgenden Tag zusammenbrach, er starb 14 Tage darauf, besass, als er den dramatischen Himmel von seinem Fahrzeug aus betrachtete, von diesem Ausgang seines Lebens keine Gewissheit." Über der Stadt aber erscheint das Wetter "gewissermassen als Parade", da viele Seelen diesen Sturm spüren und er "wie durch einen Scheinwerfer, durch Empfindung angeleuchtet wird". So beginnt, mit deutlicher Referenz an den "Mann ohne Eigenschaften", ein meteorologisch- poetisches Gesamtkunstwerk, das nichts Geringeres zu unternehmen sich anschickt, als die Grosswetterlage der Gefühle vom Jahr 2000 bis zurück zu Gilgamesch zu verfolgen. Und wie Musils monumentaler Roman entwirft dieses Buch einen Kosmos oder besser: ein anekdotisches Kalendarium über das Paralleluniversum aus jenen geschichtsmächtigen Kräften, die aus der offiziellenHistoriographie weitgehend ausgeklammert bleiben - die individuellen Gefühle. Sie sind die Trägerstoffe der Institutionen, sie stecken in den Zwängen und Zufällen, sie bewegen sich "bis in die Galaxien" und werden von himmlischen Mächten, von Sonne, Mond und Regen gelenkt. Sie sind der oberste Feldherr im Krieg, sie diktieren die Strategien der Intimität. Sie sind, wie der Zeitpunkt unseres Todes, unbestimmbar, abrufbar, allgegenwärtig, der Sturm, den wir alle spüren.

UNGLEICHZEITIGKEIT

Am Sonntag, dem 8. 4. 1945, es läuft soeben die Matineevorstellung des Spielfilms "Heimkehr", schlägt eine Sprengbombe in das KinoCapitol zu Halberstadt ein. Das Haus ist verwüstet, Frau Schrader, die Kassiererin, wird bei diesem Einschlag in eine Ecke geschleudert, aber nicht verletzt; sie macht sich sogleich daran, "die Trümmer bis zur 14-Uhr-Vorstellung zu räumen". Als sie später nach einem Gang durch die zerstörte Stadt zum Lichtspieltheater zurückkehrt, hat sie Soldaten dabei, die ihr beim Eindringen in den Kellergang helfen. Dort liegen etwa sechs Besucher der Matinee. Die Heizungsrohre waren zerrissen und hatten die Toten mit einem Strahl Heizungswasser übergossen. Frau Schrader "wollte wenigstens hier Ordnung schaffen, legte die gekochten und - entweder durch diesen Vorgang oder schon durch die Sprengwirkung - unzusammenhängenden Körperteile in die Waschkessel der Waschküche. Sie wollte an irgendeiner verantwortlichen Stelle Meldung erstatten, fand aber den Abend über niemand, der eine Meldung entgegennahm." Frau Schrader fühlt sich "zu nichts mehr nutze". Gefühle haben ihre eigene Zeit. Die Geschichte "Der Luftangriff auf Halberstadt" stammt aus dem Band "Unheimlichkeit der Zeit", den Alexander Kluge im Jahre 1977 veröffentlichte; er ist, wie die "Schlacht-beschreibung" von 1964, wie die "Lebensläufe" (1962) und "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang" (1973), in die "Chronik der Gefühle" eingefügt worden. Wir haben es also mit einem gemischten Ensemble aus alten und neuen Texten zu tun - die Hälfte ist nach 89 entstanden, in jener Schwellenzeit, als die alten Gefühle und die neuen Verhältnisse kollidierten. "Basisgeschichten" ist der neu verfasste erste Teil überschrieben; die früheren Schriften wurden grossenteils überarbeitet. Aus fundamentalen Etappen freilich besteht das gesamte Werk - man könnte es daher selbst als eine Art Basisgeschichte der Deutschen bezeichnen. Kluge erzählt nicht von romantischen Herzensdingen und der donnernden Macht desSchicksals, sondern von Katastrophen und Kontingenz. Unglück und Seligkeit, Leidenschaft, Wut und Verzweiflung kommen in ihrer reinen Operntauglichkeit so gut wie gar nicht vor (wenn auch die Oper ausführlich vorkommt). Doch sind es die in der Tiefe wirksamen seelischen Energien, die diese Episoden und Anekdoten, Protokolle und Kurznovellen zu einem Kontinuum fügen, dessen Masseinheit - die Chronologie - nur die oberste Schicht der Ereignisse fasst. "Die Zeit ist nicht gutmütig" und die Ungleichzeitigkeit des Gefühls, das mitunter erst nachJahrzehnten ein Ereignis wie den Luftangriff realisiert, ist für die Deutschen - wie W. G. Sebald in seiner Zürcher Poetikvorlesung über "Luftkrieg und Literatur" ausführt - ein nicht zum Versiegen gekommener Strom psychischer Energie, dessen Quelle das von allen gehütete Geheimnis "der in die Grundfesten unseres Staates eingemauerten Leichen ist". Die Überlebenden schweigen, aber die Toten reden, sie flüstern und lärmen in unseren Körpern, und die Geheimnisse, die sie weitererzählen, sind, ob deutsch, russisch oder japanisch, der Bodensatz der Geschichte, das Fundament der Gesellschaft. Die Botschaften, die wir ungefragt erben und ungewollt weitergeben, die Traditionen der toten Geschlechter in unseren Köpfen, machen den Kern unsrer Gewohnheiten und Gebräuche aus. Davon erzählt dieses Buch.

SUBJEKTIVE ORIENTIERUNG

Die subjektive Orientierung ist die Klammer, die diese Enzyklopädie der Erregungszustände zusammenhält, und wenn Kluge Kants Grundfragen in anthropologischer Hinsicht neu formuliert, ist dies keine Koketterie, sondern ein durchgeführtes Programm: Worauf kann ich vertrauen?Wie kann ich mich schützen? Was muss ich fürchten? Unsystematische Neugier ist keine schlechte Navigationshilfe durch diese Chronik, deren Chronologie - in umgekehrter Reihenfolge, in der die Geschichten entstanden - sich gleichfalls aus einem mehr oder weniger subjektiven Ordnungsgefüge ergibt. "So funktioniert auch Erinnerung."
Doch täuscht sich natürlich, wer meint, dass die Gegenwart aufhört, wo die Vergangenheit anfängt: Das Gefühl "fügt den Ereignissen bis zu 6000 Jahre hinzu". Insofern sind all diese wahren, halbwahren und fiktiven Erzählungen eine unendliche Geschichte über das Eigentum, das ein jeder besitzt: seine Lebenszeit und seine Libido. Die Frage, inwieweit der Mensch über beides verfügt, steckt den Horizont ab für ein ebenso beispielloses wie anmassendes, ein so komisches wie bewegendes Unterfangen: die Erfindung der Wirklichkeit. Der Jurist, Theoretiker, Filmemacher und Produzent Alexander Kluge ist auch ein subtiler Stilist.
Genauigkeit, Scharfsinn und Phantasie, Einfühlungsgabe und Kälte sind das Rüstzeug, mit dem der Autor seine Geschichten baut, und da er die Zweideutigkeit des Gefühls nie an die schnelle Pointe verrät, kommt er dem ambivalenten Urgrund all unserer Handlungen und Entscheidungen ziemlich nahe. Die Belustigung, die sich oft aus der Unangemessenheit der Reaktionen ergibt, ist dem Erzähler kein geheimer Triumph, sondern der Effekt seiner lakonischen Ökonomie. Indem Kluge sich jeglicher Wertung enthält und die Moral der Geschicht' dem vielstimmigen Chor der Wahrheit opfert, traut er auch dem Leser viel Ironie und Eigensinn zu.
Was geschieht im Innern der Menschen, wenn grosse Reiche zusammenbrechen? Was ist der Unterschied zwischen Zank und Streit? Wie erwirbt man Bestimmtheit? Was ist ein Leninist des Gefühls, was der 18. Brumaire der Empfindung? Wie vermeidet man am frühen Morgen Zusagen? Kann man Rücksichtslosigkeit trainieren? Und wie viele Personen reden mit, wenn zwei sich streiten? Kluge schlüpft in viele Gewänder und Rollen, er erzählt in der Ich-Form und protokolliert Gespräche, doch meint man stets seine helle, singende Stimme zwischen den Zeilen zu hören; es ist eben doch, bei aller Vielgestaltigkeit der Geschichten, sein ganz eigener Tonfall, der diese Erzählungen prägt. Nur Heiner Müller, sein jahrelanger Freund und intellektueller Begleiter, redet ein deutliches Wörtchen mit. Ob Kluge die "Verfallserscheinungen der Macht" bei einem Betriebsfest am Nikolaustag 89 darstellt oder die mitstreitenden Elternteile bei einem Ehezwist ausmacht, ob er die Geschichte eines Zuchtexperiments zwischen Affe und Mensch erfindet oder den toten Vater im bissigen Hund erkennt, ob er Heidegger auf der Krim aufmarschieren lässt oder Hitlers Tischgespräche belauscht - mit wenigen Strichen ist ein Lebenslauf skizziert, ein Unglücksstrang blossgelegt, ein Schicksalspaket geschnürt. Die Konzentration aufs Wesentliche, das gemeinhin das Unwichtige genannt wird, der unsentimentale Sinn für Komik und Schrecken, der flinke Zugriff und die Präzision verräterischer Details dienen dem umstandslosen Herauspräparieren der inneren Logik vonInstitutionen, von Bürokratie, Militär oder Familie: ihrem Irrwitz. Während der Chronist in seinen frühen "Schlachtbeschreibungen" Hebels Kalendergeschichten im Geiste der Frankfurter Schule weitererzählt, denkt man bei den "Basisgeschichten" und "Lebensläufen" zuerst an die grossen und kleinen Dramen, die uns täglich in der Rubrik "Vermischtes" geboten werden. Nur dass Kluge nicht den Ausgang, sondern den Hergang, nicht die Umstände, aber ihre innere Dynamik darstellt. Dazu gehört, dass er Fakten erfindet und Dokumente manipuliert. Und doch hat mitunter gerade das historische Material, wie beispielsweise der Heeresbericht von Stalingrad, den Charakter einer phantastischen Erzählung. Wo im Wehrmachtsprotokoll die stereotypen Wendungen vom "erbitterten Kampf" und dem "leuchtenden Vorbild heroischen deutschen Soldatentums" tiefe Zweifel am ununterbrochen beschworenen Sieg verraten, nistet deutlich die grelle Angst um Haut, Herz und Hirn. Die Dokumente verraten in der historischen Distanz häufig das, was sie zu verschweigen suchen. Wer in Stalingrad etwas sah, schreibt Kluge in einer Anmerkung, "wer Aktenvermerke schrieb, Nachrichten durchgab, Quellen schuf, stützte sich auf etwas, was zwei Augen sehen können". Ein Unglück, das eine Maschinerie von 300 000 Männern betrifft, sei dokumentarisch nicht zu erfassen. Eine"gewisse Willkür" in der Wiedergabe des Materials erschien dem Autor darum "verhältnismässig". So wird in den Anmerkungen noch (oder gerade dort) die Verdächtigung vermeintlicher Fakten und Akten betrieben.

DER LANGE ATEM DER RACHE

Die Gefühle sind Partisanen, sie sind unbestechlicher als die Vernunft. Sie sind die stillePost, die von Generation zu Generation weitergeleitet wird - der "lange Atem der Rache" ebenso wie die robuste Sehnsucht nach Glück. Es ist kein Zufall, dass Kluge seinen anatomischen Atlas der Seele an den Anfang eines neuen Jahrtausends gestellt hat, einen Atlas, der die unerhörten Gegenden des Gefühls mit Akribie und einem fast altmodischen aufklärerischen Impuls kartographiert. Die "verwilderte Selbsterhaltung" der Libido, meint Kluge in Anlehnung an ein Wort von Adorno, sei eine der besten Kräfte des Menschen. Während die zeitgenössische Literatur sich derzeit in der mal zynischen, mal moralisch dräuenden Apotheose von Gleichgültigkeit gefällt, hat Kluge dem unbeugsamen Glücksverlangen noch einmal eine Hochburg gebaut und dem "langen Marsch des Urvertrauens" einen Weg in die Zukunft gebahnt. Kluges Chronik zeigt, dass dem Rumoren der Seele nur mit poetischer Intelligenz beizukommen ist. Wir sollten die Leidenschaften nicht länger dem Hoheitsgebiet von Hollywood überlassen. Ihr Herzblut dringt zu den Kapillaren dort oft nicht mehr vor.