Der getreue Taschendieb

Quelle aus: Facts & Fakes, S. 46 ff. | | Leseproben

"Auch der Verbrecher hat sein Proportionsgefühl." A. Puschkin

Mit Kaiser Maximilian ging es zu Ende. Die Revolutionsarmee belagerte den isolierten Kaiser in Queretaro. Seine Gemahlin, die Kaiserin, hatte den Einfall, Goldpesos von Hofbeamten im Hofe des Palastes in die Luft werfen zu lassen, um die Gardeoffiziere zu einer Verlängerung des Kampfes zu bewegen. Wurde eine solche Münze von einem der Gardisten in der Mitte durchschossen, so gehörte sie ihm. Es war aber in solchen Techniken kein Glück enthalten. Die royalistischen Generäle Mexikos rieten dem Kaiser zu kapitulieren. Blieb als weiterer Einfall, den sog. Kronschatz, Geheimpapiere und Schmucksachen in Kisten zu verpacken und, verteilt auf mehrere Unternehmungen, aus der belagerten Stadt zu schmuggeln. Der Gedanke war, wenigstens Wertsachen und Erinnerungsstücke nach Wien zurückzuschaffen, von wo das Kaiserprojekt seinen Ausgang genommen hatte.
Die Aufsicht über die Schatzkiste Nr. 6 hatte der kaiserliche Hofbeamte Martin von Bernheim inne, der in der Nacht den Kontakt mit den ihn begleitenden Revolvermännern, sog. Gardisten, verlor. Er hatte versäumt, die Begleiter gründlich zu betrachten, und so geschah es, daß er in der Nacht zum 3. August die Kiste, die einem Pack-Muli aufgesattelt war, einem Taschendieb namens Diego Lopez aushändigte, der über dieses Vertrauen verwundert war. Bringen Sie sofort, sagte Bernheim, Tier und Kiste zur texanischen Grenze. Sie expedieren die Fracht nach New Orleans, wo Sie das Schiff besteigen. Die Sendung gelangt daraufhin nach Wien, abzugeben in der Hofburg. Der Beamte, der die Übersicht verloren hatte, gab Lopez Kleingeld mit.
Der Taschendieb Lopez hatte bisher nie Aufträge der öffentlichen Hand erhalten. Er brachte Tier und Kiste über den Grenzfluß zum Hafen von New Orleans, bestieg in Antwerpen die Bahn in Richtung Konstantinopel, die Passage zahlte er aus einem Griff in die Tasche eines Holländers. Es wird ein Rätsel bleiben, wie sich der sprachunkundige Fremdling, in ungewohnten Motiven verirrt, sich auf dem Kontinent die Informationen über Zuganschlüsse und Grenzübergänge verschaffte. Zielgenau gelangte er durch den Lieferanteneingang in die Hofburg und setzte die Kiste Nr. 6 in der Großküche zu Boden.
"Ich komme aus dem belagerten Queretaro, das inzwischen gefallen ist, und überbringe eine Kiste, mein Name ist Lopez, auf Empfehlung des Hofbeamten Martin von Bernheim, erbitte eine Quittung." Dies war auf einem Zettel in deutscher Sprache niedergelegt, den ein sprachkundiger Spanier in Antwerpen entworfen hatte.
Nun war aber von dem Hofbeamten Martin von Bernheim keine Nachricht zur Wiener Hofburg gelangt, niemand erwartete dort eine Sendung aus Queretaro. Andererseits bewies sich aus dem Inhalt der Kiste die Legitimation des Oberbringers. Die Sache war interessant. Was Mißtrauen erregte, war, daß alle Befragungen des Oberbringers, auch nach Hinzuziehung von Obersetzern, nur Unklarheit hervorbrachten. Graf Karolyi zog deshalb den Wiener Polizeidirektor hinzu, der, unerkannt, mit Lopez ein Gespräch führen und, sollte sich ein herausragender Rang des Oberbringers erweisen, eine angemessene Belohnung vorschlagen sollte, deren Art den getreuen Boten nicht beleidigen durfte. Während aber der Polizeidirektor, vom Dolmetscher bei der Befragung unterstützt, nichts Genaueres herausfand, erkannte Lopez sogleich dessen polizeilichen Charakter und entzog sich.
Die Sache galt am Wiener Hof als unangenehm. Es war nicht Stil des Kaisers von Österreich, den Überbringer der Relikte unbedankt und vermutlich ernsthaft beleidigt aus Wien fortgescheucht zu haben. Nicht zu fassen, wie es gelungen sein mochte, eine ziemlich auffällige Kiste, angefüllt mit Geschmeiden, durch eine Zone revolutionärer Unruhe und um den halben Erdball zu transportieren. Keine der österreichischen Grenzstationen hatte eine Einreise unter dem Namen Lopez registriert. Die Zauberei lag im Motiv. Dabei hatte Lopez kaum Grund für Treue.

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