Zum Hauptinhalt springen

So macht man der Liebe Mut

Von Marko Martin | Quelle WELT ONLINE | | Rezensionen

In Alexander Kluges "Labyrinth der zärtlichen Kraft" umkreist die Ratio den Eros - und umgekehrt

Nicht weniger als 166 Liebesgeschichten erzählt Alexander Kluge in diesem Buch: absurde und anrührende, unter dem Radar der Zeitläufte sanft dahingleitend oder im Gegenteil von den historischen Umständen zerschmettert. Oder auch hochgehoben. Oder beides, nacheinander und gleichzeitig.

Aber... Blickt hier womöglich ein Titan der intellektuellen Reflexion mit olympischer Ruhe - gar mit ein wenig Verachtung - auf das Seelen- und Leibesgewusel derer, die sich vom Dritten Reich über die Wirtschaftswunderjahre und die Wiedervereinigung bis jetzt, hinein in die Tage und Nächte der Berliner Republik, kaum je fragten, was mit ihnen wohl geschieht? "

Den Mut des Erkennens üben! Sapere aude!" sagt stattdessen der Meister, aber da wir in diesem ungeheuerlichen 600-Seiten-Buch noch beim Lesen diese leise insistierende, Hmh-Hmh-Hmh-machende Alexander-Kluge-Stimme hören, mit der er seit Jahr und Tag mindestens einmal in der Woche das Fernsehen von dessen plapperndem Flachsinn erlöst, fühlen wir uns weder abgekanzelt noch eingeschüchtert, sondern treten mit Zutrauen und Neugier in nahezu jede Geschichte dieses "Labyrinths der zärtlichen Kraft". (Nur das mit "Love Politics" betitelte Abstrahierungs-Gewisper mit Oskar Negt lassen wir dann doch lieber aus.)

Denn wie fragt der erkenntnissüchtige Kluge immer wieder, unsichtbar zwischen all seinen Gestalten umherwandelnd: "Was macht der Liebe Mut?" Um es gleich an dieser Stelle zu verraten: Er bleibt uns die Antwort nicht schuldig, und sie lautet schlicht "Dauerhaftigkeit" - in das Paradox zärtlicher Robustheit umgeleitete erste Exaltation, deren "Ich liebe Dich" ja vorläufig noch nichts weiter gewesen war als der entzückte Ausruf puren Egoismus. "Von großer Härte scheint mir das Vorurteil, dass Liebe keine Anstrengung des Willens vertrage, keine Arbeit dulde."

Was nämlich, fragt Kluge und geht sogleich am Anfang des Buchs derart in die Vollen, indem er natürlich eine Gestalt der Weltliteratur umkreist, was nämlich fühlte Manon Lescaut, dass sie ihres Geliebten plötzlich überdrüssig wurde? "Sie war sich dessen stets sicher gewesen, dass das ,Gefühl des ersten Augenblicks' niemals untergehen könne. Auch nicht nach einer Lungenentzündung? Nicht bei einer Darmkolik? Wenn der Körper alle Empfindungen, als wäre er bankrott, an sich zieht?"

Diese permanente Wieder-Lektüre - sie wird später unter anderem auch auf Tolstois "Anna Karenina", Gandhis Memoiren, "Die Prinzessin von Clèves" und natürlich auf Proust ausgedehnt - ist intellektuell anregend; der humane Fingerzeig eines Gebildeten, der seinen im Tohuwabohu verfangenen Helden und Heldinnen sympathisierend zuflüstert: Ihr seid nicht allein.

So wird etwa unter dem mit Sprödigkeit durchaus kokettierenden Titel "Eine späte Anwendung von Immanuel Kants Naturrecht" folgende Geschichte erzählt: Eine in Sachsen lebende Frau, die 1945 von einem russischen Soldaten vergewaltigt worden war, machte diesen nach Zusammenbruch der Sowjetunion ausfindig und fand sogar einen lokalen Richter, der ihr Recht gab mit Verweis auf Kants "Metaphysik der Sitten" ("Es ist aber der Erwerb eines Gliedmaßen am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen Person.") Allerdings ging es hier um eine Wiedergutmachung der besonderen Art, und der Chronist weiß anschließend zu berichten: "Zwei Jahre später war der verständnisvolle Richter entlassen. Oft aber noch eingeladen zu dem glücklichen Paar, das sich nun in Smolensk inthronisiert hatte. So gedieh eine Unrechtshandlung im Mai 1945 zu einem glücklichen Ende der Spätzeit."

Freilich hätten selbst Geist und Wort Immanuel Kants nichts vermocht, hätten die Herzen dieses unwahrscheinlichen Paars nicht einen verlässlichen Gleichklang entdeckt. Auch der Klebestoff für Autokarosserien, mit dem sich in Spanien ein Kriminellen-Pärchen gegenseitig die Hände verband, um nicht in eine Einzelzelle zu geraten (sie wurden später freigelassen und blieben zusammen), hätte wenig bewirkt ohne deren geradezu konservative Auffassung vom strengen Sinn des L-Worts.

Sie alle nämlich hielten sich an das, was Alexander Kluge bei der Befragung der "erfahrenen Heiratsvermittlerin Anne-Marie Waschleppa aus Kösen" erfuhr: "Alle Gefühle sind träge. Sie sind den Liebesallüren, die aus der Vorstellungskraft kommen, nicht gewachsen. Deshalb rate sie frisch Verliebten, sofort nach dem Blitz mit der Nacharbeit zu beginnen. Es gibt nämlich Planwirtschaft in der Liebe, so Waschleppa. Sie zeitigt, anders als in der Ökonomie, weil bürokratiefrei, beste Ergebnisse." Alle Achtung, Frau Waschleppa!

Allerdings: Haben wir es bei Kluges "Labyrinth der zärtlichen Kraft" tatsächlich mit "Erzählungen" zu tun, oder sind es am Ende doch nicht eher Etüden und Lehrstücke ohne Doktrin, mit allen Wassern der intellektuellen Dechiffrierungskunst gewaschene Versuchsanordnungen und Szenenbilder, schraffiert mit der anarchischen Lust am Unvorhergesehenen?

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Kluges Sprache bleibt stets die des räsonierenden Denkers. Das mag man einerseits bedauern - etwa dann, wenn das Personal seiner Geschichten so flirrend-vital ist wie "Der Betthase", ein professioneller Frauentröster von den Antillen, der seiner "Arbeit" mit einem solchen Berufsethos nachgeht, dass er einmal sogar eine vermögende Kundin bis ans Sterbebett begleitete - und prompt auf der ungeheuren Krankenhausrechnung sitzen blieb, da die erbenden Kinder selbstverständlich nichts wissen wollten vom Doppelleben der lustigen Witwe. Andererseits scheint Kluge genug Vertrauen in die Überraschungslust seiner Leser zu besitzen, dass er es sich leisten kann, naturalistische Breitpinselei und nachgestellte Dialoge souverän zu vernachlässigen. So verzichtet dankenswerter Weise "Ein Liebesversuch", die verstörende Geschichte eines widerwärtigen NS-Experiments mit männlichen und weiblichen Zellengefangenen, die auf ihren Kopulationstrieb getestet werden, völlig auf eine Lustangst-Schwelgerei à la Pasolini in den "120 Tagen von Sodom". Trotz Alkohol-Stimulanz blieben die Häftlinge übrigens apathisch; die "widerspenstigen Versuchspersonen wurden erschossen".

Auch die auf ganz andere Weise aberwitzige Geschichte einer Liaison zwischen einem gerade "abgewickelten" DDR-Spielfilmdramaturgen und einem New Yorker Popstar erzählt Kluge ohne forcierte Situationen-Witzigkeit, sondern wiederum mit jener trockener Beobachtungsgabe, die sich der Komik menschlicher Existenz ohnehin bewusst ist: "Die lebenslängliche Versorgung auf meiner Planstelle in der Hauptstadt der DDR habe ich gegen das warme Nest eines US-Stars getauscht. Ich bin jedoch wachsam. Ich habe mit dem HYSTERISCHEN WESTEN in ihr zu rechnen." Am Schluss scheitert zwar die Beziehung, aber der erneut "Abgewickelte" kehrt frohgemut in den Osten zurück, eine Story im Gepäck. Liebe zwar kaputt, doch der Text gerettet - nicht jedem mag diese Kopfstrategie anheimelnd und überzeugend erscheinen, doch schließlich steckt das "Labyrinth" voll solcher Seitenwege, die sich als Sackgassen herausstellen oder vielleicht ja tatsächlich ins Offne führen.

Gleichzeitig ist dieses Buch voll von jener sprachlichen Schönheit, die aus gedanklicher Kohärenz entsteht: "Die Derivate der Liebe unterscheiden sich von denen der Banken: Wenn sie abstürzen, fallen sie auf die Härte zurück, die ihren Rohstoff ausmacht." Oder: "Man erkennt Glück am ehesten, solange es bei anderen stattfindet." Oder: "Liebe macht es möglich, dem Tod ins Auge zu sehen, weil ich das Leben abtun kann, wenn es sich erfüllt hat." Oder, im Fall der Braunschweiger "Regine Feiler von der Schwarzarbeiterbrigade" (von der man gern wissen möchte, wie der geradezu beängstigend umtriebige Alexander Kluge nun auch auf sie aufmerksam geworden war): "Sie war die einzige Frau, die ich je gesehen habe, die einen Mann mit der linken Hand ohrfeigt, nachdem sie zuerst mit der rechten getäuscht hatte." Oder: "Zuneigung kann sich an der glatten Steilwand unabgeschwächter Verführung nicht ansiedeln." Oder: "Die zärtliche Kraft ist ein Abkömmling der Evolution, primär der gesellschaftlichen, sekundär der natürlichen."

Zwar weiß man das spätestens seit den Büchern von Octavio Paz und Denis de Rougement, die so Wunderbares zur Entwicklungsgeschichte des abendländischen Liebesbegriffs geschrieben haben, allein - man hört es doch immer wieder gern. Nicht zuletzt deshalb, weil hier nicht mehr jener Theater- und Roman-Derrièregarde gehuldigt wird, welche ("die Hysterie des Westens") überall das angeblich schlimme Sein hinter dem als falschen Schein Denunzierten zu demaskieren vorgibt. Kluge schätzt, freilich ohne ihn zu überhöhen, durchaus den Alltag seiner Figuren (meistens lebenstüchtige Frauen nicht ohne Eleganz), deren gewitzte Standhaftigkeit er hinter der Fragilität entdeckt, eine selbstbewusste Herzensklugheit, die nicht mit Exaltationen auf den Markt gehen muss.

Wir dankbaren Leser verabschieden uns mit einem hellen Gelächter angesichts eines typischen Kluge-Kabinettstücks, auf das am Schluss noch einmal ganz besonders hingewiesen werden soll: Ein hessischer Herr namens A. Trube, seines Zeichens arbeitslos gewordener "Zeitmesser", entdeckt bei einem von ihm besuchten Volkshochschulkurs zur französischen Literatur den Roman "Die Prinzessin von Clèves", über den Präsident Sarkozy gerade gelästert hatte, er sei das Paradebeispiel eines veralteten Werks. Herr Trube versucht die Liebe dadurch zu retten, dass er anhand von Sarkozys Staatsbesuchen und Tagesterminen nachmisst, wieviel Zeit da überhaupt noch für Gattin Carla Bruni bleibt, nämlich denkbar wenig. "Das, so Trube, muss sich langfristig verhängnisvoller auswirken als alles, was im Roman ,Die Prinzessin von Clèves' geschah."

"So macht man der Liebe Mut" bei Amazon bestellen