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Rede auf Alexander Kluge zur Verleihung des Kleist-Preises

Von Helmut Heißenbüttel | Quelle Kleist-Jahrbuch 1986. Hrsg.: Hans-Joachim Kreutzer. Berlin: Erich Schmidt 1986. S. 19-24 | | Texte

In seiner "politischen Biographie" des Freiherrn vom Stein charakterisiert der Historiker Gerhard Ritter die Situation im Preußen des Jahres 1808 mit dem Vorschlag Gneisenaus, Preußen in ein einziges Partisanengebiet zu verwandeln. Ritter sagt: "Das Ganze eine förmlich von oben her organisierte Revolution, ausgemalt mit einer Phantasie, die sich gleichzeitig an den Vorbildern jakobinischer Schreckensherrschaft und ihrer Todfeinde, der königstreuen Bauern in der Vendee, genährt hat. Ein Feueratem durchweht diese Pläne, der unmittelbar an die wildesten Kriegsphantasien eines Heinrich von Kleist gemahnt; seinen Helden Arminius, den blonden Recken mit der Falschheit des Puniers, beschwor denn auch Gneisenau ausdrücklich." Ritter zitiert Kleists Gedicht "Germania an ihre Kinder" mit der Strophe:

Rettung vor dem Joch der Knechte,
Das aus Eisenherz geprägt,
Eines Höllensohnes Rechte
Über unsre Nacken legt [...] !

Dem Aufruf des hier beschworenen vaterländischen Kleist hat auf dem Höhepunkt der Naziherrschaft ein Dichter geantwortet, der in bestimmter Hinsicht sein Werk und Wirken als Verpflichtung an das Kleistische Werk verstand, Rudolf Borchardt. In dem Gedicht "Schatten vom Wannsee" wird der Knechtung Preußens durch Napoleon die des gesamten Vaterlandes durch Adolf Hitler entgegengesetzt.

Wohin des Wegs in so viel Lorbeer, Schemen
Mit den Pistolen in der Hand?
Kommst Du ein zweites Mal den Abschied nehmen
Von einem solchen Vaterland?
Willst Du dies Vaterland nur wieder grüssen?
Zusehn ob hundert Jahr und mehr
An ihm vermocht, den Aiastod zu büssen
Des letzten Preussen ohn ein Heer?

Die Antwort, die Borchardt auf diese Frage gibt, lautet mit der letzten Strophe des Gedichts:

Aufgehn ihm Katakomben neu, sein Haus ist
Die Höhle flüsternd vom Verein -
Sag den Gefallenen, dass es mit uns aus ist
Und Abel tot: Deutschland ist Kain.

Wenn ich so rede und zitiere, entwerfe ich gleichsam ein Panorama, in dem ein Bild der Person und des Dichters Heinrich von Kleist erscheint, das nicht ohne Einfluß war auf die Begründung des ersten Kleistpreises 1912 und auf die Kontroversen, die sich an der Geschichte dieses Preises ablesen lassen. Wenn ich dieses Panorama heute aufrufe, zur Neubegründung des Kleistpreises 1985, so deshalb, weil ich auf diesem, wenn man so will, Umweg den Autor suchen und finden möchte, dem meiner Ansicht nach in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur am ehesten ein Preis zugesprochen werden kann, der den Namen Kleist trägt: Alexander Kluge. Und ich möchte das provozierend einleiten damit, daß ich der von Gerhard Ritter beschworenen vaterländischen Revolutions- und Partisanenphantasie Gneisenaus gleichsam kontrapunktisch ein Zitat entgegensetze aus dem von Alexander Kluge und Oskar Negt gemeinsam verfaßten geschichtssoziologischen Werk ‚Geschichte und Eigensinn' (1981). Dort heißt es: "Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist in Abwandlung eines Satzes von Marx das aufgeschlagene Buch der politischen Theorie, wie sie in konkreten Grenzkämpfen stattfindet. Man muß dabei quer lesen, d. h. sich nicht durch die Frage, ob in bestimmten Momenten dieses Dauerkampfes die Arbeiterklasse einen Sieg errungen hat oder eine Niederlage erlitt, irritieren lassen. Es können höchst unvollständige Politisierungen sein, mit denen gesiegt wird, und es kann ein vollständiges Beispiel politischer Produktion sein, daß dennoch eine Niederlage erlitten wurde."
Der Kontrapunkt würde bedeuten, daß an die Stelle der Knechtung und des Siegs des Vaterlands die umfassendere politische Theorie tritt, die am Klassenkampf abgelesen werden kann. Der Ton liegt auf dem Begriff der politischen Theorie. In ihrem, wie Kluge/Negt sagen, "aufgeschlagenen Buch" bildet die Geschichte der Arbeiterbewegung Beispiel und Paradigma. Was sich ablesen läßt, ist der definitive Übergang von nationaler zu erdumspannender, übernationaler Geschichtsauffassung. Das ist in Kluges Werk, und im Bezug zum Werk Kleists, bedeutsam, weil dieser Übergang gleichsam die Wurzel dieses Werks bildet, weil das Heraustreten aus der vaterländischen Geschichtsauffassung und die Folgen und Folgerungen dieses Heraustretens für den Ansatz des Klugeschen Werks zentral sind. In dem Buch ‚Die Patriotin' (1979) macht Kluge etwas von dem Übergang klar mithilfe des Herr-Knecht-Schemas aus der ‚Phänomenologie des Geistes'. Kluge sagt: "Deutschland z. B. im ersten Weltkrieg besteht aus Unsummen an Herr/Knecht-Verhältnissen. [...] Man wird reiches Material dafür aufspüren, einerseits daß es umschlägt, andererseits wie es in der eingreifendsten wechselseitigen Einwirkung keineswegs umschlägt. Beide Summen von Herr- und Knecht-Verhältnissen kämpfen aber, z. B. in Verdun, gegeneinander in der Vorstellung, daß sich nur so bestimmen läßt, welche von beiden Nationen Herr oder Knecht wäre."
In der Übersetzung nationalpolitischer Argumente in das Hegelsche Herr-Knecht-Schema führt Kluge das, was für Kleist und seine Zeit noch oberstes Ziel war, ad absurdum. Die Monostruktur des Gedichts ‚Germania an ihre Kinder' verliert ihren Grund und überlebt allenfalls in der Form von reaktionär-restaurativen Partikularstreitereien. Sobald die konkreten Vorstellungen von Knechtung und Befreiung, über die z. B. Borchardt nicht hinwegkam, an deren Zersetzung er litt, deren Zersetzung, wie der beispiellose Nachruf auf den Tod des ehemaligen Kaisers Wilhelm II. bezeugt, ein Zentralmotiv seiner Literatur war, sich auflösen in Summen oder Unsummen von Herr-und-Knecht-Vorstellungen, wird wirksam allein der globale Widerstreit, der sich heute als Gipfeltreffen zwischen den USA und der UdSSR manifestiert. Und wenn es so aussieht, als ob ich hier lediglich eine geschichtsphilosophische These referiere, die man aus Kluges Werk erschließen kann, so nur deshalb, weil wir kaum noch daran gewöhnt sind, daß solche Thematik, solche Motivation, solche Argumentation für ein literarisches Werk bestimmend sind.
Daß das bei Kluge der Fall ist und daß hier ein erster Ansatz für den Rückbezug und die Rückbesinnung auf das Werk Heinrichs von Kleist zu suchen ist, zeigen schon die ersten Bücher, durch die Kluge bekannt wurde: ‚Lebensläufe' (1962) und ‚Schlachtbeschreibung' (1964). Auch das Private in den ‚Lebensläufen' läßt sich auf Brechungen zurückführen, die im Konflikt des Traditionsbewußtseins wurzeln. Stalingrad wird zum Paradigma eines aktuellen Versuchs militärgeschichtlicher Beschreibung, weil im Kampf um diese russische Stadt der Knick sichtbar gemacht werden kann, in dem die Hypertrophie der Anmaßung, vaterländische Motivation direkt zu überführen in globale Herrschaft, unmittelbar in die Katastrophe mündet. Politisch und militärisch steht der Kampf um Stalingrad für den Größenwahn Hitlers, sich als Erbe und Fortsetzer großdeutscher Politik die Welt untertan machen zu können, sie zu knechten.
Dem entspricht formal literarisch in der ‚Schlachtbeschreibung' die Auflösung des stellvertretenden Einzelschicksals, das etwa im Stalingradroman von Plivier noch einmal restauriert worden war, in die Vielzahl von Einzelbeschreibungen und in die anonyme Dokumentation. Selbst die Lebensläufe und zusammenhängenden Charakterisierungen der leitenden Militärs sinken gleichsam in die Masse der Einzelzüge ein, gleichen sich der Mosaikstruktur des Massenschicksals an. Es gibt keine beispielhaften Helden in den Erzählungen und, so kann man hier ergänzen, in den Filmen Kluges. Der geschichtsphilosophischen Perspektive, die ich angesprochen habe, entspricht die Darstellung des Einzelschicksals als des Exponenten der überindividuellen Mächte und Entwicklung, eine Darstellungsweise, die im 20. Jahrhundert mit Alfred Döblin einsetzt. Das Individuelle, Personale, Private erscheint als das, als was es in den Titeln der Bücher, die Kluge mit Negt zusammen geschrieben hat, bezeichnet wird, als "Erfahrung von Öffentlichkeit" und als der "Eigensinn", der Geschichte komplettiert.
Dem folgen auch die Titel der Prosabücher, die Kluge in den siebziger und achtziger Jahren veröffentlicht hat: ‚Lernprozesse mit tödlichem Ausgang' (1973), ‚Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode' (1975), ‚Neue Geschichten. Hefte 1-18. Unheimlichkeit der Zeit' (1977), ‚Die Patriotin. Texte/ Bilder 1-6' (1979), ‚Die Macht der Gefühle' (1984). Das gebrochne Traditionsverhältnis, das in so etwas wie dem Abglanz von Preußentum wurzelt, wird darin immer mehr als ein Erleiden von historischer Erfahrung gesehen, aber ebenso als Akt, der zu Befreiung und Emanzipation von verlorenem und nicht zu restaurierendem Traditionsbewußtsein führt. Auch hier lassen sich immer wieder Varianten ablesen, die zu antworten suchen auf das, was Heinrich von Kleist einst mit ‚Michael Kohlhaas', mit der ‚Marquise von O...' mit der ‚Verlobung in St. Domingo' oder mit seinen Anekdoten als Frage gestellt hat. Selbst stilistisch, obwohl das hier die geringste Rolle spielt, könnte die Erzählweise Kluges den Anekdoten Anregungen verdanken.
Etwas anderes kommt hinzu. So wie der historischen Einsicht im Werk Kluges die Verallgemeinerung, die Funktionalisierung und das Erleiden in der privaten Sphäre entspricht, so könnte man bei Kleist den Ursprung der Verknüpfung und tragischen Abhängigkeit von öffentlichem und Privatem ansetzen. Im ersten Entwurf der ‚Familie Schroffenstein' sagt Antonio:

Ja, sieh,
Ich spreng auf alle Schlösser im Gebirg,
Empöre jedes Herz, bewaffne
Wo ich es finde, das Gefühl des Rechts,
Den Frech-Verleumdeten zu rächen.

Rodrigo antwortet:

Das
Gefühl des Rechts! O du Falschmünzer der
Gefühl'! Nicht einen wird ihr Glanz betrügen
Am Klange werden sie es hören, an
Die Tür zur Warnung deine Worte nageln -
Das Rechtgefühl! Als obs ein andres noch
In einer andern Brust als dieses gäbe!

Diese extreme Verbindung der Begriffe Recht und Gefühl, ihre Verkoppelung als "Gefühl des Rechts", Verwandlung in "Rechtgefühl" und Konfrontation mit dem "Falschmünzer der Gefühle" bezeichnen genau den Punkt, an dem das öffentliche und das Private miteinander in Konflikt geraten, an dem sie sich zerfleischen und nur die gewaltsame Lösung der Tragödie einen Schluß findet.

Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder,
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.

Fast alle Geschichten, Berichte, Dokumentationen, Bruchstücke, die Alexander Kluge in seinen Prosabüchern gesammelt hat, oft wie eine fortlaufende, nicht um Logik des Zusammenhangs oder um Plausibilität des Erzählraums bekümmerte Beispielsammlung geschrieben und publiziert, kreisen um diesen Punkt. Aber wenn bei Kluge die Anonymisierung des Einzelschicksals gegenüber der Erzählweise Kleists, die eine war, die er mit Autoren wie Johann Heinrich Daniel Zschokke und Willibald Alexis teilte, zwischen deren Lebensdaten seine eigenen in der Mitte eingelassen waren, und das ist historisch bedeutsam, der Ausweitung und Auflösung der vaterländischen Monostruktur in die globale Geschichtsperspektive entspricht, so findet der tragische Konflikt Kleists seine Antwort in der Nachzeichnung jener merkwürdigen Gebrochenheit, die zugleich Aufgehobensein bedeutet, wie sie Kluge bis heute interessiert. Was Kluge dabei entdeckt hat, ist, entgegen dem Verhängnis des Gefühls, die ‚Macht der Gefühle'. Im Vorwort zum gleichnamigen Buch sagt Kluge: "Die schärfste Herausforderung für die Gefühle ist der Krieg. Er ist übrigens auch die schärfste Herausforderung gegenüber allen Projekten der Macht, solange er zu beweisen vermag, daß keine Macht ihn aufhalten kann; und historisch konnte bisher keine Macht ihn aufhalten. Ich möchte Geschichten erzählen, wieso die Gefühle nicht ohnmächtig sind." Ich kann hier den Zusammenhang zwischen dem Buchautor Kluge und dem Filmemacher nicht übergehen. Müßig wäre es dabei, so scheint mir, der Spekulation nachzugehn, Kleist könne, heute lebend, Filme gemacht haben, statt Dramen zu verfassen. Film ist ein anderes Medium als Literatur, und diese Möglichkeit, das Medium zu wechseln, war zur Zeit Kleists nicht gegeben; dessen Alternative war allein die zur Praxis, des Berufs, des Kriegs, des Suizids. Im Vorwort zu dem Buch ‚Die Patriotin' hat Kluge gesagt: "Um ein Buch dieser Art zu verfilmen, müßte man 600 Stunden Film herstellen, das ist die Stärke." Die Stärke nämlich des Films, konzentriert etwas vorzuzeigen, wie auch die Stärke der Literatur und des Lesens, so umfassend zu sein, daß kein Vorzeigeexemplar sie einholen kann. Die Filme Alexander Kluges sind Exempel, die seiner Literatur gleichsam aufsitzen. Er hat immer wieder danach gegriffen, wo er mit dem Medium des Vorzeigens schlagkräftiger, deutlicher, wenn auch gröber, sein wollte. Im Prinzip ist Kluge ein Autor. Ich breche hier ab. Ich habe versucht, ein paar Verbindungslinien anzudeuten, die zwischen dem historischen und einem heutigen Autor bestehen können, spekulativ oder nicht, weil ich nur so der Anforderung, den ersten Preisträger des neu eingerichteten Kleist-Preises als Vertrauensmann zu bestimmen, der allein mit sich zu Rate gehen kann und soll, gerecht werden konnte. Ich habe diese Aufgabe nicht, wie viele der Vertrauensmänner des ersten Kleist-Preises, als Talentsuche verstanden, sondern als Versuch, Verbindungen herzustellen. Mitten im Bruch mit der Tradition, die nicht zu restaurieren ist, Tradition neu zu interpretieren, zu erfinden. Geschichte als Fragestellung und aktuelle Autorschaft als probierende Antwort darauf. Ein Fragment Heinrich von Kleists lautet: "Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus." Diese wenigen, so möchte ich sagen, sind die wahren Autoren. Zu ihnen rechne ich den Autor Alexander Kluge. Herzlichen Glückwunsch.