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Opernzeit - Zeitopern

Von Barbara Beyer | Quelle OPERNZEIT/ZEITOPERN, 8. November 2007, S. 9-27 | | Interviews

Begleitbuch der gleichnamigen Produktion an der Volksbühne am Rosa-Luxemburgplatz Berlin Barbara Beyer im Gespräch mit Alexander Kluge: "Der zertrümmerte Mensch singt noch!"

Barbara Beyer: Die Volksbühne plant in dieser Saison vier Opernpremieren: das Kurzopernprojekt, "Tosca", "Faust" von Robert Schumann und "Die Maßnahme" von Brecht/Eisler, Wagners "Meistersinger" stehen noch aus der letzten Spielzeit auf dem Spielplan. Woher kommt, Ihrer Meinung nach, bei Castorf der Impuls, sich dem Musiktheater zuzuwenden? Es gibt ja eine auffallende Parallele zu Brecht und seinem Interesse, in den zwanziger Jahren, Theater mit Musik zu kombinieren.

Alexander Kluge: Das ist das eine Element, das ich bei Castorf beobachten kann, es ist aber noch ein radikaleres Interesse dahinter. In Hamburg, wo ich seine "Fledermaus" in einer skelettierten Form mit Klavier zu hören und zu sehen bekam, konnte man merken, welch ein hochinteressantes Drama das ist. Castorf streift den Plüsch des 19. Jahrhunderts ab und aus der Liebe zur Kunst befreit er sie von der Übertreibung der Hochkunst. Die Oper hat etwas ganz Einfaches, was ihr zugrunde liegt: "Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen". Die Sprache führt sich sachlich auf, das gibt es bei der Musik nicht, die ist ohne präzisen rhetorischen Sinn, obwohl sie auch einen Sinn hat, aber der ist emotional. Und das gibt der Darstellung auf der Bühne eine größere Freiheit. Das ist es, glaube ich, was Castorf an der Oper fesselt. Und er ist ja auf dem besten Wege, sein Theater zum vierten Opernhaus Berlins zu machen.

Jetzt zu den Kurzopern. Es gibt in der Operngeschichte ein verblüffendes Ereignis: mitten in der traditionellen Opera seria des 18. Jahrhunderts, in der man über 5 Stunden nur Götter und Helden sieht, gibt es in der Pause eine Kurzoper: "La Serva Padrona" (Die Magd als Herrin) von Pergolesi. Diese Kurzoper ist vielleicht 20 Minuten lang, in ihr treten wirkliche Menschen des Alltags auf. Aus dieser Erfindung entwickelt sich später die glanzvolle Karriere der italienischen Opern von Bellini, Donizetti, Verdi und im Gegenpol dazu die deutsche und französische Oper. Ein Glücksfall wie in der Evolution.

Gewissermaßen eine Sprengung von Innen.

Die Evolution hat ihre größten Chancen auf der Seite der kleinen Lebewesen. Unsere Vorfahren waren Baumkletterer, Spitzmäuse. Ihr Vorteil war ihre geringe Größe, aber auch dass sie warmblütig waren. Das konnten die Dinosaurier (vergleichbar mit einem 196 Mann Orchester in Bayreuth) von sich nicht behaupten. Ihre Rieseneier, die sie von der Sonne heizen ließen, waren ideale Eiweißapotheken für unsere Vorfahren, wenn sie sie anzapften. Auch für die Oper sind die Miniaturen die Form der Erneuerung. Vor allem, weil sie nicht dem Zwangsgesetz der konsequenten Handlung unterliegen.

Das ist für Darius Milhaud beispielsweise das ästhetische Prinzip gewesen. Die Minutenopern, die er schuf- die extremste Form der Kurzoper - ist im Verständnis von Milhaud eine ópera en miniature, sozusagen eine gepresste große Oper, perspektivisch extrem verzerrt und gerafft auf beispielsweise 9 Minuten in seiner "Entführung der Europa".

Bei Milhaud steckt ein einfaches Prinzip dahinter. Ein Kunstwerk beleuchtet das andere. Wie Konstellationen bilden sie gemeinsam einen Sternenhimmel. Dafür muss die einzelne Oper kurz sein. So kann man, als "compressed opera", sozusagen in Rundumverteidigung gegen eine gleichgültige Zeit, den Wagemut, den die Kunst und vor allem die Oper braucht, retten. Nur so können wir, sagt Milhaud, Zusammenhang herstellen. Das ist zum Beispiel im Film "Deutschland im Herbst" nicht anders. Der Zusammenhang entsteht dadurch, dass mehrere Regisseure, die sich jeweils kurz fassen, zusammenwirken. Gemessen an den Ereignissen wäre es eitel und auch vergeblich gewesen, wenn jeder sich an Spielfilmlänge hält. Das Genre der Kurzoper steht also nicht isoliert da. Die "Kategorie der Besonderheit", dass nämlich das einzelne Element im Kern autonom ist und die"Kategorie des Zusammenhangs", dass viele Details große Kommentarwerke ergeben, das zusammen bildet das Ideal der Moderne.

Darf ich Sie da auf den Zusammenhang unseres Abends zurückbringen, der ja in diesem Sinn konzipiert ist. Ich würde gerne mit der Operette, also mit Lehár beginnen. In der Operette "Frühling" geht es um Wohnungsnot. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, teilen sich eine Wohnung. Der Mann lebt tagsüber darin, die Frau nachts, der andere geht dann jeweils arbeiten. Die beiden begegnen sich nie, kennen nur die im Schrank befindlichen Kleidungsstücke des anderen und entwickeln darüber ein Verhältnis zueinander.

Das ist aber eine sehr schöne Geschichte.

Die Operette beginnt mit dem Duett "Nur ein Stückchen Batist" in dem der Mann seinem Freund die Strümpfe, Höschen und Schuhe beschreibt, die er in der Abwesenheit der Frau sich heimlich anschaut und mit denen er in einen Dialog tritt. Er verliebt sich in das, was vom anderen übrig bleibt, nämlich in die Ware. Kann man sagen, dass da etwas schief läuft?

Das finde ich gar nicht. Diese Operette hat einen Cousin, eine Oper von Max Brand "Der Maschinist Hopkins", die Brecht und Piscator gern an der Volksbühne aufgeführt hätten. In dieser Oper gibt es eine Szene, wo die Maschinen nachts von ihrem wahren Leben träumen. Eigentlich sind die Maschinen revolutionär gestimmt, sie sind autonom, sie brauchen den Menschen nicht. Jetzt sind Heuschrecken unterwegs und wollen die Fabrik übernehmen. Ein Ingenieur macht hier Aufstand gegen die Oberen, die die Fabrik eigentlich gar nicht leiten können. Das ist ein Selbstbewusstsein der Arbeitskraft, und so etwas Ähnliches ist im Stück von Lehár ebenfalls offenbar beobachtet. Das sind die Themen in den Zwanziger Jahren, das ein Jahrzehnt der Emanzipation war. Die Emanzipation wird versucht, dass sie später misslingt, kommt in den Stücken ja nicht vor. Diese antworten lediglich auf einen Wunsch, sich anders zu befreien, als es mit dem "happy end" von vor 1914 gedacht war.

Eine Kurzoper von Hartmann trägt den Titel "Die Witwe von Ephesus", da trauert ein gehängter Arbeitsloser, weil er unfähig war zu leben, und eine Witwe am Grab ihres Mannes trauert, weil sie nicht fähig ist zu sterben, die beiden verlieben sich und machen den toten Ehemann kurzerhand zum arbeitslosen Gehängten. Die Frau erlöst den Mann zur Liebe. Eine Parodie auf die Erlösungsthematik des 19. Jahrhunderts, oder worum geht es hier?

Diese Geschichte ist gut zweitausend Jahre alt, dass eine Frau am Grab ihres Mannes einen Fremden liebt.

Der aber hier zudem ein Arbeitsloser ist

Das ist die Variante. Die antike Geschichte handelt letztlich davon, dass die Frau des Gehängten dem Henker anheim fällt. Das ist die Urgeschichte. Sie hat die Reflexion über den Tod zum Thema. Ich kann hier bei Hartmann "Erlösung" nicht finden. Ich kann bei keiner dieser Kurzopern Erlösung finden. Ich weiß auch nicht, was Erlösung soll, weil es ja eine sehr verquere Idee ist, dass es individuelle Erlösung geben könnte.

Ich teile Ihre Auffassung. Man muss die Erlösungsphantasien als aber ein Phänomen des 19. Jahrhunderts konstatieren.

Das ist sehr wohl wahr. Im 19. Jahrhundert wird vom Publikum eine "Gratisportion Paradies" erwartet. Man muss für sein Glück nicht arbeiten, sondern nur die richtige Frau finden, oder den richtigen Mann. Im "Fliegenden Holländer" zum Beispiel wirft sich Senta ins Hafenwasser, um sich und ihren Geliebten zu erlösen. Das ist ganz ähnlich bei Eva Braun, die nach Berlin kommt, um mit ihrem Geliebten gemeinsam zu sterben. Wie kann man damit umgehen? Zum Beispiel in der Inszenierung des "Fliegenden Holländers" von Peter Konwitschny sprengt Senta mit einem Pulverfass, die ganze Gemeinde, sich selbst und die Erlösungsidee in die Luft.

Ich denke auch, es geht nur darüber, dass man die Frauen stark macht.

Jawohl, das wäre dann nicht Erlösung, sondern Befreiung.

Hartmann schneidet in seinen Kurzopern viele Themen an, die die zwanziger Jahre betreffen, so u. a. die neue Technik. In "Der Mann, der vom Tode auferstand" schläft ein Mann beim Radiohören ein, im Radio wird eine Revolutionsoper gegeben, der Mann wacht auf und kann zwischen Realität und Fiktion plötzlich nicht mehr unterscheiden und denkt, es sei Revolution ausgebrochen. Mit der aufkommenden Technik sind die Sinne des Menschen verwirrt. Und man fragt sich, was von der Figur als schlimmer empfunden wird, die Angst, es könnte Revolution ausgebrochen sein oder dass man seinen Sinnen nicht mehr trauen kann?

Ich bin nicht sicher, ob das der Kern dessen ist, was Hartmann ausdrücken will. Hartmann möchte eine Differenz zwischen dem Früheren und dem Heutigen ausdrücken. Ich kann Pessimismus darin nicht erkennen. Wenn einer sagt: das ist der Untergang des Abendlandes, oder: der Mensch findet keine Erlösung, er strebt und strebt und erreicht nichts, dann sind damit die alten Themen angesprochen. Hartmann hingegen sagt: ein Mensch, selbst unter inhumansten und unmöglichsten Bedingungen, und selbst wenn er glaubt, seine Sinne funktionieren nicht mehr richtig, hält an seinem Lebenswillen fest. Das einzig Vertrauenswürdige ist dieses Urvertrauen: dass das Leben lebt. Das mag ideologisch sein, - zum Beispiel sagt Adorno: das Leben lebt nicht -, dann sagt aber Hartmann musikalisch: doch, das Leben lebt und das drückt er in der Musik aus, ähnlich wie Verdi das macht, indem er gegen eine inhumane Handlung, die man auf der Bühne verfolgt, die Millionen Jahre starke Errungenschaft Musik setzt…

…und den Zusammenhang ins Utopische transzendiert.

Die Musik transportiert ältere Schichten als das Wort. Es ist eine Erinnerung da und gegen alle Wahrscheinlichkeit glaubt sie, dass es sich lohnt zu überleben. Ich denke, dass es bei Hartmann so gemeint ist. Es ist keine pessimistische Musik. Ähnliches gilt für Alban Berg, und es scheint in dieser Operette auch für Lehár so zu sein.

Im Chaplin-Ford-Trott sagt Chaplin: Mein Leben ist: die Menschen zum Lachen zu bringen und der Autohersteller Henry Ford sagt: mein Leben ist, Autos herzustellen.
Hartmann setzt die Produktion von Humor und Autos gleich.

Ich würde so sagen: Wir tragen eine Maschine in uns in Form des Zwerchfells. Als die Menschen den aufrechten Gang erlernten, hat der Mensch in der Mitte seines Körpers eine Trennlinie erzeugt und hat alles nach aufwärts gerichtet, was im höheren Bereich liegt: Gehirn Herz, Lunge, dagegen die Sexualität und die Verdauung gehen nach unten. Diese Zweiteilung wird aber vom Menschen, vom Körper selbst, bezweifelt. So hat sich das Zwerchfell in die Mitte der auseinander driftenden Körperteile gesetzt. Seine Funktion und Lachlust sind autonom. Man kann ein Zwerchfell, das lachen muss, nicht beherrschen. Weder durch Befehle, noch durch eine Kirchenatmosphäre, noch durch irgendetwas. Das ist sozusagen eine menschliche Maschine und die ist lebendig, und in den Autos steckt umgekehrt ebenfalls menschliches Leben, nämlich der Erfindungsreichtum aller Ingenieure und Arbeiter, die diese Autos produziert haben. Diese sogenannte "tote Arbeit", wie Marx das nennt, stammt von uns Menschen. Die Maschinen sind lebendiger als wir denken, und wir selbst sind viel intelligentere, raffiniertere Maschinen als wir meinen.

Damit hätte Hartmann das Gemeinsame von Mensch und Maschine aufgedeckt.

Ich glaube, das ist das Moderne an ihm.

Lassen Sie uns auf Bertolt Brecht zu sprechen kommen, auf den "Jasager/Neinsager" von ihm und Kurt Weill. Hierin geht es um eine Pilgerfahrt, der sich ein Knabe anschließt, um für die Krankheit seiner Mutter zu beten. Der Knabe erkrankt und wird gemäß dem Brauch in das Tal hinab geworfen. Brecht hat diese Fabel als eine Schuloper gedacht, und Weill hat sie vertont. Brecht geht in Schulen und diskutiert die Fabel mit Schülern, ihre Einwände bringen ihn dazu, die versöhnlichere Variante "Der Neinsager" zu schreiben. Weill weigert sich, da mitzumachen, weil er überzeugt ist, mit dem "Jasager" sei alles gesagt. Was ist das bei Brecht, hat er den Glauben in die Kunst verloren oder wie sind seine pädagogischen Bestrebungen zu verstehen, die ihn so handeln lassen?

Brecht ist reich, hat außerordentlich viele Facetten. Wenn Sie beispielsweise den Baal nehmen, können Sie nicht von Pädagogik sprechen. Brecht ist immer gut dafür, seine Pädagogik auch wieder zu durchbrechen. Brecht ist einerseits diszipliniert und sein Über-Ich ist stark. Aber seine Kunst ist viel reicher als seine Absichten. Insofern würde ich Weill´s Weigerung verstehen. Es ist vielleicht keine gute Idee, Gleichnisse, Metaphern und Einsichten in die Schule zu tragen und Menschen damit zu traktieren, bevor sie als Erwachsene ihre Erfahrungen machen. Es gibt keine Erfahrung auf Vorrat, fürchte ich, weil man einen emotionalen Grund braucht, um Erfahrungen aufzugreifen.

Es gab in den zwanziger Jahren die so genannte "Gebrauchsmusik", es gab eine musikalische Jugendbewegung, das Pädagogische lag so ein bisschen in der Luft. Auch von Weill gibt es ein Zitat aus der Zeit, das ähnliche Überlegungen bezeugt: "Die erste Frage für uns lautet: Ist das, was wir machen, für eine Allgemeinheit nützlich? Eine zweite Frage erst, ob das, was wir machen, Kunst ist; denn das entscheidet nur die Qualität unserer Arbeit".

Das ist ein politisch korrekter Standpunkt für eine Parteilinie, ob es stimmt, kann ich nicht beurteilen, ich glaube es nicht,. Das Wort "nützlich" ist hier falsch gewählt. "Nützlich" - das ist die Betrachtung eines Analytikers, der einen Betrieb rationalisieren will. Die bessere Kategorie bei Marx heißt "Gebrauchswert". Gebrauchswert ist ein Nutzen für Menschen. Und der Gebrauchswert von Musik ist etwas sehr Einfaches: Im 12. Jahrhundert versammeln sich in Südfrankreich, in der Provence, nachts Menschen und erzählen sich Geschichten und dann singen sie ein Lied und dann kommt wieder eine Geschichte und so fort. Also eine entfaltete Form der Kommunikation, eine spielerische Kommunikation und die will Öffentlichkeit und von ihr stammt später die Oper, stammt das Drama und das Theater ab.

"In dem gleichen Augenblick, als man das konzertante, also nackteste l'art pour l'art erreicht hatte, tauchte sozusagen schaumgeboren die Gebrauchsmusik auf" schreibt Bert Brecht. Es ist auch eine Reaktion, nehme ich an, auf die Zwölftöner, die sich in einer sehr elitären Weise gegen alles abgrenzen.

Die Zwölftöner sind eine Art Planwirtschaft, dagegen kann er sich wenden. Es gibt von Nietzsche einen Satz, der mich sehr berührt: Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum. Insofern korreliert die Musik sehr stark zum Lebendigen, nicht so sehr zu den Einsichtsfähigkeiten. Für einen Text von Emanuel Kant brauche ich nicht unbedingt Musik. Die Gedanken kann ich auch lesen. Dem gegenüber verhält sich die Musik spielerisch, stellt sich einen Moment neben meinem Leben auf oder zwischen mir und meinem Nachbarn. Musik ist HETEROTOPIE . Es gibt zwei Universen, das eine ist die bittere Wirklichkeit, daneben gibt eine zweite, träumerische. Von der Verbindung der beiden handelt die Musik. Das macht ihre Gravitation aus.

Brecht erörtert in den zwanziger Jahren das Verhältnis von Masse und Individuum und stellt den Einzelnen in Frage, er will ihn zertrümmern, schreibt er. Er versucht also, vom Kollektiv her zu denken. Nur indem sich der Einzelne dem Kollektiv unterordnet, ist dieses lebensfähig, davon handelt ja auch diese Fabel. Wenn wir nun nach dem Sinn und Wesen der Oper fragen, die über mehr als vier Jahrhunderte, zumindest aber im 19. Jahrhundert, das Individuum feiert, müssen wir da Brechts Gedanken heute nicht berücksichtigen?

In der ersten Oper, die öffentlich aufgeführt wurde, "Orfeo" von Monteverdi, sehen Sie den Sohn des Apoll, also eines Mathematikergottes, eines grausamen Gottes, als Ahnvater der Musik: Orpheus. Als Orpheus in Trakien von den Frauen zerrissen wird, schwimmt sein Kopf noch singend in den Flüssen Griechenlands und durch das Mittelmeer bis zur Insel Lesbos. Dieser zertrümmerte Mensch singt noch. Dass die einzelnen Fragmente des Menschen, weil sie menschlich sind, immer noch Musik in sich tragen, das ist eigentlich das, wovon die Moderne ausgeht. Die Menschen muss man nicht zertrümmern, sie sind bereits zertrümmert, nur ihre Fragmente leben. Und wenn Menschen das zugeben, können sie menschlich sein (oder werden); wenn sie es nicht zugeben, sind sie selber Phrase, eine bloße Absicht und als solche eher inhuman. Das ist der Kerngedanke der Moderne, und hier, in diesem besonderen Zusammenhang, ist ein leichter Überschuss an Intentionalität bei Brecht, den ich sehr schade finde. Er selber ist ja viel kühner. Die Authentizität ist immer fragmentarisch. Der Mensch ist noch nicht entworfen als Ganzheit. Allerdings sind schon Millionen Jahre vor uns, in der Evolution, Elemente entwickelt worden, die durchaus Zusammenhänge bilden und von denen leben wir. Ich habe hier nur interpretiert, was so ungefähr die Moderne von solchen Fragen denkt.

Das gilt übrigens auch für das Fragmentarische im Wozzeck. Wozzeck ist als Soldat ein Mensch, der nicht gelungen ist. Und was dann an ihm noch übrig ist, das zerstört der Militärarzt. Und was dann noch übrig ist, stiehlt ihm der Tambourmajor. Das heißt, dieser Mensch wird aus der Gesellschaft herausgedrückt, und Sie können jetzt nicht sagen: nach der Revolution von 1917 ändert sich das sofort.

Th. W. Adorno beschreibt die Musik des Wozzeck wie folgt: "Sie gleitet mit unbeschreiblich gütiger Hand über das Fragment (Georg Büchners Woyzeck), besänftigt und glättet alles Herausstehende, Herausstechende darin, möchte die Dichtung trösten über die eigene Verzweiflung".

Das ist gut gesagt. Marx nennt Ideologie das notwendige falsche Bewusstsein, dazu gehört, dass wir Menschen als Säuglinge mit gläubigem Blick in die Wirklichkeit schauen und weil die Mutter zurückblickt, glauben wir, dass die Welt es gut mit uns meint. Das ist ein grundlegender Irrtum, von dem wir leben bis wir sterben. Unsere Welt meint es mit den Menschen nicht gut. Wir können diesen Irrtum aber nicht aufgeben. Freud nennt das das Urvertrauen. Und das Urvertrauen drückt sich beispielsweise in der Musik aus.

Sie haben von der Idee einer "Imaginären Oper" geschrieben, einer Loslösung der Musik vom Drama, hin zur Oper des Wissens

Die frühsten Opernkomponisten in Florenz, Venedig und Cremona, die Musik auf Bestellung machten, hätten genauso gut für die "Kabinette der Künste und Wissenschaften", die jeder Fürst und jede Stadtverwaltung besaß, Musik komponieren können. Das Selbstbewusstsein einer Stadt gründete sich zu diesem Zeitpunkt nicht so sehr auf ihre Kirchen oder auf das Theater, sondern auf die Wissenschaft. Und wenn beispielsweise die Anatomie mit konzertanter Musik entwickelt worden wäre, hätten wir wahrscheinlich eine höhere Achtung vor den menschlichen Körpern, als wir sie heute haben, wo sie wie Abfallprodukte ausgemistet und untersucht werden. Anders gesagt: die Wissenschaft ist schlechter geworden (machtvoll, aber mit lauter inhumanen Eigenschaften), weil ihre Entwicklung nicht von großer Musik begleitet wurde. Das wäre die Alternative, die imaginäre Oper, gewesen.

Heiner Müller hat dargestellt, wie bei Shakespeare die Metaphern zustande kommen. Was ist ihre Bedeutung? In einer Welt, in der bittere Realitäten auf die Menschen einstürzen, so dass in kurzer Zeit keine Wahrnehmung dieser Realität statt finden kann, verlangsamt die Metapher die Wahrnehmung, so dass auf einem Umweg, quasi über die andere Gehirnhälfte, ein Zugang zur Wirklichkeit offen bleibt. Es ist offensichtlich, dass die Musik, die ein Drama begleitet, etwas ganz ähnliches macht. Man sieht das zum Beispiel in den großen Todesszenen bei Verdi, wo der Moment des Todes sich enorm ausdehnt. So erhalten die schrecklichen Taten auf der Bühne, die man in der Wirklichkeit nicht wiederholt sehen will, ihre analytische Schärfe. Ich glaube, dass dies der Hintergrund ist, warum Castorf sich für Opern interessiert. Die Oper kann Erfahrungen in der Zeit versetzen. Die Logik könnte das nicht nachmachen. Musik ist in der Lage, einen Reservetank an Emotionen zu entwickeln. Und dass wir diesen Mechanismus nicht willentlich beherrschen und in den Dienst stellen können, trägt uns weiter, als alle guten Absichten es tun würden.