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"Nachrichten aus der Antike"

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Alexander-Kluge-Programme in Wien am 10. Oktober im Stadtkino: "Nachrichten aus der Antike", ein utopisches Großprojekt als Ausgangspunkt für Möglichkeitsräume Seinen Entschluss aus dem Jahr 1927, spätestens 1929 das KAPITAL von Marx zu verfilmen, hat der russische Regisseur Sergej Eisenstein (Panzerkreuzer Potemkin, Oktober) nicht durchgeführt. Jetzt hat Alexander Kluge 9 Stunden Programm zum Thema gemacht, erstmalig gezeigt in Wien, in Kürze auf DVD und Buch beim SUHRKAMP Verlag!

Nachrichten aus der ideologischen Antike“: Was ist zu sehen?

Seinen Entschluss aus dem Jahr 1927, spätestens 1929 das KAPITAL von Marx zu verfilmen, hat der russische Regisseur Sergej Eisenstein (Panzerkreuzer Potemkin, Oktober) nicht durchgeführt. Die Verlegerin des Suhrkamp Verlages, Ulla Unseld-Berkéwicz gab während der Buchmesse 2007, bei einem Empfang im Garten ihres Hauses, die Losung aus, dass das Projekt Eisensteins in einer neuen Suhrkamp—DVD—Edition einen Gedenkstein erha1ten soll. Schließlich seien im SuhrkampVerlag genügend Autoren präsent, die sich mit Marx ernsthaft beschäftigt hatten‚ z. B. Theodor Adorno, Walter Benjamin, Bert Brecht, Peter Weiß, Dietmar Dath, Peter Sloterdijk, H.M. Enzensberger, Jürgen Habermas, Durs Grünbein — jeweils in größerer Nähe oder Ferne zu dem antiken Autor Marx.

Die „Nachrichten aus der ideologischen Antike“, die ab 10. Oktober im Stadtkino Wien erstmals öffentlich präsentiert werden, konzentrieren sich auf 3 DVDs:

  1. Eisenstein und Marx im gleicben Haus (eine Annäherung an das, was Eisenstein plante und an den Ton von Marx‘ Texten als Echos aus ferner Zeit);
  2. Alle Dinge sind verzauberte Menschen (über den sog. Waren-Fetisch und das Echo vergangener Revolutionen);
  3. Paradoxe der Tauschgesellschaft (über die allseitige Präsenz des Tauschs und die Chance multimedial darauf zu antworten).

Wieso „ideologische Antike“? Jede Gegenwart (weil sie praktisch ist) braucht eine Theorie. Geeignet sind dafür Flächen, die außerhalb des gegenwärtigen Geschehens liegen.

An den Küsten Europas gab es Strandräuber. Sie rückten die Leuchtfeuer, an denen sich die Schiffe orientierten, so um, dass die Schiffe scheiterten. So konnte man die Fracht an sich bringen. Besser für die Seefahrt ist die Navigation nach den Sternen. Sie sind unverrückbar. Es gehört zur Antike, dass die Helden (z. B. Herkules) an den Sternenhimmel versetzt werden.

In der gegenwärtigen Praxis des Films und der Wissenschaft ist mir keine mit dem Projekt Eisensteins oder mit dem Werk von Karl Marx vergleichbare Anstrengung bekannt. Es ist deshalb ein Vorzug, dass Eisenstein, das Jahr l929, in dem er vermutlich seine Dreharbeiten durchgeführt hätte, ebenso wie das Werk von Marx (und die Beispiele, die dieser vor sich sah, wenn er schrieb) für uns so fern sind wie eine Antike. Sie rücken nicht zu unserem Sumpfgelände hin, sondern hin zu Aristoteles, Ovid und anderem sicheren Boden, über den die Menschheit verfügt.

Der PROZESS DER AUFKLÄRUNG, von dem Immanuel Kant spricht (und dem Marx mit großer Ungeduld anhing) zeigt eine eigenwillige Oszillation: Seit 300 Jahren existieren Durchbruchsversuche zu einem „Zustand der Aufklärung“. Zugleich hat es den Anschein, dass es bei dem Satz „räsoniert aber gehorcht“, wie es Immanuel Kant in seiner Schrift „Was heißt Aufklärung?“ formuliert, bleibt. Im 18. Jahrhundert entsprach das der Forderung des preußischen Königs. Heute stehen die Realverhältnisse dort, wo früher der König befahl. Sie sagen: räsoniert aber gehorcht.

Im Gegensatz zur „Ideologischen Antike“ genügt es heute nicht, die elfte Feuerbach—These zu wiederholen: „Die Philosophen haben die Wirklichkeit nur interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Der Beobachtung entspricht eine vertrackte neue Situation: Es gibt nicht nur eine Wirklichkeit, sondern viele, die meisten davon antagonistisch. Dies eröffnet Zwänge und Auswege.

Keine dieser Wirklichkeiten (nicht einmal solche des second life) lassen sich aber in der Organisationsweise wirklicher Menschen auf dem Planeten willkürlich verändern. Die inflationierten Wirklichkeiten haben jede für sich Arroganz und Befehlsgewalt.

In dieser Lage ist es in keiner Weise gleichgültig, dass räsoniert werden kann. Der Prozess der Aufklärung bleibt zwar zunächst nur in der Ausgangsstellung. Aber sie lässt sich auch nirgends ausschließen oder einkesseln. Es gibt sozusagen Gärten der Freiheit. Für sie sind die Pflanzungen an Gedanken, die Marx angelegt hat, schöne Beispiele der Evolution. AK

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