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In der Zapperfalle

Von Heinrich Schwazer | Quelle DIE NEUE SÜDTIROLER TAGESZEITUNG | | Interviews

Der deutsche Filmemacher, Schriftsteller und Theoretiker Alexander Kluge war in dieser Woche auf Einladung des Museion im Bozner Filmclub. Ein Gespräch über Fernsehen, das Erbe des Autorenfilms, YouTube, Multiplexkinos, Adorno und die Oper. (Sa/So 19./20.1.2008 Nr. 15)

Tageszeitung: Herr Kluge, haben Sie heute schon eine erzählwürdige Geschichte erlebt?
Alexander Kluge: Nein, aber ich habe im Zug von München nach Bozen eine geschrieben. Wenn ich eine Pause im Leben habe, etwa eine Zugfahrt oder Wartezeit, schreibe ich Geschichten. Ich fülle die Lücken.
Die Lücke, die der Teufel lässt?
Das ist die Lücke, in der wir leben. Das Böse ist nicht vollständig, das ist das Tröstliche oder wie Thomas von Aquin es formuliert hat: „Das Böse ist ein Defekt des Guten.“ In unserer Zeit ist das Böse schon sehr inflationiert und hat ganz große Lücken, es ist schwammig, und man muss nicht daran glauben.
Das klingt sehr katholisch.
Die Katholiken haben diese antike Tradition in die Gegenwart herübergerettet. Die Antike ist ja nicht so lange her, und hier in Bozen ist einer ihrer Kreuzungspunkte. Hier mussten alle durch.
Wie laufen Ihnen Ihre zahllosen Geschichten zu?
Das tun sie gar nicht. Jeder erzählt Geschichten, nur schreibt sie nicht jeder auf.
Wie entscheiden Sie, ob Sie eine Geschichte aufschreiben oder fürs Fernsehen verarbeiten?
Das sind zwei völlig unterschiedliche Genres. Jedes hat seine eigenen Gesetze. Im Fernsehen bin ich Anwalt des Zuschauers und nicht der große Autor eines Buches. Das nimmt einem im Fernsehen niemand ab. Fernsehen erfordert eine sehr demütige Haltung.
Lieben Sie das Fernsehen?
Nein, überhaupt nicht. Ich liebe das Radio – mehr noch als das Buch.
Warum machen Sie dann Fernsehen?
Weil es das Leitmedium ist. Im Ernstfall, beispielsweise am 11. 09. oder beim Ausbruch des Irakkrieges, gehen wir nicht ins Kino oder greifen zu einem Buch, sondern schalten den Fernseher ein. Daran erkennt man, dass das Fernsehen im Ernstfall das wichtige Medium ist, das Fenster zur Welt, das es in jeder Wohnung gibt. Nur müsste man es auch in normalen Zeiten bedienen können und das Beste, was es außerhalb des Fernsehens gibt, unverfälscht ins Fernsehen bringen. Das machen die Programmdirektoren aber nicht, sondern homogenisieren alles. So, wie man es mit der Milch macht, bis sie nicht mehr schmeckt. Die Programmdirektoren sind wie Oberschulräte, die sagen: „Das verstehen meine Schüler nicht.“ Das ist der typische Minderwertigkeitskomplex der Massenmedien.
Sie trauen den Fernsehzuschauern in Ihren Kulturmagazinen weit mehr zu?
Die Menschen sind sehr viel reicher in ihrer Neugierde, als die Programmdirektoren glauben. Ich zeige in meiner Sendung beispielsweise, wie Wissenschaftler reden, und mache ihren Jargon einen Moment lang unverkürzt hörbar. Was die Wissenschaft erkundet und die Natur uns erzählt, ist so märchenhaft und poetisch, dass es lohnt, das unverfälscht ins Fernsehen zu bringen. Das Interessante ist, dass man damit Zuschauer findet. Mein Kulturmagazin ist eine Zapperfalle. Man zappt einen Abend lang durch die Programme und bekommt überall das Gleiche serviert, und plötzlich klingt etwas ganz anders.
Sie waren mit 25 anderen jungen Filmemachern Unterzeichner des Oberhausener Manifests. Was hat Sie damals an „Opas Kino“ so gestört?
„Opas Kino“ war in den 50er-Jahren eigentlich die Fortsetzung des Ufa-Films. Liebe Unterhaltungsfilme ohne jeden politischen Inhalt nach demselben Schema wie unter den Nazis, die damit ihre Untaten tarnten. Doch während die Filmemacher im Dritten Reich mit Zarah Leander und anderen das noch konnten, brachten die Filmemacher nach 1945 das gar nicht mehr zustande. Vielleicht haben wir einigen davon auch Unrecht getan ...
... Heinz Rühmann beispielsweise
Dem haben wir mit Gewissheit Unrecht getan, aber den liebten wir ja. „Die Drei von der Tankstelle“ ist nach wie vor ein wunderbarer Film. Ich habe als siebenjähriges Kind der Kinokassiererin Eier gebracht, damit ich umsonst in die Filme gehen durfte, die für mich gar nicht zugelassen waren. So habe ich die Ufa- Filme kennengelernt, und es war für mich eine grobe Enttäuschung, was nach 1945 daraus gemacht wurde. Wir waren gar nicht aggressiv gegen diese Filme, sondern haben uns in erster Linie einfach gelangweilt.
Der Neuanfang des deutschen Films startete dann mit dem Kurzfilm.
Mit der Kurzform und gemeinsamer Arbeit. Aus dem Theater kam Fassbinder, Schlöndorf kam aus Frankreich zurück, Reitz wäre ansonsten Werbefilmer geblieben, Herzog wäre vielleicht Bergsteiger geworden. Plötzlich haben alle diese Leute Filme gemacht, und bis Fassbinders Tod 1982 hat der Autorenfilm den Ton angegeben. Mit „Deutschland im Herbst“ hatte man zum Schluss eine Methode gefunden, wie mehrere Regisseure zusammen einen Film machen können. Das hätte man auf ganz Europa ausdehnen und Bertolucci, Godard einbinden können. Wenn das weitergegangen wäre, hätten wir heute einen sehr schönen europäischen Film.
Warum ist es nicht weitergegangen ?
Weil das private Fernsehen einen sehr starken Einbruch mit sich gebracht hat. Wenn wir die Öffentlichkeit nicht aufgeben wollten, mussten wir etwas tun. Reitz hat dann seine Heimat-Trilogie gedreht, Herzog hat auch für das Fernsehen gearbeitet, und ich habe meine Kulturmagazine gemacht. Der Autorenfilm ist zum Fernsehen der Autoren geworden.
Ihre ersten Arbeiten für das Fernsehen waren Minutenfilme. Kurz vorher hatten Sie noch einen Kinofilm gedreht. Warum dieser plötzliche Wechsel zur Kurzform?
Minutenfilme waren am Anfang der Filmgeschichte typisch für das Kino. Arbeitsemigranten in den USA, die nicht einmal eine gemeinsame Sprache hatten, standen in einem Kino und schauten sich einen Stummfilm an. Die waren alles andere als ruhig, sondern schwatzten wie in Babylon. Das war eine sehr lebendige, aber auch ungeduldige Öffentlichkeit, und wenn Sie heute im Internet auf YouTube gehen, passiert eigentlich dasselbe. Jeder kann selber was reinstellen, aber es muss komprimiert und robust sein. Die Evolution war immer auf der Seite der kleinen Tiere. Das gilt auch für die Künste.
Sind Sie ein YouTube-Benützer?
Natürlich. Das ist die interessanteste Entwicklung, die es derzeit gibt.
Was ist vom Autorenfilm geblieben?
Filme, die zwar heute nur im Museum zu sehen sind, aber eine stattliche Zahl umfassen. Das Erbe davon geht ganz woanders weiter. Es gibt jetzt Kino im Internet, im Fernsehen gibt es eine Insel für den Autorenfilm. Die Filmkunst ist wie Phönix, der zeitweise untergeht und dann doch wieder auftaucht, obwohl ich sie in der Wüste der Großkinos oft gar nicht erkennen kann.
Was haben Sie gegen Multiplexkinos?
Warum hat Jesus die Händler aus dem Tempel gejagt? Multiplexkinos sind die Faust der Werbung, Vorratshäuser von vorgefassten Ansichten, aber keine Öffentlichkeit. Ich kann die Filme darin gar nicht unterscheiden. Eine Scarlett O´Hara aus „Vom Winde verweht“ – eine sehr sympathische Person, die ich gern zur Mutter gehabt hätte – würde in so einem Kino nie den Mann finden, den sie sucht.
Schauen Sie sich auch Hollywood- Blockbuster-Filme an?
Natürlich, ich sehe gerne spannende Filme, wenn sie die PhantasiePhantasie entzünden. Zum „Gladiator“ habe ich schon zehn Geschichten geschrieben. Ein sehr raffinierter Film, der mich in eine andere Zeit entführt.
Sie waren Jurist am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Welche Beziehung hatten Sie zu Adorno?
Wir waren befreundet, aber als Autor hat er mich nicht ernstgenommen.
Haben Sie ihm was vorgelegt?
Natürlich, aber ohne jeden Erfolg. Er hat mich als Assistent zu Fritz Lang vermittelt, um mir das Schreiben abzugewöhnen und er wieder einen guten Juristen hat.
Sie verehren ihn?
Er war ein großer Mann. Ich spreche mit ihm, auch wenn er tot ist. Die sind ja alle nicht tot. Auch Ovid ist nicht tot. Wenn Sie seine „Metamorphosen“ lesen, merken Sie als Autor, dass Sie einen vertrauenswürdigen Kollegen haben. Sie sind nicht so gut wie der, aber Sie können alles, was der vor 2.000 Jahren gemacht, noch einmal machen.
Was hat Adorno vom Fernsehen gehalten?
Gar nichts, er hat es gar nicht wahrgenommen. Wenn er etwas darüber geschrieben hätte, wäre es sicher schrecklich gewesen. Er hatte immer eine leicht defätistische Linie, die ich nicht teile. Ich bin etwas optimistischer.
Vielleicht, weil Sie ein Meister der kleinen Form sind und Adorno den großen Überblick suchte?
Adorno liebte die Moderne, und die neigt zu Fragmenten. Als Webern seine Symphonie in Wien aufführte, musste er sie dreimal spielen, weil die Leute dachten, das Orchester sei noch beim Stimmen. Auch Adorno arbeitet in den „Minima moralia“ fragmentarisch, und aus den Fragmenten spiegelt sich etwas Großes. Ich würde aber Scheu haben, eine Theorie darüber zu legen, wie Adorno das gemacht hat. Da haben Sie schon recht.
Ihre Methode ist es, die Welt aus Splittern zu erzählen.
Walter Benjamin hat die Autoren mit Fledermäusen verglichen. Das sind die lautesten Tiere in der Nacht, und gleichzeitig nehmen sie die feinsten Echos auf. Das ist meine Arbeitsweise. Aus kleinsten Elementen und Splittern kann man große Bögen schlagen.
Woher kommt Ihre Liebe zur Oper?
Mein Vater hat im Krieg nachts immer „Radio Roma“ gehört. Ich saß als Junge daneben. Die Oper war für mich der Trost in der Trostlosigkeit des Krieges. Musik und Film sind Verwandte, und man spricht vom Kino als der Oper des 20. Jahrhunderts. Es gibt 80.000 Opern, aber nur 70 davon werden gespielt. Die Oper hat die Menschheit seit Galilei begleitet. Alle Irrtümer und Tugenden und Errungenschaften der Menschheit sind irgendwann einmal Oper geworden. Vom Film kann man das noch nicht behaupten.
Sie machen Filme, schreiben Literatur und mit Oskar Negt soziologische Texte. Wie bringen Sie das alles zusammen?
Ich mache alles gründlich und nacheinander. Niemals zwei Sachen gleichzeitig. Mein Interesse ist in allen Medien das gleiche, nur kommt etwas Verschiedenes heraus. Eine gute Erzählung ist poetisch, und Poesie, die keine Information enthält, ist etwas Furchtbares. Das ist der Kern meines Glaubensbekenntnisses.

Interview: Heinrich Schwazer