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Gerhard Richter zeigt den Winter

Von PHILIPP HOLSTEIN | Quelle Rheinische Post 21.10.2010 Kultur A7 | | Interviews

INTERVIEW Alexander Kluge über seine Zusammenarbeit mit Gerhard Richter. Die beiden 78-Jährigen veröffentlichen in diesen Tagen das gemeinsame Foto- und Geschichten-Buch ,,Dezember". Zu besichtigen ist ein berührendes künstlerisches Freundschaftswerk.

DÜSSELDORF Gipfeltreffen in Sils Maria: Deutschlands berühmtester Maler Gerhard Richter und Großdenker Alexander Kluge verwirklichten im Hotel ,,Waldhaus" an Silvester 2009 ein gemeinsames Projekt. Richter fotografierte im Engadin, Kluge schrieb Kalendergeschichten zu den Aufnahmen. Jeder Text stellt ein Ereignis aus der Historie in den Mittelpunkt. Aus der Zusammenarbeit der beiden 78-Jährigen ist nun der Band ,,Dezember" hervorgegangen.

Wie ergab sich Ihre Zusammenarbeit mit Gerhard Richter?

Alexander Kluge Unsere Familien kennen sich, weil wir Silvester stets im ,,Waldhaus" verleben in Sils Maria.

Ein berühmter Ort.

Kluge Da haben schon Hermann Hesse, Adorno und Thomas Mann gesessen, weil es so einzigartig ist. Richter und ich haben festgestellt, dass er am 9. Februar 1932 und ich am 14. Februar 1932 geboren wurde. Das heißt, wir sind Zeit—Cousins. Wir gucken in ähnlicher Weise auf das Jahrhundert.

Sie haben beschlossen: Wir machen etwas, das von diesem Ort ausgeht.

Kluge Richter hat im Dezember 2009 die Aufnahmen gemacht, die Sie im Buch sehen. Jeden Tag eine. Er arbeitet immer, er ist kein Mann, der Urlaub macht oder in Pension geht.

Magische Bilder

Kluge Sehr magisch. Und tief. Kann man dazu nicht Geschichten erzählen?, fragte ich. Und zwar zu den Entstehungsdaten. Da der Dezember 31 Tage hat, wären das also 31 Geschichten. Und dazu habe ich noch einen Ausblick geschrieben, Texte über das Jahresende an sich.

Ursprünglich wollten sie gar nicht die ,,Dezember"-Bilder verwenden.

Kluge Nein. Ursprünglich wollten wir die ,,Grönland"—Bilder nehmen.

Die bisher nicht veröffentlicht sind.

Kluge Richtig. Es sollte um Kälte gehen, um kalte Länder. Aber Richter hat gesagt: Nein! Er ist ja Purist, es kann nicht gut genug sein und darf keine Fransen haben. Und zu den Grönland-Bildern wollte er keine Worte. Die sollen für sich stehen. Also die aus Sils Maria. Da habe ich alle Freiheiten bekommen von ihm: Ich durfte die Themen ausdehnen bis zu den Mammuten in der Kaltsteppe 21000 Jahre vor Christus und bis ins alte Griechenland.

Sehr schön ist die Gorbatschow-Episode zum 2. Dezember.

Kluge In der er 1991 im Kreml ein Tablett mit Kaffee bestellt und sein Erinnerungsbuch zu schreiben beginnt. Daran merkt sein Assistent: Es ist zuende. Jaja, ich mochte den Mann. Die ganze Glasnost- und Perestroika-Periode.

Hat Richter Ihre Texte kommentiert?

Kluge Gerhard Richter kann sehr streng werden, wenn ihm eine Geschichte nicht gefällt.

Wie hört sich ein strenger Gerhard Richter an?

Kluge Er sagt, das passt nicht, das musst du neu schreiben. Aber nehmen Sie mal die nächste Geschichte: 3. Dezember 1931. Eisregen über Mecklenburg. Eine wahre Geschichte: Hitler in seinem Mercedes wäre auf der Rückfahrt von der Goebbelsschen Hochzeitsgesellschaft beinahe auf einer Eisstraße mit einem Wagen zusammengestoßen und verunglückt. Damals waren Richter und ich schon in den Bäuchhen unserer Mütter. Wir wären also unter Umständen ohne Hitler gehoren worden. Da waren 40 Zentimeter zwischen Zusammenprall und Nicht-Zusammenprall.

Schicksal?

Kluge Nein. Der Teufel hat die Hand dazwischen gehalten.

Bei Dante steckt der Teufel bis zum Bauch im Eis-See.

Kluge Bei ihm ist die Hölle nicht heiß, sondern kalt.

Kälte ist grausam.

Kluge Es gibt eine Kinder-Geschichte von Richter, die mich berührt.Der Vater kommt zu Heiligabend aus dem Krieg zurück. Die Mutter war ihm nicht treu, die Kinder wissen das. Sie petzen nicht. Aber sie singen das Lied ,,Nur wer sich lieb hat, der bleibt sich treu". Die Mutter bekommt eine Gänsehaut.

Kannten sie Richter früher schon?

Kluge Nein. Ich wusste natürlich, was seine Bilder sind. Eines Tages sitze ich im ,,Waldhaus" und schreibe Da kommt er auf mich zu und sagt: Ich bin Gerhard Richter. Und dann unterhalten wir uns.

Wann war das?

Kluge Vor drei Jahren. Das war sehr schön. Wissen Sie, künstlerische Arbeit macht einsam.

Sie sind doch nicht einsam.

Kluge Ich habe meinen Enzensberger, mit dem ich reden kann, und Durs Grünbein oder Reinhard Jirgl. Mit dem schreibe ich Geschichten. Ich bin nicht ohne Kooperation. Aber ich habe ein starkes Bedürfnis nach Geselligkeit. Wie ein Kind. Nach dem Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 war das schlimmste Bedauern nicht darüber, dass das Haus kaputt war, sondern dass ich es am Montag nicht in der Schule erzählen konnte.

Richter ist für Sie eine Art...

Kluge ...Schulkamerad. Das kaum man ruhig so ausdrücken.

Die Bilder haben etwas Märchenhaftes. Durch Ihre Texte kippt die Wirkung ins Unheimliche.

Kluge Das sind zwei Welten. Ich kann dem Affen Zucker geben. Ich kann dramatisieren. Richters Fotos hingegen, diese ruhigen, magischen Ewigkeitsbilder, lassen sich durch nichts erschüttern.

Was bedeutet Winter für Sie?

Kluge Die Lichter erleuchten die Fenster. Hinter jedem Fenster ist etwas Lebendiges. Der Dezember ist nicht nur kalt. In ihm scheint etwas zu gipfeln. Etwas kommt an. Advent. Heilig oder unheimlich.

Was sehen Sie in Richters Bildern?

Kluge Ich finde die Bilder mit den farbigen Blättern berührend. Ich deute die Verschränkung der Bäume im Engadin als Dickicht. Das erinnert an die Hecken von Dornröschen. Da spielt die dreizehnte Fee eine Rolle. Sie wurde ausgeschlossen. Daraufhin hat sie das ganze Schloss in Schlaf versetzt. Auch das ist im Dickicht der Bilder enthalten. Aber ich würde mich hüten, Richters Bilder mit Worten zu deuten.

Man muss die Bilder ansehen.

Kluge Man muss sie schauen.

 

Die Künstler

Alexander Kluge ist Filmemacher, Schriftsteller und TV-Produzent. Sein literarisches Hauptwerk ist die Sammlung „Chronik der Gefühle" (2000). Er lebt in München.

Gerhard Richter ist Maler, Bildhauer und Fotograf. Richter gilt als wichtigster lebender Künstler. Er lebt in Köln.