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Die Macht der Geschichte

Von Mariam Lau | Quelle Die Welt 12.05.03 Kultur/Literatur | | Presse

Der Schriftsteller, Essayist und Filmemacher Alexander Kluge erhält den diesjährigen Büchnerpreis

Vor zehn oder fünfzehn Jahren hätte man auf bestimmten Straßen Berlins noch haufenweise Leute getroffen, die Bücher von Alexander Kluge lasen oder das zumindest behauptet hätten. Das ist vorbei, hinweggerafft vom letzten Paradigmenwechsel. Dabei gab es mit ihm nie eine große "Abrechnung"; er gehört nicht zu denen, an die man mal "geglaubt" hat und dann nicht mehr. Er hatte keine Botschaft.

Vor kurzem fiel sein Name, als vom "Bombenkrieg" die Rede war, und von dem Tabu, darüber zu sprechen. Sollte es ein solches je gegeben haben - Alexander Kluge hat es nie respektiert. Die Bombardierung seiner Heimatstadt Halberstadt, wo Kluge 1932 geboren wurde, war für ihn das biografische Urerlebnis schlechthin. Es beschäftigt ihn seit mehr als vierzig Jahren, seit "Abschied von Gestern", seinem ersten abendfüllenden Film aus dem Jahr 1966. Das Wort "Stalingrad" fällt auch heute noch in fast jedem seiner Interviews; wir haben uns angewöhnt, Wetten auf die Zeit abzuschließen, die er brauchen wird, den Gesprächspartner in seiner Vox-Sendung "10 vor 11"dorthin zu locken.

Kluge interessiert sich dabei nicht für "Gerechtigkeit" oder "Kontext", seine Filme und Bücher, in denen Gefundenes, Erzähltes, Nachgespieltes nebeneinander stehen, wollen vor allem Erfahrung zu Tage fördern. Er hat immer darauf bestanden, sich für das Materielle zu interessieren, vor allem für Körper. In "Geschichte und Eigensinn" finden sich deshalb Konstruktionszeichnungen für Walzstraßen, Gewichtsvergleiche zwischen einzelnen Organen oder auch Frauen und Männern (Frauen bestehen zu 60 Prozent aus Wasser).

Ein Ausschnitt seiner im Jahr 2000 veröffentlichten "Chronik der Gefühle" illustriert, wie Kluge komponiert: "Der kurzbeinige Stefan Boltzmann hatte nach Einnahme einer Mahlzeit seine von Fußpilz zerstörten Zehen betrachtet (noch in der Bunker-Balka), wieder die Füße in Lappen und Stiefel eingepackt und presste jetzt seit 6 Uhr früh seinen festen Hintern auf das Krad. Da er etwas gegessen hatte, fürchtete er, während der Verdauungszeit wieder einen Bauchschuss zu erhalten, der bei vollem Darm tödlich war - andererseits fürchtete er aber ebenso sehr Nüchternheit, beziehungsweise leeren Magen und Darm, die ihm die Nachtstunden vergällten. Heute früh hatte v. Ungern-Sternberg gesagt: "Die Schlacht ist verloren'."

Man hörte hier - höchstwahrscheinlich - einem Wehrmachtssoldaten beim Denken zu, in Todesangst und Banalität. Wer würde sowas Revanchismus nennen?

Mit "Geschichte ohne Oberbegriff" hat Kluge seine Interessenlage benannt. Theorie und Literatur, Autor und Produzent, Fakt und Fiktion - solche Trennungen hat der gelernte Jurist dabei mit Begeisterung verwischt. Obwohl er sich nicht zum Erzieher eignet, hat er Scharen von Publizisten aller Provenienz zum Vorbild gedient, unabsichtlich wie Charlie Chaplin, der in "Moderne Zeiten" eine rote Signalfahne von einem LKW pflückt und sich im nächsten Moment an die Spitze einer aufgebrachten Volksbewegung wiederfindet.

Nach dem Assessorexamen studierte Kluge neben Jura auch Geschichte und Kirchenmusik, zum Teil bei Adorno, dessen Schule der Kritischen Theorie er sich auch bis heute verpflichtet zeigt - allerdings ohne deren Kulturpessimismus zu teilen. "Alle Filme sind Überlebensfilme", hieß es in einem der Manifeste, mit denen er und seine Mitstreiter in den sechziger Jahren Papas Kino zu Grabe trugen. "Alle Gefühle glauben an ein Happy End".