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Der Zauberer

Von Arno Widmann - FR-online.de | | Presse

Kluge erhält den Adorno-Preis

Neugieriger ist keiner. Keiner kann mehr als er. Heute Abend überreicht Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth ihm den Theodor W. Adorno Preis. Der Medienphilosoph Friedrich Kittler wird die Laudatio halten und danach wird er selber sprechen. Er wird die Anwesenden wieder jenes drängende Raunen hören lassen, dem viele von ihnen seit seinen ersten Filmen verfallen sind. Er trägt damit wunderbar blühenden Unsinn ebenso berückend vor wie die vertrautesten Wahrheiten. Noch der kältesten Analyse atmet er so ein unsere Fantasie beflügelndes Leben ein. Er könnte das Telefonbuch uns vorlesen, und wir glaubten uns in Tausendundeinenacht. "Überzeugen ist unfruchtbar" notierte Walter Benjamin.


Verführerischer Sound


Alexander Kluge kennt die Gefahr der Unfruchtbarkeit nicht. Er ist ein Verführer. Er will glauben machen. Man soll ihm erliegen. Ihm? Nein. Seinen Geschichten? Schon mehr, aber in Wahrheit seinen Gedanken und der geschwinden Zierlichkeit, mit der er sie zu Papier, in die Kamera und vors Mikrofon bringt. Kluge will wissen. Mikro- und Makrokosmos, die Sprachen der Liebe und der Macht, Gehirnforschung und der Sang der Delfine. Alte und neue Kriege und immer wieder das Kraftwerk der Gefühle, seine geliebte Oper.

Vor bald vierzig Jahren machte er mir, dem dünnbartigen SDS-Studenten, den Vorschlag, wir sollten uns eine Weile hinsetzen und einfach ein Inventarium der Probleme erstellen, eine Auflistung all dessen, was der Fall sei, eine Bestandsaufnahme der Lage also. Er sagte es leise und sehr deutlich. So sprechen Verschwörer. So spricht man, wenn man sich daran machte, der übermächtigen Gegenwart die Maske vom Gesicht zu reißen.

Mit der Arroganz der Dummen hielt ich ihn für verrückt. Wie sollte man alles auflisten? Wie sollte ein Überblick herzustellen sein durch eine Liste? Die Theorie, so dachte ich, die schafft Übersicht. Die Liste bildet nur das Chaos ab. Der Mann spinnt. Er rennt einer Chimäre hinterher. Er wird sie nie zu fassen kriegen. Des Ganzen wird man nicht habhaft mittels des Einfangens der Teile.

Später neigte ich dazu, Kluges nächtlichen Vorschlag als mephistophelische Versuchung zu betrachten. Er wollte mich aus dem Gehäuse meiner marxistisch-leninistischen Dogmatik herauslocken. Bei der Arbeit an der Liste sollte ich merken, wie gebrechlich das Theoriegebäude war, von dem ich glaubte, dass es mir und der Welt Halt geben könnte. Das mag so gewesen sein.

Die Wahrheit aber ist: Alexander Kluge arbeitet unermüdlich an dieser Liste. Er hat sich eigens eine Organisation geschaffen, die es ihm erlaubt, diese Liste mit immer neuen Beobachtungen zu füllen. Die Organisation heißt dctp. Er ist ihr Generalsekretär. In ihrem Auftrag befragt er Wissenschaftler, Künstler, Politiker nach ihren Erkenntnissen, nach ihrem Blick auf die Welt. Er hat sich im Laufe der vielen Jahre so seine eigene Enzyklopädie geschaffen. Kaum ein Neugieriger hat es so weit gebracht.

Zu Kluges Neugierde gehört freilich auch seine Begabung, so lange auf seine Gesprächspartner einzureden, bis die aufgeben und nicht mehr ihm etwas mitteilen, sondern nicken zu dem, was er ihnen sagt. Er sagt nicht, was er immer schon dachte. Er sagte ihnen, was er aus ihren Gedanken gemacht hat. Es sind jetzt Kluge-Gedanken. Gelähmt vom schmeichlerischen Gift seiner Zuwendung, eingesponnen in die Mammuterzählung, zu der seine Listen sich zusammenschließen, geben sie ihr Eigenleben auf und ersticken in Kluges Umarmung.

Kluge ist der Ovid unserer Zeit. Er schildert durch Tausende von Geschichten, die alle von Verwandlungen erzählen, wie wir wurden, was wir sind und wie wir niemals die Hoffnung aufgeben, auch da wieder herauszukommen. Ein einfacher, klarer Kopf kann nicht mehr als drei Seiten Kluge pro Tag lesen. Danach gibt es nur noch Rauschen. Adorno sprach von der großen Blochmusik. Der Kluge-Sound ist dem nahe verwandt. Man lese die ersten Sätze des Vorworts zu seinen 2006 erschienenen "350 neuen Geschichten": "Vor 630 Millionen Jahren war die Erde ein eisverkrusteter Ball, snowballearth. Kein Ort für Lebewesen.

In den Lücken des Eises hatten sich unsere Vorfahren für Millionen Jahre zur Verteidigung eingerichtet, Lebenskraft gestaut. Jetzt löste sich der Bann, der Planet erwärmte sich. Die Lebewesen breiteten sich über den Erdball aus, zu Wasser, zu Lande. Dies war die Erste Globalisierung. Von diesem Glücksfall tragen wir einen Hoffnungsvorrat in uns, in den Knochen, den Augen, den Ohren, in unserem Gehirn, auf der Haut, in jeder Regung." So raunt in einer Ecke des Bazars der Märchenerzähler, der uns daran erinnern möchte, dass wir mehr sind als der Mehrwert, den wir schaffen und von viel, viel weiter herkommen als man uns weismachen möchte und dass wir eine Vergangenheit haben, die ebenso alt ist wie das Universum selbst.

Nur keinen Lärm


Kluge sagt das leise. Er misstraut dem Lärm. Aber er sagt es auch leise, weil er zu klug ist, seinen Geschichten nicht auch zu misstrauen. Die philosophisch geschulten Frankfurter unter seinen Zuhörern haben den Bann und die Hoffnung gehört. Sie lächeln. Er hat sie ein klein wenig beglückt damit, dass er Adorno und Bloch so nahe zusammengeführt hat. Andere wieder amüsiert die altmodische Delicatesse, mit der er das Geschlechtsorgan nicht nennt und statt dessen von der Regung spricht. Das gibt dem Text einen erotischen Schmelz, der dem schnellen Leser, der nicht den Kluge-Sound im Ohr hat, entgeht.

Wir gratulieren dem Filmemacher, dem Fernsehenzyklopädisten, dem Erzähler, dem ausgefuchsten Juristen, dem Organisationsgenie Alexander Kluge zum Adorno-Preis und bekennen: Er ist der Zauberer.