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Der Intellektuelle

Von Thomas Rothschild | Quelle faust | | Rezensionen

Mit dem Begriff „Intellektueller“, wenn er nicht gar in abwertender Bedeutung verwendet wird, treibt eine maßstablose Öffentlichkeit Schindluder. Sie ordnet ihm Menschen zu, die noch nicht einmal besonders intelligent sind, aber das allein reichte nicht aus, sie zu Intellektuellen zu machen, wie es in der jüngeren Vergangenheit Persönlichkeiten wie Jean-Paul Sartre, Bertrand Russell oder Hannah Arendt waren. Wenn es heute in Deutschland einen Intellektuellen gibt, dann ist es Alexander Kluge. Er ist es nicht wegen seiner Vielseitigkeit als Filmemacher, Schriftsteller, Interviewer und Medienavantgardist, sondern wegen der Komplexität seines Denkens, das stets politisch, stets theoretisch fundiert und auf die Praxis gerichtet ist.

Es ist Kluges Überzeugung, dass die Wirklichkeit gewaltige Stoffmengen bereit hält, die nur darauf warten, erzählt zu werden. Dass sie erzählt werden, ist für ihn ein moralisches wie politisches Postulat. Sie bewahren eine Vergangenheit – etwa die Katastrophe von Fukushima –, die zur Bewältigung der Zukunft nutzbar gemacht werden muss. Die ungeheure Fülle an Einzelheiten, die in unserem Jahrhundert noch mehrfach potenziert wird, auf die Kapazität des einzelnen Menschen zurechtzustutzen, ist nach Kluge die Aufgabe der Literatur oder des Films. Man erkennt: Kluge ist einem „Realismus ohne Ufer“ verpflichtet, er geht vom Thematischen aus. Eine Literatur der selbstwertigen Sprache kommt nicht in sein Visier, obwohl er immerhin Kurt Schwitters, Arno Schmidt, Hans G Helms und – fast möchte man sagen: „natürlich“ – mehrfach James Joyce nennt. Er zitiert Mandelstam, nicht Chlebnikov. Wobei man bei diesem wie bei jenem wie überhaupt bei Lyrik über die Brauchbarkeit des Begriffs „Erzählung“ streiten kann. Kluges vier Vorlesungen aus dem Jahr 2012 tragen noch nicht einmal den Titel „Theorie des Erzählens“, sondern „Theorie der Erzählung“, und die Bedeutung von „Theorie“ schränkt Kluge gleich zu Beginn ein.

Wenn Alexander Kluge an der Universität Frankfurt eine Poetikvorlesung hält, also sich auf akademischem Boden den Bedingungen der Wissenschaft ausliefert, dann unterscheidet sich das nicht grundsätzlich von seiner poetischen Produktion. Kluges Vortrag, der sich durchaus den Prinzipien der Wissenschaft verpflichtet weiß – der Intersubjektivität, der Überprüfbarkeit, der Rationalität –, wird zu Literatur durch seine Ellipsen und seine Metaphorik. Anders aber als die französischen Philosophen der vergangenen Jahrzehnte und ihre hochstapelnden Epigonen deutscher Sprache, zielt Kluge nicht auf Vagheit, auf bedeutsam klingendes Blendwerk, auf Paradoxe um ihrer selbst willen (die Dialektik mit dem Paradox verwechseln), sondern auf die Verkürzung nachvollziehbarer Zusammenhänge. Seine scheinbaren Gedankensprünge, seine assoziativen Verknüpfungen folgen einer plausiblen Logik, die dem Zuhörer allerdings eine fundierte Bildung abverlangt. Wer nicht weiß, wofür die einzelnen Chiffren stehen, ist da verloren. In Alexander Kluges Vorlesungen vereinen sich das Denken als eins der größten „Vergnügungen der menschlichen Rasse“, von der Bertolt Brechts Galilei spricht, und die Schönheit der Dichtung. Denn Kluge gelingt es, für das Reden über Literatur eine dichterische Sprache zu finden, die nicht Mimikry betreibt, nicht ihren Gegenstand nachahmt.

Die Einheit von Denken und Emotion, von Wissenschaft und Dichtung ist für Kluge selbst auch ein Thema. Er liest nicht nur Texte von Hegel oder Kant als Poesie, sondern auch die Mathematik und greift damit den Topos vieler Mathematiker von der „Schönheit einer mathematischen Formel“ auf, zu deren Konstituenten die Einfachheit zählt. Kluge entdeckt überall „Erzählung“, in der angesammelten Menschheitserfahrung ebenso wie im Alltagsgespräch in einer Kneipe des Ruhrgebiets oder Sachsenhausens. Auch das gehört zu Kluges Intellektualität: die Neugier und der Respekt vor dem Wissen anderer. Goethes viel zitierter Spruch aus „Faust I“ „Was du ererbt von deinen Vätern hast,/ Erwirb es, um es zu besitzen“, versteht Kluge in einem engen, fast biologischen Sinn. Wir haben das Wissen unserer Vorfahren bis zurück zu den Menschenaffen sozusagen in den Genen. Aus dieser Haltung ergibt sich eine Bescheidenheit, die Kluges Ausführungen, so komplex sie sind, wohltuend von der üblichen akademischen Eitelkeit unterscheiden, die noch die dürftigsten Banalitäten als originelle Erkenntnis ausgibt. Ausdruck von Kluges Bescheidenheit ist auch die unverhohlene Bewunderung für Zeitgenossen, für Heiner Goebbels, Einar Schleef oder Jean-Luc Godard. Von Kluge bewundert zu werden, kann als intellektueller Ritterschlag gelten. Despektierlich äußert er sich nur über „Wetten, dass..?“ oder „RTL Samstag Nacht“. Die Kehrseite von Kluges beeindruckender Ernsthaftigkeit allerdings ist eine weitgehende Humorlosigkeit und völlige Ironiefreiheit. Es scheint, als käme ihm jeder Anklang an Spott wie eine Frivolität vor. Den Humor (seinen Humor?) delegiert Kluge an Helge Schneider und Peter Berling.

Zur intellektuellen Redlichkeit Kluges gehört auch der Umgang mit der Vergangenheit von 1968, die zugleich seine eigene biographische Vergangenheit ist. Anders als die Renegaten, die uns überall im Kulturbetrieb und in der Politik begegnen – manche schaffen es gar zum Ministerpräsidenten –, erinnert er sich mit Achtung daran, ohne deshalb auch nur andeutungsweise unkritisch oder nostalgisch zu sein. Die Mahnung von Schillers Marquis Posa hat er sich zu Herzen genommen: „Sagen Sie/ Ihm, dass er für die Träume seiner Jugend/ Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird“. Es ist mehr als eine Reverenz an den Geist des Ortes, wenn er gleich zu Beginn seiner Vorlesungen Adorno erwähnt.

Braucht man dafür die DVD? Ja, man braucht sie. Nicht so sehr wegen der Vorspanne, die Alexander Kluge in seiner unverwechselbaren Kombination von Schrift und Bild, seiner eigenwilligen Montage gestaltet hat – sie können die Folgen seiner Fernsehproduktionen nicht ersetzen –, sondern weil es ein Vergnügen ganz eigener Art ist, diesem Intellektuellen beim Sprechen nicht nur zuzuhören, sondern auch zuzusehen. Und ein nicht geringeres Vergnügen ist es, in den kurzen Zwischenschnitten die Konzentration in den Gesichtern der Zuhörer zu betrachten. Auch das ist, ganz im Sinne Kluges, Poesie.

Thomas Rothschild

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