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Der Chronist der Gefühle

Von Daniel Schössler - Kulturzeit | | Presse

Alexander Kluge erhält den Adorno-Preis

Der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge erhält am 11. September 2009 den mit 50.000 Euro dotierten Adorno-Preis der Stadt Frankfurt. Die Jury würdigte den 1932 in Halberstadt geborenen Kluge als einen "herausragenden Schriftsteller, Filmemacher und Theoretiker der Gegenwart". Kluge habe sich immer zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule bekannt und sei ein "Meister der Grenzgänge in verschiedenen Genres".

Vieles bleibt bei ihm Fragment: Andeutung und Ausschnitt einer Wirklichkeit, deren Wahrnehmung brüchig und flüchtig geworden ist. Sein Werk ist klassisch modern, sein Denken wild und berüchtigt. Wer ist dieser Mann? Er selbst stellt sich so vor: "Mein Name ist Alexander Kluge. Ich bin Buchautor und Filmemacher, aber nicht zur gleichen Zeit. Ich konzentriere mich immer auf das, was ich gerade mache. Insofern mache ich nie etwas Verschiedenes."


Die Wildheit der Empfindung

© dpa 

Bestens aufgelegt bei der Berlinale 2002

Kluges neues Buch, "Labyrinth der zärtlichen Kraft", handelt von der Liebe. Oft geht sie seltsame Wege, folgt nicht der Vernunft, sondern eigenen Gesetzen: Liebe im Verhältnis zur Geschichte, Irrungen, Wirrungen, die Erhabenheit des Gefühls sind Themen des Buches. Ist die Liebe Inbegriff der Freiheit? Oder untersteht sie dem Diktat der Herrschaft? "Bei Bizet, in 'Carmen', heißt es, die Liebe ist ein rebellischer Vogel, den man nicht zähmen kann,“ so Kluge. "Das hat eine gute Eigenschaft, sie ist immer ein Partisan gegenüber jeder Herrschaft. Die Herrschaft blamiert sich, wenn sie versucht gegen die Liebe vorzugehen. Aber auf der anderen Seite ist es auch sehr schwer, Versprechungen abzugeben und auf Liebe zu gründen. Wie kann ich zu mir selbst treu sein, wie kann ich zuverlässig sein, auch aus Selbstliebe zuverlässig sein, und gleichzeitig die Wildheit der Empfindung respektieren?"


Ein Rückblick in die wilden 1960er: In Frankfurt am Main herrscht die Kritische Theorie und der studentischer Widerstand. Alexander Kluge arbeitet als Jurist am Institut für Sozialforschung. Dort, wo sich Adorno und Horkheimer mit Kernfragen des Lebens und der Erziehung nach Auschwitz befassten, begann Kluge das Schreiben. Wenig später sollte Fritz Lang Kluges Interesse wecken. Adorno vermittelte ihm ein Volontariat: ausgerecht beim Film, den Adorno verachtete.


Kluge geht zum Film

"Adorno hat zu dem Zeitpunkt, als er mich zu Fritz Lang brachte, nicht an den Film geglaubt, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass Film ein Kunstwerk wäre," erzählt Kluge. "Er hat gesagt, dass Walter Benjamin, der den Film als neue Technologie und Ende des auratischen Kunstwerks feierte, übertreibt. Und gemessen an der Musik und den 2000 Jahren Literatur, der Vertrauenswürdigkeit der Bücher, sei der Film ein höheres Tinnef in der Hand von Produzenten.“ Kluge strafte Adorno Lügen - mit einem von Eisenstein beeinflussten experimentellen Dokumentarfilm.


1966 dreht er seinen Film "Abschied von gestern" - ein programmatischer Titel und ein ästhetischer Neuanfang. Ein radikal subjektives Kino, das den Menschen und ihren Geschichten folgt. Kluge befreite sich von den Fesseln filmischer Konventionen, folgte dem Beispiel Godards und der "Nouvelle Vague". Raum und Zeit sind aus den Fugen, Geschichten bleiben Fragmente. Das Resultat ist eine Bestandsaufnahme bundesdeutscher Befindlichkeit vor 1968: trist und fiebrig. Die Hoffnung lag anderswo: Der alte Film war tot, der Glaube an den Neuen Deutschen Film gestärkt.


Intellektueller Eigensinn und ästhetische Provokation

© dpaLupe

Alexander Kluge bei der Verleihung des Deutschem Filmpreises 2008

1977 wird Hanns Martin Schleyer wird ermordet. Zehn Regisseure reagieren mit einer filmischen Kollage auf die veränderte Lage. Eine Geschichtslehrerin gräbt nach den Grundlagen deutscher Geschichte, während ein Türke verhaftet wird, weil er ein Gewehr mit sich führt. Er habe sich nur eine Taube zum Essen schießen wollen, gibt er zu Protokoll. Der Chronist Kluge erzählt Gegengeschichten der Geschichte - macht Marginales sichtbar. Intellektueller Eigensinn und ästhetische Provokation haben seit 1988 einen Namen: DTCP, die "Deutsche Entwicklungsgesellschaft für Fernsehprogramme". Sinnbild der Unterbrechung des Unterhaltungsprogramms durch ein offensives Gegenprogramm. Denken und Spielweisen des Adorno-Schülers Kluge waren im Leitmedium Fernsehen angelangt - ausgerechnet im Herzen der Kulturindustrie: dem Privatfernsehen. Geliebt wurde er dafür nicht, das war aber auch nie sein Anliegen.


Kluges Universum ist unbeschränkt und offen. Sein Projekt heißt "Aufklärung", das Konzept "Freiheit". Im Zentrum stehen der Mensch und seine Gefühle. Sein intellektuelles Koordinatensystem trägt einem modernen Humanismus Rechnung - den wir heute nötiger denn je brauchen. Am 11. September 2009 wird Alexander Kluge mit dem Adorno-Preis 2009 geehrt. Was bedeutet ihm das? "Emotional doch sehr viel. In diesen Adorno bin ich nach wie vor verliebt. Das ist ein Geist, den ich als freundlich empfinde. Und für mich ist der auch nicht tot," meint Kluge. "Ich würde es so sagen: Wenn Sie richtig hinsehen, dann sitzt auf meiner linken Schulter Heiner Müller und Adorno auf meiner rechten - als Freunde - und flüstern mir etwas ins Ohr."