Was ist Qualität im Fernsehen, und wie können wir sie erreichen?

Von Dr. Rainer Stollmann | | Texte

Vortrag Dr. Rainer Stollmann anlässlich des International Congress "Quality on Television" 28.-30.11.2002 in Athen

1. Qualitätsfernsehen ist Fernsehen, das sich mit den langfristigen Interessen der Zuschauer verbündet
Womit man länger zu tun hat, was man täglich braucht, davon verlangt man Qualität. Ein Klempner würde sich weigern, mit einer billigen Rohrzange aus dem Baumarkt zu arbeiten, mit der ein Laie für gelegentlichen Gebrauch zufrieden sein kann. Ein Übersetzer benutzt ein gutes Lexikon und kein knappes für Touristen. Business-men, Politiker tragen erstklassige Anzüge; wer nur für Beerdigungen und Hochzeiten einen braucht, ist mit billigerer Ware zufrieden. Kriterien für Qualität sind also Dauer und Verläßlichkeit. Qualität ist an die langfristigen Interessen der Menschen gebunden, die aber gleichzeitig nicht die Ausnahmefälle, nicht das Besondere sind, sondern ihren Sitz im täglichen Leben haben. Fernsehen, das sich auf die langfristigen Interessen der Menschen bezieht, genauer: sich mit ihnen verbindet, ist Qualitätsfernsehen.

Das heutige Fernsehen hat sich dagegen fast ausschließlich mit den kurzfristigen Interessen der Menschen verknüpft. Kurzfristige Interessen sind: Ich komme erschöpft von der Arbeit nach Hause und will in den nächsten zwei Stunden an nichts Problematisches erinnert werden. Außerdem freue ich mich noch auf den großen Fernsehabend am Samstag, den ich immer mit meiner Frau anschaue, wir trinken ein Gläschen und nachher gehen wir schlafen.

2. Gibt es Qualitätsfernsehen?
Neil Postmans Einsicht, Unterhaltung als quasinatürlicher Rahmen von allem Inhalt zerstöre Erfahrung, ist vollkommen richtig. Andererseits ist die menschliche Erfahrungsfähigkeit harte Materie. Man müsste schon Kinder im Alter von 2-6 Jahren täglich zu sechsstündigem TV-Konsum billiger Comics zwingen, um sie zu ruinieren. Das würden sich Kinder aber nicht so einfach gefallen lassen. Insofern kann man im Durchschnittsfernsehen, auch wenn dessen Haupttendenz auf Missachtung von Erfahrung geht, noch immer und an unterschiedlichsten Stellen den störenden Einfluß langfristiger Interessen beobachten.
Das Fernsehen hatte einmal von sich das Ideal, ein "Fenster zur Welt" in jedem Wohnzimmer zu sein. Es ist vollkommen klar, dass dieses Ideal in 80% der Programmzeit missachtet wurde. Die Verhältnisse auf dem amerikanischen Markt haben aber seit den 70er Jahren dazu geführt, dass dieses Ideal auch noch von den restlichen 20% vernachlässigt wurde. Die Unterhaltungsindustrie, Disney, Warner Bros., Studioproduktionen, Filmverwertung, merchandizing hatten die Tendenz, es auf 100% zu bringen. Das Ergebnis davon war Ted Turners CNN. Ein wirklicher Unternehmer, also jemand, der nicht bloß das Vorhandene verwaltet, findet auf dem Fernsehmarkt die Lücke und bündelt die Realitätsinteressen der Menschen, die es neben den Unterhaltungsinteressen eben auch noch gibt, in einem eigenen Geschäft.
Herkömmliche Unterhaltung schleift auf der Unterseite Fragmente von Lebenserfahrung mit sich. Denn es ist ja nicht so, dass in Schlagern, soap-operas, kitschigen Liebesfilmen, Krimiserien usw. die entscheidenden Lebensinteressen der Menschen nicht vorhanden wären, vielmehr geht es doch gerade im mainstream-TV immer um die große Liebe, den Sinn des Lebens, die Rettung der Welt vor Katastrophen, große Gefühle, aber auch alltägliche Beziehungen. Nirgendwo fallen bedeutungschwangerere Sätze, appellieren die Bilder so an innerste seelische Kerne wie gerade dort. Nur eben: nicht ernsthaft, sondern immer so, als ob man einen Elektriker mit einem Werkzeugkasten aus dem Baumarkt nach Tschernobyl zur Reparatur schickte. Geschieht dies 50 Jahre lang, so machen sich Gegenstimmen bemerkbar. Cartoon-Serien wie die "Simpsons" oder "South Park" halten bemerkenswert lange Berührung mit Geschichte, Kultur, Politik, wirklichen menschlichen Beziehungsverhältnissen. Auch bestimmte late-night-shows stellen im Bruch mit der political correctness, im größeren, historischen und kulturellen Horizont ihrer Themen Alternativen zum prime time entertainment dar, weil sie Erfahrung vermitteln.

Qualitativ kann sich das im mainstream-TV vorhandene Qualitätsfernsehen von den Formen des enterainments nicht weit entfernen. Die "Simpsons" greifen zwar auf die Bildersprache der frühen Comics zurück und beziehen alle möglichen wirklichen Probleme ein, aber sie bleiben doch in Aufbau, Effekten, Dramaturgie und Komik an das Genre gebunden. Der Nachrichtenmarkt enthält eine andere Verzerrung, die aus der Feindschaft und Konkurrenz zum entertainment herrührt. Wir kennen alle die Bilder der Bombardierung Bagdads, die teilweise von Militärkameras aufgenommenen Sequenzen vom serbischen Krieg, und ich bin sicher, dass Verhandlungen zwischen den US-Militärs und CNN zur Zeit im Gange sind, wie man möglichst in Echtzeit über den kommenden Angriff auf den Irak berichten kann. Dem Inhalt nach ganz abgekoppelt von dem, was das entertainment betreibt, kann sich Nachrichtenjournalismus gerade nicht von der Konkurrenz mit dem entertainment freimachen. Wenn die Einschaltquoten bei CNN während katastrophischer Ereignisse höher liegen als bei Spielfilmen oder game-shows auf NBC, ABC, CBS, dann deswegen, weil der wirkliche Krieg spannender ist als ein Spielberg-Film. CNN schlägt Hollywood, weil die atemlose Angstlust, auf die beide im Publikum spekulieren, sich hier auch noch einreden kann, sie habe es mit Wirklichkeit zu tun. Dass CNN inzwischen wieder in den Schoß des entertainments zurückgekehrt ist, entbehrt daher nicht der Logik. Wir können 20 Jahre Nachrichten sehen, uns also permanent über alle Weltereignisse informieren und werden am Ende doch nicht etwas besitzen, das man mit einigem Recht als "politisches", "gesellschaftliches" oder "historisches Bewußtsein" bezeichnen könnte. Der Grund ist die Fragmentierung der Fakten, der fehlende Zusammenhang zur Geschichte, zu einem wirklichen Horizont.

Nun muss man noch nennen die Formate, die in größerer Distanz zum Markt angesiedelt sind und für sich Qualität beanspruchen, "Kultursendungen", "politische Magazine", "investigativer Journalismus", "Dokumentationen", "anspruchsvolle Filme" u.ä., also alles, was Arbeit und Geld kostet, Schwieriges transportiert und geringe Quoten hat. Auch ganze Kanäle wie ARTE, Phönix, XXP, 3Sat, um nur die deutschen zu nennen, die ich kenne, gehören dazu.
Dies ist der Fundus, aus dem ein Qualitätsfernsehen erwachsen könnte. Er macht aber trotz einzelner bemerkenswerter Erfolge wie der "Simpsons" kaum mehr als 10% der - ich glaube, man kann sagen: weltweiten Produktion aus.

3. Warum gibt es nicht mehr Qualitätsfernsehen?
Was haben wir im Fernsehen über den 11. September 2001 gesehen? Zunächst immer wieder die gleichen wenigen zufällig, laienhaft aufgenommenen Bilder. Es war ein Glücksfall, dass diese Bilder unprofessionell sein mußten, sie transportieren in ihrem Zittern, dem schiefen Focus, dem mitgefilmten Nebensächlichen, die Realität des Angriffs auf das WTC viel authentischer als ein CNN-team dies vermocht hätte. Auch die fortgesetzte Wiederholung hat sie nicht beschädigt, man gewann als Zuschauer Zeit, überhaupt zu akzeptieren, dass es sich hierbei um Wirklichkeit handeln konnte. Das professionelle Fernsehen, das darauf folgte, bestand aus Bildern vom Unglücksort, Politiker-Interviews, Experten-Interviews, Kurzbefragungen von Augenzeugen, Abfilmen von offiziellen Trauerfeiern, Talk-Runden und schließlich einem enttäuschenden, weltweit in Prime-Time ausgestrahlten Film über eine New Yorker Feuerwehrstation, der den Eindruck nicht vermeiden konnte, dass die armen Feuerwehrleute an dem Tag völlig hilf- und ratlos gewesen sind. Damals und heute noch immer besteht ein aktuelles Interesse am Terrorismus. Der Begriff wurde in der französischen Revolution geprägt und war positiv auf den neuen Staat und gegen seine Feinde bezogen. Wenn der amerikanische Präsident einen Krieg gegen den globalen Terrorismus erklärt, wäre es dann nicht interessant, etwas mehr über die Ursprünge dieser Sache zu erfahren? Die französische Revolution, die Geschichte der Partisanen, seitliche Fragen wie z.B. die nach Amokläufen, die Frage, was ist überhaupt Krieg, wie wird er definiert, wie entstehen Feindbilder, was ist ein Feind, welche Verhaltensweisen haben Menschen im Umgang mit Feinden entwickelt, oder auch: wie bewältigen Menschen große Katastrophen, was ist überhaupt Trauer, wie sind Menschen sonst mit solchen Schrecken umgegangen usf. Für das alles wäre ein weltweites großes Publikum da gewesen oder ist es vielleicht immer noch. Warum hat kein Fernsehsender einmal einen ganzen Tag oder sogar eine ganze Woche solchen Themen gewidmet? Eine Vielfalt von Formaten wäre dazu möglich gewesen. Es hätte allerdings vorausgesetzt, dass man von dem sechs Wochen im voraus geplanten und in TV-Zeitschriften abgedruckten Programm abgewichen wäre und dass nicht einzelne Redaktionen und Abteilungen ihren Sendeplatz, ihr Ressort und ihren Einfluss eifersüchtig bewachen würden. Zu einer solchen Form von Qualitätsfernsehen sind öffentlich-rechtliche Fernsehsender ihrer hochbürokratischen Struktur nach nicht in der Lage, kommerzielle ihrer mangelnden Kompetenz wegen. Qualitätsfernsehen scheitert nicht am Interesse des Publikums, auch nicht unbedingt an den Marktverhältnissen, und nicht an den Kompetenzen, die unter Journalisten vorhanden wären, sondern an der Struktur der Institutionen. Fernsehsender, ob private oder öffentlich-rechtliche, sind palastartige hochragende Treibhäuser, avancierte technologische Fabriken mit einzelnen Fachabteilungen, die darauf spezialisiert sind, wirkliche Zusammenhänge so zu zersplittern und zu bearbeiten, dass sie den gewohnten Ablauf des Tages, d.h. das Programm nicht sonderlich stören. Sie können auf die den Betrieb eigentlich störende Wirklichkeit nicht adäquat reagieren, ohne ihre Struktur aufzugeben. Um das genauer zu verstehen, kann man z.B. in der Soziologie den Systembegriff (Luhmann) studieren.

4. Was kann man tun, um Qualitätsfernsehen zu stärken?
Rupert Murdoch, größter Medienunternehmer der Welt, spekuliert darauf, China mit dem Fernsehen zu beglücken. In Erwartung dieses Geschäfts seines Lebens vermitteln die weltweiten Sender dieses alten Mannes schon jetzt ein angenehmes Bild von der aktuellen politischen Situation seines prospektiven Geschäftspartners. Die chinesische Führung ist noch unsicher, ob sie dafür der Einführung des westlichen Massen-TV in ihr Land zustimmen soll. Wenn das Geschäft zustande kommen sollte, so handelt es sich dabei nicht um die Errichtung einer Öffentlichkeit für ein Viertel der Erdbevölkerung, sondern um den Durchbruch Chinas in das Zeitalter der Industrialisierung.
Die Digitalisierung (u.a. Glasfaserkabel, Computer, Medienverbund, Satelliten) ist die Fortsetzung von Flugzeug, Auto, Fließband, Hochofen, Eisenbahn mit anderen Mitteln. Das Projekt, das die Medien-Konzerne alle miteinander verfolgen, haben Soziologen treffend "Industrialisierung des Bewußtseins" genannt. Das ist die Modernisierung des Industrieverkehrs, Verkabelung, Dezentralisierung von Arbeitsplätzen. Aber was es wirklich ist, wenn es in zwanzig Jahren fertig sein wird, das weiß heute keiner genau. Wir wissen das ebensowenig, wie sich ein Bauer aus Wales im Jahre 1780 Groß-London im Jahre 1850 oder das englische Eisenbahn-System im Jahre 1890 vorstellen konnte. Es wäre aber für die Geschichte Europas besser gewesen, wenn in die Industrialisierung im 19. Jahrhundert die langfristigen Interessen der Völker stärker eingeflossen wären. Die Explosion dieser Industrie in den Kriegen des 20. Jahrhunderts wäre dann vielleicht weniger grausam ausgefallen. Ich möchte in diesem Zusammenhang erwähnen, daß manche Medien-Theoretiker den metaphorischen Begriff "Informationsbombe" verwenden. Das Fernsehen in einer digitalisierten, globalisierten Welt wird mit dem, was wir heute darunter verstehen, wenig Ähnlichkeit haben.
Im Jahre 1947 gründeten Cartier-Bresson, Robert Capa und andere in Paris die Zeitschrift Magnum, die bis heute Maßstäbe für die Photographie setzt. Etwas Ähnliches ist heute für das Fernsehen nötig, der Aufbau eines Netzwerks unabhängiger Autoren, die an Qualitätsfernsehen interessiert sind. Klassische Öffentlichkeit, das sind die Straßen, Marktplätze, die Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts, das Theater, die Bücher, die Oper, der Film und Teile des Fernsehens, wie wir es kennen. Der Reichtum der Erfahrung und das Geschichtenerzählen sind die Grundlagen der klassischen Öffentlichkeit. Solange ein unmittelbarer Zugang zu diesen Grundlagen besteht, sprechen wir von klassischer Öffentlichkeit. Glanzpunkte der Alltagskultur europäischer Großstädte sind die kleinen Geschäfte, die Passagen von Paris, die Arkaden von Bologna, die Einkaufsstraßen von London, Stockholm und Rom. Wir alle lieben es, dort zu schlendern und die Vielfalt und Abwechslung zu genießen. Daß sich solche Läden gegen die Supermärkte behaupten können, hat mit Tradition, also mit Langfristigkeit zu tun. Diese Straßen ins Fernsehen zu übertragen, ist das Konzept des Autorenfernsehens. Netzwerke von selbstregulativen kleinen Einheiten, die fertige Produkte abliefern und alle zusammen Vielfalt garantieren, statt hierarchischer Säulen von Unterhaltung, Information, Bildung; Abrüstung der leerlaufenden, unflexiblen, zu großen Abteilungen und Redaktionen; Eindämmung des Ausstattungs- und Kostümfernsehens. Autoren-Journalisten sind Arbeiter, Unternehmer und Ladenbesitzer in einem. Das hat etwas mit der Besonderheit der Waren zu tun, die sie herstellen, es sind Phantasie-Waren, auch wenn es Dokumentationen sind. Die Produktion solcher Waren läßt sich im Grunde nicht industrialisieren, sie nutzen sich z.B. durch Gebrauch nicht ohne weiteres ab, sondern können, wie die Filmklassiker, Patina und Aura gewinnen. Das politische Ziel eines Netzwerks von Autoren- oder Qualitätsfernsehen ist ein Drittel des Marktanteils. In Ländern wie Deutschland, Frankreich, England, in denen es kommerzielles und öffentlich-rechtliches Fernsehen gibt, heißt das: 1/3 Privatanbieter, 1/3 öffentlich-rechtliches Fernsehen und ein Drittel Autorenfernsehen.
Wir stehen am Anfang eines neuen Jahrhunderts. Dessen Leitmedium wird ein verändertes Fernsehen sein. Der Kampf um dessen Gestalt, Struktur und Funktion ist noch keineswegs entschieden. Dabei handelt es sich auch nicht lediglich um Geldfragen. Warum sollten Unternehmer nicht an erfolgreichen langfristigen Geschäften interessiert sein, wenn doch das Geschäft mit den kurzfristigen Interessen, wie gerade die Gründer-Krise des Medienmarktes demonstriert, auch kurzfristige Zusammenbrüche nach sich zieht?
Das Hauptproblem, mit dem es Qualitätsfernsehen zu tun hat, ist nicht die Macht des Geldes oder einer ignoranten Politik, sondern die Macht der Gewohnheit: dass fast alle glauben, so etwas sei unmöglich.

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