MIT TIGERSPRÜNGEN IN ANDERE ZEITEN

Von Jörg Becker | Quelle www.ray-magazin.at | | Texte

Alexander Kluges komplettes kinematografisches Werk von 57 Filmen ist nun als DVD-Edition erschienen ­ eine der herausragenden Veröffentlichungen des Jahres.

SAM REMEMBERS PAPA KONG: ein machtvolles Wesen, König Kong, verteidigt sich auf dem höchsten Turm von New York gegen Regierungsflugzeuge, die es angreifen, während es die weiße Frau schützt, und wir wissen nicht, wer diese weiße Frau in der Erzählung ist und warum die Kampfflieger das Wesen trotzdem beschießen. All das ist unwahrscheinlich, etwas Überraschendes, ein Wunder, das sich direktem Verständnis widersetzt: „Wenn Sie alles, was wir nicht verstehen“, sagt Kluge, „im Film zusammenstellen, hätten Sie von der Filmgeschichte mehr erfahren, als wenn Sie den Inhalt der Filme erklären. (...) Die Rollenverteilung, die sich in der Filmgeschichte durchgesetzt hat, gehört nicht zu deren Stärken. Ihre Stärke ist, was sie macht, ohne es zu wissen. Es gibt ein Filmisch-Unbewusstes.“

ISOLATION DES WESENTLICHEN
Film muss es mit einer immer komplizierteren Wirklichkeit aufnehmen, zugleich hat er auf die Wünsche des Betrachters einzugehen, den Anti-Realismus seiner Gefühle anzusprechen und „Magazine des Glücks“ anzusammeln, die ein vertrauenswürdiges „Vaterland außerhalb des Realen“ versprechen (so lauten Titel aus Kluges jüngstem Buch Geschichten vom Kino, 2007; siehe ray 05/07). Die Polarität von Fiktion und Dokumentarfilm war für Alexander Kluge immer ein Scheingegensatz zur Gewöhnung an industrielle Konfektionsware und zur Normierung und Kontrolle des Zuschauers. Dass Film erst im Kopf des Betrachters entsteht und sich in seinen Gedanken vollendet, dass unser Hirn Sinnlichkeit produziert und die Komik dann am stärksten ist, wenn sie von der Kamera in der Wirklichkeit entdeckt wird ­ insbesondere gegenüber den vielen Experten: Bombenentschärfer, Feuerwehrleute oder auch jene Geschichtsverwalter, die in Stuttgart das Stauferjahr 1977 vorbereiteten ­, diesen Ansatz hat Kluge nicht nur in Manifesten vertreten, sondern auch in seinen Filmen unter Beweis gestellt. Bereits ABSCHIED VON GESTERN (1966 mit einem Sonderpreis in Venedig ausgezeichnet) war gegen jenes Hauptabteilungs-Schubladendenken gefilmt, indem Kluge seine Schwester Alexandra mit wenig vorgebendem Drehbuch durch das wirkliche Frankfurt schickte, wie eine Sonde durch die Wirklichkeit, und sie mit einem erfundenen Universitätsdozenten (Alfred Edel) und einer Zimmerwirtin aneinander geraten ließ. „Es ist eine ganz falsche Annahme, dass Kreativität im Film irgendwas ,erfindet‘; vielmehr ,unterscheidet‘ die Filmarbeit normale, wirkliche Verhältnisse von ungewöhnlichen. Sie isoliert das Wesentliche durch Weglassen. Oder sie sagt etwas voraus und stellt das Aufnahmegerät, wie ein Jäger, an die rechte Stelle, lange bevor etwas passiert. Und wenn alles nichts hilft, stellt sie ,ungesehene Erfahrung‘ her durch Rekonstruktion.“ So verlässt sich Kluge etwa in der ungeschriebenen Szene des Streits mit der Zimmerwirtin auf seine Schwester. Im offenen Krach, so Kluge, komme es nicht auf die Worte, es komme auf die Erregung an. Das sei keine Szene, sondern Erinnerung daran, sich rücksichtslos zu äußern.

ABSURDITÄT DES ALLTAGS
Siebenmal umgearbeitet und auf mehrere Filmversionen gezogen hat Kluge seine Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, in -Science--Fiction-Produktionen mit geringsten Mitteln (Radio-röhren simulieren eine Raumschiffarmada) und einen manischen Alfred Edel in der Rolle des Willi Tobler in einen galaktischen Bürgerkrieg des Jahres 2040 geschickt. Über Kluges weibliche Protagonisten ­ seine Schwester Alexandra als Mutter, Abtreibungsärztin und zuletzt politische Aktivistin in GELEGENHEITSARBEIT EINER SKLAVIN (1973), Hannelore Hoger in der Rolle der Leni Peickert als Zirkusdirektorin und insbesondere als die Geschichtslehrerin Leni Peickert (DIE PATRIOTIN, 1979), die mit unbändigem Forscherdrang nach den Trümmern der deutschen Geschichte gräbt ­ zeigt sich immer auch die Absurdität des Alltäglichen, das Dilemma der Kunstproduktion in den „Artisten“ und auch die Ausweglosigkeit der Rolle des Lehrers auf verlorenem Posten, unter Bedingungen, die aufklärerische Erziehung beschränken: „Wer etwas Radikales lehrte, wurde von je gesteinigt oder verbrannt“ (Kluge zum Kurzfilm LEHRER IM WANDEL, 1962).
Das Ideal des Kollektivfilms hat Kluge bis heute nicht losgelassen; in der Durchmischung der Temperamente der Beteilig-ten sieht er eine Forcierung des Autorenfilms. Im inzwischen sprichwörtlichen Deutschen Herbst hat Kluge ­ zusammen mit Schlöndorff, Fassbinder, Sinkel, Brustellin und Heinrich Böll ­ filmisch in den Krieg zwischen Staatsmacht und Terrorismus eingegriffen und zu Innehalten, Reflexion und Abrüstung aufgerufen. Diese Interventionen in die Wirklichkeit hat Kluge als Initiator von Gemeinschaftsproduktionen wie DER KANDIDAT aus Anlass der Kanzlerkandidatur von Franz-Joseph Strauß 1980 (was Gelegenheit bot, Grimms Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein im Sinne politischer Machtergreifung zu interpretieren) und KRIEG UND FRIEDEN (1982) um die Stationierung von Pershing-2-Raketen, die so genannte Raketenkrise 1981­84, fortgesetzt. Dass die bewegenden Erfahrungen jener Jahre nach der Auflösung des Warschauer Pakts ihrer Grundlage beraubt seien, muss Kluge heute in einer aktualisierenden Anmerkung revidieren: „Großer Irrtum! Im Februar 2007 drehen wir auf der Sicherheitskonferenz in München. Die Aufstellung von antiballistischen Raketen in Polen etabliert ein neues ,Raketenszenario‘ zwischen Russland und dem Westen.“

ÜBERRASCHUNG ALS PRINZIP
Eine Auswahl von Fernsehmagazin-Beiträgen aus Kluges Produktionseinheit dctp ist in dieser Edition vertreten, die Gattung der „Minutenfilme“, seit 1988 zu verschiedenen Zeiten für Einzelausstrahlungen im TV hergestellt, befindet sich auf jeder der 16 DVDs als Vorfilme. Zu sehen ist dieses von Kluge revitalisierte Genre auf DVD 14 unter dem Titel „Serpentine Gallery Program“, einer Filmauswahl, die in dem gleichnamigen Ausstellungspavillon im Londoner Hyde Park im Sommer 2006 erstmals öffentlich in einer Art Kinodom gezeigt wurde. Die kurzen Einheiten, die bis dahin TV-Robinsonaden-Existenzen führten, begegneten sich erstmals untereinander, wirkten aufeinander ein wie die Miniaturgeschichten innerhalb der großen Gemengelagen von Kluges umfangreichen Erzählwerken Chronik der Gefühle und Die Lücke, die der Teufel lässt oder wie die Episodenbausteine vor allem in den Kinofilmen, die seit DIE PATRIOTIN (1979) entstanden waren. Sie rühren, erschließen einander wechselseitig. Dieser jüngste „Medienwechsel“ verblüffte den Autor: „Ich verstand jetzt besser, was ein Programm ausmacht. Auch wie Programme des frühen Kinos funktioniert haben müssen. Die erste Beobachtung: Die Minutenfilme, das ihnen folgende Balladen-Magazin, das Bellini-Finale [ein musikalischer Einblick in Bellinis Oper Norma in einer Inszenierung von Werner Schroeter, 2001, Anm.] reagieren aufeinander wegen ihrer Differenz, nicht wegen des Subtextes (den es ebenfalls gibt). Überraschung, nicht Einstimmung als Programmprinzip. Neue Öffentlichkeiten entstehen auch deshalb fast nie ,geplant‘, weil zu ihnen eine weitere Differenz gehört: so fordert die radikale Vermehrung und Verbreitung von Bildern durch die neuen Medien auf der anderen Seite ,große Projektion‘, d.h. einen Versammlungsort für Bilder. Es ist ein Irrtum, dass Öffentlichkeit allein öffentlicher Plätze bedarf. Sie ist vielmehr die Spannung zwischen der Vereinzelung (in der man seine Erfahrungen macht, etwas im Computer entdeckt usw.) und herausgehobenen, gemeinsamen Räumen, die wir öffentlich nennen (das Chatten gehört dazu). Ohne solche Versammlungsorte bleibt Erfahrung ohne Selbstbewusstsein. Ohne Eigenerfahrung bleiben die öffentlichen Plätze leer. Dies ist der Grund, warum wir Minutenfilme ebenso brauchen wie Kinoereignisse, die fünf, 13 oder 52 Stunden dauern. Warum wir für ,dieselben‘ Inhalte eine Großprojektion an einem Hochhaus, Vorführungen in einer Serpentine Gallery oder DVD-Editionen brauchen, die auf Laptop-Bildschirmen laufen.“­ „Die Filmgeschichte begann mit Filmen, die nicht länger als eine Minute dauerten. Heute kommen die klassischen Formen der Filmgeschichte aus der Zukunft neu auf uns zu. Das Kino ist ein Phönix.“

MOMENTE DER STILLE
Die Ein- oder Zwei-Minuten-Filme stehen für pre-Hollywood cinema: die NIAGARA-WASSERFÄLLE oder DER STAPELLAUF EINES OZEANDAMPFERS von 1897, Jahre bevor man wusste, das dieser zu einer Jahrhundertkatastrophe führen kann; der Elefant auf Coney Island, der einen Wärter getötet hatte und nun vor laufender Kamera hingerichtet wird ­ ELECTROCUTING AN ELEFANT von 1903, ein Edison-Film von Edward S. Porter („Noch im folgenden Jahr sahen die Kinobesucher die eineinhalb Minuten des Filmstreifens als aktuell an. Vermutlich empfanden sie es als Beweis, dass sie selbst noch lebten“). Dieser Film zeigt, wie der Koloss arglos seinen Henkern folgt, und ist ein „Extra“ auf der DVD mit dem 1968 in Venedig preisgekrönten ARTISTEN IN DER ZIRKUSKUPPEL: RATLOS, in dem die Dickhäuter schwören: „Wir vergessen nie!“ und das Fundament des Reformzirkusprogramms von Leni Peickert bilden, der Unternehmerin, die niemals aufgibt. Kluge geht zurück zu den Wurzeln der Filmgeschichte, die er beständig variiert: „Die ers-te Wurzel ist das wissenschaftliche Interesse, das mit der Erfindung der Kamera einhergeht. Man wollte wissen, setzt ein Pferd beim Laufen alle Füße gleichzeitig auf den Boden, kann es das überhaupt, oder kann es alle vier gleichzeitig abheben, kann es fliegen? ... Die zweite Schule ist die dokumentarische Schule der Brüder Lumière. Die dritte Schule ist Méliès [die phantastische Form, Anm.]. Und die vierte ist die hinreißende und von nichts in Europa überbotene primitive diversity-Bewegung im frühen amerikanischen Ostküstenfilm. Das sind meine Idole. Für solche Filme möchte ich im Fernsehen einen Platz freihalten. (...) Die Kontemplation ist dem Kino, das der Sensation verwandt ist, eigentlich zunächst fremd. Es gibt sie allerdings als ein Medium der besonderen Überraschung. Das wäre eine fünfte Bewegung, die sich über die gesamte Filmgeschichte verbreitet: diese Momente der Stille, wo ein Film wie ein Haiku, ein japanisches Gedicht, die Stille beschreibt, zur Ruhe kommt. Das gibt es bei Truffaut, bei Godard, das gibt es bei Rossellini und Antonioni, das sind gewissermaßen heilige Zonen des Films. Sie würden von jedem kundigen Kommerzproduzenten rausgeschnitten.“

GEDANKENBLITZE
57 Filme seit dem Jahr 1960 sind hier versammelt, angefangen mit dem Kurzfilm BRUTALITÄT IN STEIN, der angesichts der Nazi-Architektur auf die Ideologie des Systems schließt, bis zum letzten eigentlichen Kinofilm VERMISCHTE NACHRICHTEN (1986), entsprechend den traditionellen ‚faits divers‘ auf der letzten Seite einer Zeitung ein locker gereihter Rohstoff von Ereignissen, die sich in kein anderes Ressort fügen ­ sie bilden gewissermaßen die Schnittstelle zu Kluges dctp-Magazinen. Flankiert wird das Filmwerk von einem Textarchiv auf den DVDs, in dem man neben Erzählungen wie Anita G., der Vorlage für ABSCHIED VON GESTERN (1966), oder Ein Bolschewist des Kapitals, Basis für den Film DER STARKE FERDINAND (1976) über einen grotesken „Fundamentalisten des Sicherheitswesens“, auch Filmentwürfe, Drehbücher und Zeitschriftenbeiträge findet, darüber hinaus zwei inzwischen vergriffene vollständige Filmbücher (als pdf) ­ Die Patriotin (1979) und Die Macht der Gefühle (1984). Bei Kluge ­ „Im Prinzip bin ich Autor“ ­ verschränken sich Schreiben und Drehen, und lesend bzw. schauend erinnert man sich immer wieder an die Fassung im anderen Medium. „Ein Gedankenblitz, der nach 800 Seiten Roman zündet, ist manchmal in einem Minutenfilm prägnant zu erfassen.“ Kluges Filme leben von der verwilderten Form, und man liegt richtig, wenn man an diese Kunst die Erwartung des Unerwarteten richtet. Zunehmend hat Kluge Prismen und Spiegelungen, Blenden und Negativmaterial verwendet, Monitore, Leinwände, Rahmungen, die Mediatisierung und Kanalisierung unterstreichen. Er montiert aus gestellten Szenen und Dokumentaraufnahmen, schneidet aus Stummfilmsequenzen oder Standfotos, mit denen er zum Beispiel Melodramen erzählt, schwarzweiß, viragiert und in Farbe. Bilder von Schlachten, Stalingrad zunächst, der Bombenkrieg und die Strategie von oben und unten; zeitgerafft jagende Wolken, flirrende Lichter in rasender Verdunkelung oder Übergänge aus schwarzer Nacht in den Morgen; Sonaten der Romantik, moderne Komponisten, Technosound; ein Sturm, der über die Steppe pfeift (zu Aufnahmen wie „Der deutsche Kaiser trifft den Wiener Bundesgenossen auf einem zugigen Bahnhof“ in dem Magazin-Beitrag GROSSE REICHE MUSS MAN LEITEN, WIE MAN KLEINE FISCHLEIN BRÄT, 1993, über Dada und den Ersten Weltkrieg). ­ Und immer bricht der Vorstellungsraum auf, setzen Tigersprünge in andere Zeiten an. In Kluges Gespräch mit einem Vorbild, Jean-Luc Godard, im TV-Magazin aus dem Jahr 2001 unter dem Titel Blinde Liebe sagt Godard am Ende zur filmischen Imagination der Geschichte sinngemäß, das Kino denke nicht historisch, es sei ihm nie gelungen, ein Gefühl für Geschichte zu wecken. Die sei vom Film nie gut wiedergegeben worden, lediglich auf spektakuläre Weise. Dafür hätte das Kino erwachsen werden müssen, was ihm nicht erlaubt gewesen sei, und jetzt sei es zu spät. Die Ausnahme dürfte Kluge sein.


Alle Zitate von Alexander Kluge aus dem Beibuch der vorliegenden DVD-Edition: „Neonröhren des Himmels“. Filmalbum von Martin Weinmann und Alexander Kluge. Zweitausendeins, 2007. Sowie aus: „Primitive Diversity. Über frühe Kurzfilme von der Ostküste der USA, das Nummernprinzip und die ,einfache Vielfalt‘ / das Prinzip der Minutenfilme“. Ein Gespräch mit Alexander Kluge von Christian Schulte, in: Alexander Kluge: Der Eiffelturm, King Kong und die weiße Frau. Facts & Fakes 4, Fernseh-Nachschriften. Hg. von Christian Schulte, Reinald Gussmann. Berlin: Verlag Vorwerk 8, 2002.

Alexander Kluge: Sämtliche Kinofilme 1961­2007: 16 DVDs inkl. Bonusmaterial und Beibuch, 116 S. mit zahlr. Abb., s/w und Farbe, im Schuber exklusiv bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 1. Aufl., Juni 2007, ¤ 99,-. Die Edition geht aus einer Koproduktion von Filmmuseum München, Goethe-Institut München und Zweitausendeins hervor. Alle DVDs erscheinen als Einzelausgaben (Doppel-DVD) bei der Edition Filmmuseum.

Soeben erschienen: „Die Bauweise von Paradiesen. Für Alexander Kluge“ mit Beiträgen u.a. von Henning Burk, Miriam Hansen, Claus Philipp und Joseph Vogl (Maske und Kothurn 53/1, Böhlau Verlag) sowie „Alexander Kluge: Magazin des Glücks“, eine Sammlung von Gesprächen mit Kluge während der Salzburger Festspiele 2006 (Springer Verlag).

Ein Dossier zum 75. Geburtstag von Alexander Kluge („Geschichten mit Eigensinn“) erschien in ray 02/07.

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