Fernsehen der Autoren - Die Kulturmagazine der DCTP

Von Dr. Christian Schulte | | Texte

Vortrag Dr. Christian Schulte anlässlich des International Congress "Quality on Television" 28.-30.11.2002 in Athen

Auf das Projekt des Autorenfernsehens hat Rainer Stollmann bereits hingewiesen. Es geht darum, Fenster zu schaffen, in denen die langfristigen Zuschauerinteressen angesprochen werden und Formen bereitzustellen, die der Nivellierung der Programme dadurch begegnen, dass sie die Ausdrucks- und Reflexionspotentiale des Mediums erweitern und so die Aufmerksamkeit und die Neugier der Zuschauer anregen. Fernsehen der Autoren richtet sich gegen die Gewohnheit von Zuschauern, sich als bloße Konsumenten zu fühlen. Davon überzeugt, dass weite Teile der Wirklichkeit (und eben auch große Teile der Fernsehprogramme) aus Verwaltung bestehen, der der einzelne Mensch oft ohnmächtig gegenübersteht, versucht es Modelle zu schaffen, die geeignet sind, eine komplexere Wahrnehmung zu produzieren, und das heißt: Erfahrungshorizonte herzustellen. Das wäre Programmqualität im Sinne des Autorenfernsehens. Diesem Ziel fühlt sich das Fernsehprojekt des Filmemachers, Schriftstellers und Juristen Alexander Kluge, die DCTP, verpflichtet.

Bevor ich dieses Projekt näher beschreibe, möchte ich kurz skizzieren, wie es dazu kam: Als es in der Gründungsphase des dualen Rundfunksystems um die Vergabe der begehrten terrestrischen Frequenzen an die kommerziellen Anbieter RTL (damals RTLplus) und SAT.1 ging, waren diese auf alles vorbereitet, nur nicht darauf, auch Kultur und investigativen Journalismus im Programm zu haben. Genau das aber machte eine Klausel des Mediengesetzes jedem Vollprogramm zur Bedingung. Kluge nutzte diese rechtliche Auflage und gründete am 12. Februar 1987 gemeinsam mit dem japanischen Werbekonzern Dentsu die Firma mit dem polemischen Namen Development Company for Television Program, der sich 1988 auch der Spiegel-Verlag anschließen sollte. Die DCTP entwickelte in kurzer Frist ein Programmangebot, auf das die neuen Sender nicht verzichten konnten und damals wohl auch nicht wollten. Seither garantiert eine eigene Lizenz, die inzwischen mehrfach verlängert wurde, der DCTP und ihren Partnern bei der Gestaltung ihrer Programme, die seit Mai 1988 wöchentlich ausgestrahlt werden, völlige Unabhängigkeit und ihre Unkündbarkeit. Die journalistischen Programmsegmente (Reportagen, Interviews und Dokumentationen) werden vor allem von Spiegel TV beigesteuert, aber auch die anderen Partner Stern, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, BBC sind mit eigenen journalistischen Programmformaten vertreten. Sie verfügen über eigene Redaktionen, die ihre Beiträge in völliger Unabhängigkeit fertig stellen und nach dem Herausgeberprinzip unter den Logo der DCTP ausstrahlen. (Seit Mai 2001 betreibt DCTP gemeinsam mit Spiegel TV den Sender XXP, der inzwischen in sechs deutschen Bundesländern empfangen werden kann.)

Auf seiten der Sender läßt sich eine Ambivalenz gegenüber den DCTP-Programmformaten beobachten: Magazine wie Stern-TV und Spiegel-TV stießen wegen ihrer an traditionellen Magazinformen orientierten Machart und der erreichten Einschaltquoten auch bei den Verantwortlichen des Senders RTL auf positive Resonanz. Die von Kluge selbst gestalteten Kulturprogramme 10 vor 11, News & Stories und Prime Time - Spätausgabe hingegen wurden vor allem vom langjährigen RTL-Chef Helmut Thoma als "Quotenkiller" und "Steinzeitfernsehen" attackiert, Kluge selbst bezeichnete er als "elektronischen Wegelagerer". In diesen überzogenen Reaktionen artikuliert sich ein kaum zu überbrückender Interessenkonflikt, der sich mit den Begriffen Vereinheitlichung vs. Vielfalt bezeichnen läßt: Der Programmstrategie der Sender, die darauf zielt, mit stromlinienförmiger Konsumware ein möglichst großes Segment des neuen Fernsehmarktes zu erobern und zu sichern, setzt Kluge eine Produktionsweise entgegen, die sich bewußt als "Gegenproduktion", als Alternativentwurf zu den Vereinheitlichungstendenzen des konventionellen Fernsehens definiert. Gegenproduktion meint also "praktische Kritik", die Widerlegung von Produkten durch andere Produkte. Der Zuschauer soll vergleichen und auswählen können, was ihn elementar betrifft. Und vor allem: Er soll es selbständig tun, wie ein Autor. Kluges Satz: "Der Film entsteht im Kopf des Zuschauers" gilt auch für seine Fernseharbeiten. Autorschaft in diesem Sinne ist daher nur kollektiv möglich, im Dialog und in Kooperation mit den Erfahrungen der Zuschauer. Aus diesem Grunde richten sich alle ästhetischen Verfahren Kluges gegen die Gewohnheiten des Mediums, gegen den Schein des Fertigen, Abgeschlossenen und Perfekten. "Das alles hat den Charakter einer Baustelle", ist fragmentarisch, der Zuschauer kann sich aneignen, was zu seiner Erfahrung, zu seinem Leben gehört. Nur über eine komplexere Wahrnehmung, so Kluge, entsteht Selbstbewusstsein.
Wie sehen nun die Sendungen aus, die so offenkundig unserer gewohnten Fernseherfahrung widersprechen? Die Kulturmagazine, von denen hier die Rede sein soll, haben drei verschiedene Formate: sie sind 15 Minuten, 25 Minuten und 45 Minuten lang und damit flexibel genug, um die verschiedensten Themen in unterschiedlicher Intensität zu behandeln.
Dabei ist Vielfalt in mehr als einer Hinsicht programmatisch: Einmal haben die Sendungen ein thematisches Spektrum von beinahe enzyklopädischen Dimensionen - Schwerpunkte sind Oper, Film, Philosophie, Soziologie, Theater, Geschichte, Politik, Raumfahrt, Biologie, Gehirnforschung und andere mehr -, zum andern weisen sie eine ästhetische Komplexität auf, die bislang ungenutzte Möglichkeiten des Mediums vorführen. Eine Form, die an Kluges Kinofilme (z.B. an den Film Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit) anknüpft, ist der Montage-Essay. Hier werden Bild-, Ton- und Textfragmente aus den verschiedensten kulturellen Traditionen zitiert und in neue Konstellationen gerückt. Auf vielfache Weise werden die Bilder elektronisch bearbeitet und verfremdet: durch split-screen-Techniken, Rahmungen, Schichtungen, Einfärbungen, Raster, Wechsel zwischen Positiv und Negativ und immer wieder durch Zeitraffer. Zwischentitel und Kreisblenden erinnern an das Zeitgefühl des Stummfilms. Kluge versucht mit allen Mitteln, den Bildern ihre Unmittelbarkeit zu nehmen und darüber aufzuklären, dass die Herkunft der Bilder eine mediale ist. Diese Eingriffe sind auf eine grundlegende Skepsis gegenüber dem Bild zurückzuführen, auf das Bewusstsein von seiner Manipulierbarkeit. So gibt es ganze Sendungen, in denen gar kein Bild zu sehen ist und stattdessen Texte (Balladen oder Moritaten) - graphisch verfremdet - vom Bildschirm abgelesen werden können, begleitet von elegischer, dramatischer oder populärer Musik, wie z.B. Techno. Andere Sendungen folgen dem Nummern-Prinzip, dem Ideal der primitive diversity des frühen Films, der Minutenfilme, den populären Formen der Schlager-Revue, des Varietés oder des Zirkus. Die Sendung Der Eiffelturm, King Kong und die weiße Frau erzählt in einer raschen Abfolge die phantastische Geschichte von der Entführung des Eiffelturms, der plötzlich in den USA wieder auftaucht und nur durch Zauberkraft zurückgeholt werden kann. Parallel dazu wird die Geschichte King Kongs erzählt, der sich mit der weißen Frau auf das Empire State Building rettet und dort den Angriff der Flugzeuge abwehren muß. Die Frage, die eine solche Montage aufwirft, könnte etwa lauten: Was geschieht, wenn Lebewesen oder Dinge, die für Menschen eine Bedeutung haben, an einen falschen Ort geraten? In einer anderen Sequenz sind Ausschnitte aus den dokumentarischen Filmen der Brüder Lumiere zu sehen, die die Attraktionen der Phantasie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Erst diese Mischformen aus Dokumentation und Fiktion ("Facts & Fakes") erzeugen, so Kluge, Realismus, mit dem Menschen, die ja auch Wünsche haben, umgehen können.

Statt die einzelnen Beiträge, wie in gängigen Magazinen üblich, kontinuierlich zu entwickeln und eine Homogenität der Materialien vorzuspiegeln, zielen diese Arbeiten gerade auf Fragmentarisierung, auf die "Trennung der Elemente" (Brecht). So entstehen offene, unabgeschlossene Strukturen, die in anderen Sendungen erneut aufgegriffen und fortgesetzt werden, Strukturen, die aber immer an die Eigentätigkeit und die Phantasie des Zuschauers appellieren. Autorenfernsehen, wie Kluge es begreift, ist nur als work in progress denkbar. Aus diesem Grunde verzichten die Sendungen auch auf jede An- oder Ab-Moderation. Nur ein durchs Bild laufendes Textband und eine Schrifttafel mit dem Titel informieren stichwortartig über den Inhalt der Sendung. Die Titel bestehen oft aus sprachlichen Bildern, die den Inhalt leicht verrätseln und den Zuschauer neugierig machen sollen. So heißt z.B. eine Sendung mit der japanischen Lyrikerin Yoko Tawada "Roher Fisch und Rinderzunge führen ein Telefongespräch". Warum das so ist, erklärt der Titel einer Sendung mit Niklas Luhmann: "Vorsicht vor zu raschem Verstehen", ein Titel, der bereits andeutet, dass den Zuschauer hier keine bündige Information erwartet, die er leicht konsumieren kann. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Interviews, die Kluge in seinen Sendungen führt, von allen anderen Talk-Formen des Fernsehen. Bereits die Anordnung der Gesprächssituation erzeugt ein Gefühl der Fremdheit, denn Kluge ist als Interviewer kaum einmal im Bild zu sehen. Er ist über den Ton präsent, während die Kamera in Nah- und Großaufnahmen den Gesprächspartner fokussiert. Der Verzicht auf Schuß- und Gegenschussaufnahmen hat einmal den Vorteil, dass die Gespräche mit nur einer Kamera aufgezeichnet werden können. Das Team besteht daher nur aus Kamera- und Tonmann und - soweit erforderlich - einer Übersetzerin. Auf diese Weise kann in den kleinsten Räumen gedreht werden. Der Raum in Kluges Münchner Wohnung, in dem die meisten Gespräche aufgezeichnet werden, ist kaum größer als zehn Quadratmeter. Viele Gespräche finden auch an öffentlichen Orten statt, in Hotels, auf der Frankfurter Buchmesse oder auf Filmfestivals, an Orten also, zu denen der Zuschauer eine persönliche Beziehung herstellen kann. Die klinische Atmosphäre eines Fernsehstudios dichtet sich dagegen hermetisch zur Erfahrungswelt der Zuschauer ab.

In den Interviews kommen regelmäßig Experten aus den bereits genannten Disziplinen zu Wort, die sich ohne Rücksicht auf fernsehspezifische Begrenzungen in ihrer eigenen Tonlage zu ihrem Thema äußern können. Kluges Part ist dabei weniger der eines Standpunkte abfragenden Journalisten, sondern vielmehr der eines Souffleurs, der bei der Entstehung der Gedanken seines Gegenübers eine Art Geburtshilfe leistet. Die Gesprächsweise ist den auch eher eine assoziative, Sachverhalte werden eher eingekreist, als kurz und bündig abgehandelt. Kluges Fragen nehmen dabei bewusst Umwege über scheinbar Nebensächliches, wenig Spektakuläres in Kauf, um atmosphärische Räume herzustellen, und rücken thematische Fokussierungen immer wieder in weite Horizonte, in denen sich die Phantasie seines Gegenübers bewegen kann. Nie gibt es einen roten Faden. Diese Form des Interviews ist Anti-Talk oder aber eine Talk-Show im wörtlichen Sinne: wie jemand spricht ist hier ebenso wichtig wie das, was er sagt. Sogenannte "Fehler" (z.B. Denkpausen oder Versprecher), die in konventionellen Programmen in der Regel als qualitätsmindernd empfunden und herausgeschnitten werden, werden von Kluge als authentisches Merkmal der Gesprächssituation ausgestellt. Es handelt sich um Gespräche, die "in privater Umgangsform" geführt, aber öffentlich gezeigt werden. Das können Gespräche über Sachthemen sein, z.B. über die Ursprünge der Gewalt in hochzivilisierten Gesellschaften, oder aber reine Fake-Gespräche, etwa über das Geheimwissen des Vatikans oder Sex im Weltraum. Jedes unternimmt auf seine Weise den Versuch, die Erfahrungsmasse des 20. Jahrhunderts einzusammeln, auf der Ebene der harten geschichtlichen Fakten ebenso wie auf der Ebene der Imagination, der Phantasie, die ja auf die empirische Wirklichkeit reagiert. Auf diese Weise ist über die Jahre eine Enzyklopädie ganz eigener Art entstanden; man findet in ihr keine Bildungsfetische verzeichnet, die zu kennen wichtig sei; statt dessen gewinnt man Einblicke in die Prozesse kultureller Produktion, in ihre Motivschichten und Begleitumstände.
Zitat Kluge: "Für die wichtigsten Teile des Gefühls gibt es so gut wie keine Nachrichten. Es ist nie erprobt worden, ob nicht die besten Eigenschaften von Menschen in diesen nicht-veröffentlichten Erfahrungen liegen." Für diese Erfahrungen ein Fenster zu öffnen, das ist das Ziel des Fernsehens der Autoren.

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