Stiche unter die Haut

Von Diemut Roether | Quelle epd medien Nr. 17 / 5.3.2003 - DEBATTE | | Presse

Die Angst der Kulturredakteure vor dem Publikum

Kultur hat, sollte man meinen, Hochkonjunktur. Manager beschwören die Unternehmenskultur, Börsenexperten die Aktienkultur, in der Politik wird -je nach Tagesform - mehr oder weniger Streitkultur gefordert. Tag für Tag erfinden kreative Wortschöpfer neue Bindestrichkulturen - nur die Verantwortlichen der Kulturprogramme in Hörfunk und Fernsehen scheinen das K-Wort eher schamhaft verschweigen zu wollen. Der Begriff "Kulturprogramm", befand jetzt HR-Hörfunkdirektor Heinz Sommer, Hörfunkdirektor des Hessischen Rundfunks, auf einer Tagung, sei die "höchste Schwelle", die man aufbauen kann. Eine Schwelle baute auch Hildegard Bußmann, die Programmchefin von SWR2 auf, als sie die Tagung mit einem Zitat von August Everding eröffnete: "Kultur ist Schwarzbrot, das muss man kauen lernen." Kultur wäre demnach zwar harte Kost, aber doch immerhin nahrhaft und gesund. Auf der Tagung überwog jedoch der Eindruck, gute Kultur müsse vor allem anstrengend und schwer verdaulich sein.

Lizenz zum Hören

Glaubt man etwa Ekkehard Skoruppa, dem Ressortleiter "Künstlerisches Wort" beim Südwestrundfunk, hat beileibe nicht jeder die Lizenz, ein Kulturprogramm zu hören. Den französischen Regisseur Jacques Tati sollte der Hörer von SWR2 schon kennen; was Suprematismus ist, darf er sich dann von den noch gebildeteren Kulturredakteuren erklären lassen.
Das hätte eine interessante Diskussion werden können:
Was kann eine Redaktion ihren Hörern zumuten? Welche Integrationsfunktion könnten gerade Kulturprogramme in einer zunehmend in einzelne Segmente zerfallenden Gesellschaft übernehmen? Welchen Kanon darf man voraussetzen? Darf man überhaupt noch etwas voraussetzen? Wie viel Bildung wollen Kulturprogramme nach der Pisa-Debatte leisten? Wie lässt sich die kulturelle Spaltung zwischen den Generationen überbrücken? Ein heute 30-Jähriger mag zwar Jacques Tati nicht kennen, weiß aber dafür vermutlich recht gut über das Betriebssystem Linux Bescheid, dessen Bedeutung als gesellschaftliches und damit auch kulturelles Phänomen vielen Kulturredakteuren vielleicht gar nicht bewusst ist.
Doch einem offenen Austausch über diese Fragen schienen viele der anwesenden Redakteure den Rückzug in die altbekannten Gräben vorzuziehen, in denen offensichtlich seit Jahren die immer gleichen Kämpfe zwischen unterschiedlichen Anstalten und Programmrezepten ausgefochten werden. Abwehrschlachten auf verlorenem Posten obendrein, denn die Quote legitimiert den Aufwand kaum, den viele Kulturprogramme treiben.

Kultur-Debatte
epd "Kultur in Hörfunk und Fernsehen" war das Thema einer Tagung, zu welcher der SWR gemeinsam mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Deutschen Hörfunk Akademie vom 20. bis 22. Februar eingeladen hatte. Etwa hundert Kulturprogrammmacher und Kulturinteressierte diskutierten in der Katholischen Akademie in Hohenheim darüber, wie die Kultur ins Programm kommt. epd medien hat in den vergangenen Monaten mehrfach über das Thema Kultur speziell auch im Hörfunk berichtet. Den Anfang machte Gert Haedecke mit seinem Beitrag "Das große Wie. Kultur im Radio" in epd 85/02. Hans Burkhard Schlichting, Chefdramaturg und stellvertretender Leiter der SWR-Hörspielredaktion, schrieb in epd 04/03 über Spielräume, Tendenzen und Perspektiven im Hörspiel. Hans-Jürgen Krug setzte die Reihe mit einem Beitrag über den NDR, seine Radioprogramme und die Kultur in epd 11/03 fort. Demnächst werden wir über neue Experimentierfelder im Radio am Beispiel von "WDR 3 Open" berichten.

In den Sendern selbst werden die Kulturredakteure ob ihrer vermeintlich elitären Haltung von den anderen, mit ihnen um die knapp werdenden Mittel konkurrierenden Programmmachern ohnehin misstrauisch beäugt: "Belehrend, altfränkisch, selbstbezogen, unverständlich, kurz: im Radioton von vorgestern", berichtete Hildegard Bußmann, "so klingt es Kulturredakteuren und deren Programmen entgegen, wenn denn überhaupt miteinander geredet wird." Auch auf dieser Tagung kamen die Programmmacher nur in den Pausen miteinander ins Gespräch. Denn es herrschte die übliche Konferenzkrankheit: zu volle und zu viele Podien. Mit der Folge, dass eine wirkliche Diskussion über die Machart einzelner Kulturprogramme gar nicht zu Stande kommen konnte.
Glaubt man den Worten von Heinz Sommer, so scheint Kultur das letzte große Tabu unserer Zeit zu sein. Die Programmgestaltung von ARD und ZDF bestätigt das: Kulturmagazine laufen in der Regel nach 22 Uhr, wenn die Kinder im Bett sind und das Programm für Erwachsene beginnt. Kultur findet überwiegend in den Dritten Programmen oder in den Spartenkanälen wie 3sat, ARTE oder dem ZDFTheaterkanal einen Sendeplatz.

Kultur: Nur für Erwachsene


Kein Wunder also, dass sich ein Großteil der Kulturinteressierten - so stellte es Peter-Michael Latzel, stellvertretender Leiter Kultur des SWR-Fernsehens, fest - vom Fernsehen verabschiedet hat. Für ein Porträt des Philosophen Theodor W. Adorno, das sein Sender in diesem Jahr zu dessen 100. Geburtstag im September senden will, erwartet Latzel nicht mehr als 10.000 Zuschauer.
Richtig erfrischend war es angesichts der Resignation, in die viele Kulturredakteure ob solcher Zahlen zu verfallen scheinen, dass mit Michael Hirz, dem Leiter der Abteilung Kultur des WDR-Fernsehens, auch ein Mann auf einem der vielen Podien saß, der seiner Redaktion den Leitsatz verordnete: "Wir machen Lust auf Kultur." Mit diesem Motto gelang es den Machern des Kulturmagazins "WestART" immerhin, den Marktanteil der Sendung auf drei Prozent zu verdoppeln. Das Publikum, sagte Hirz, habe gewisse Erwartungen an eine Kultursendung, es wolle aber auch überrascht werden. Unabhängig davon müsse es ein oberstes Prinzip bei der redaktionellen Arbeit geben: Verständlichkeit.

Einen ganz anderen Weg geht Alexander Kluge, der mit seiner Firma dctp den öffentlich-rechtlichen Redakteuren seit fast 15 Jahren vormacht, wie man ausgerechnet im Kommerzfernsehen geradezu maßlos anspruchsvolles Kulturprogramm senden kann. Völlig unbekümmert um Marktanteile und Werbeeinnahmen wolle Kluge Zuschauer ansprechen, "die als Erwachsene noch neugierig sind", erläuterte dctp-Mitarbeiter Christian Schulte.
Das Modell funktioniert, weil das nordrheinwestfälische Landesmedien-gesetz den Privatsendern RTL und Sat.1 als Startbedingung vorschrieb, auch Kultur im Programm zu haben. Und es funktioniert auch, weil Kluge mit einem starken Partner, der japanischen Werbeagentur Dentsu, den Sendern dieses Huckepack-Programm zu denkbar geringen Produktionskosten liefert. Kluge, so Schulte, mache Autorenfernsehen im ursprünglichen Sinne, er kümmere sich nicht um die im Fernsehen üblichen Konventionen. Es muss ja nicht immer Kluges Fernsehen sein, aber mehr Mut zur Kultur und mehr Mut vor allem zum Ausprobieren möchte man den Machern der Kulturprogramme schon wünschen.
Ermutigend war auch, was Walter Klingler, der Leiter der Medienforschung des SWR, ihnen zu sagen hatte: 19 Prozent der Deutschen sind nach seinen Erkenntnissen "an Kunst und Kultur sehr interessiert", 44 Prozent seien immerhin noch "sehr oder etwas interessiert" (epd 16/03). 59 Prozent der Kulturinteressierten informieren sich nach Klinglers Darstellung am liebsten im Fernsehen über Kunst und Kultur. 53 Prozent ziehen danach die Tageszeitungen vor, und für 19 Prozent ist das Radio das bevorzugte Medium, um sich über Kunst und Kultur zu informieren.

Mehr Kultur wagen

Genutzt werden die Angebote in Hörfunk und Fernsehen allerdings in sehr viel geringerem Maß. Während die Kultursendungen im Fernsehen immerhin noch 14,7 Prozent der Zuschauer erreichen, so sind es für die gehobenen Hörfunkprogramme - zu denen allerdings auch reine Informationsprogramme wie BR 5 oder NDR 4 gezählt werden - täglich nur 6,7 Prozent der Hörer. Reine Kulturprogramme erreichen nur 1 bis 2,5 Prozent Marktanteil. Grund genug für Klingler, das "Projekt 19" auszurufen, also die Aufforderung an die Programmmacher, zumindest die 19 Prozent der Hörer, die angeben, sich "sehr" für Kultur zu interessieren, auch zu erreichen.
Und noch eine interessante Zahl hatte Klingler zu bieten: Immerhin 45 Prozent der Befragten hielten Kulturmagazine für besonders wichtig (Mehrfachnennungen waren möglich). Sie belegen damit einen respektablen 16. Platz - unangefochtene Spitzenreiter sind Nachrichten (94 Prozent), Natur- und Tiersendungen (73 Prozent) und Deutsche Kino- und Fernsehfilme (72 Prozent). Kultursendungen sind in den Augen der Zuschauer immerhin genauso wichtig wie Sportsendungen - und wichtiger als Volksmusik (35 Prozent) .
Doch zum großen Leidwesen der Kulturredakteure hält die Nutzung ihrer Sendungen nicht Schritt mit den erklärten Interessen der Zuschauer: Spezielle Informationssendungen aus dem Themenbereich Kultur machen nach Angaben der Medienforschung vier Prozent am Fernsehangebot aus, ihr Anteil bei der Fernsehnutzung liegt jedoch nur bei zwei Prozent. Wie sieht er denn nun aus, der typische Zuschauer von "Kulturreport", "aspekte" oder "WestART", der Hörer von WDR3, MDR Kultur oder DeutschlandRadio?
Nach der von den Medienforschern vorgenommenen
Unterteilung des Publikums in die so genannten Sinusmilieus informieren sich vor allem die kulturinteressierten "Konservativen" und "Etablierten" über Kunst und Kultur in Fernsehen oder Radio. Für die jüngeren "Postmateriellen" und "Modernen Performer" spielt das Fernsehen als Informationsquelle keine Rolle, hier stehen eher Radio, Tageszeitung und Internet im Vordergrund.

Das Publikum: ein "Kulturschock"

Bei dctp, berichtete Christian Schulte, gelte die Devise: "Wir müssen vor unserem Publikum keine Angst haben, nur weil wir nicht mehrheitsfähig sind." Für manche Redakteure des Hörfunkprogramms MDR Kultur war es, so Redaktionsleiter Detlef Rentsch, "ein Kulturschock", ihre Hörer kennen zu lernen. Denn die meisten Hörer von Kulturprogrammen seien formal gar nicht so gebildet, wie Kulturredakteure sich das so erträumten. Viele, so Rentsch, hätten kein Abitur.
Auch Kulturradio, sagte Rentsch, sei "nur ein Küchengerät". Ja und? Wo könnte man besser zuhören als in der Küche, beim Abwasch oder Zwiebelschneiden, wenn die Hände beschäftigt sind, aber der Kopf frei ist?
Die Frage, wie es die Hörer denn gern hätten, beantwortet die Medienforschung mit einem salomonischen Sowohl-als-auch. Ein "durchhörbares" Programm, das als Begleiter durch den Tag genutzt wird, kommt nach Klinglers Erkenntnissen ebenso gut an wie lange Wortstrecken mit festen Sendeplätzen. Entscheidend seien, so Klingler, die Inhalte, die Auffindbarkeit und die Glaubwürdigkeit der Präsentatoren. Das große WIE also, wie Gert Haedecke, der ehemalige Radio-Kulturchef des Südwestfunks es nannte. Er stellte fest, es gehe um "die Entwicklung eines Programmstils, einer Programmatmosphäre, Programmidentität, die als Ganzes mehr ist als die Summe ihrer Teile und beim Zuschauer Vertrauen weckt". Ein modernes Kulturprogramm, forderte Haedecke, müsse auch innovativ wirken, Faktor werden, gestaltend und wertend in den kulturellen Diskurs eingreifen, selbst Neues hervorbringen und Impulse geben - "mit Schwerpunktprogrammen, Sonderprojekten und Eigenproduktionen".

Spielen mit Kultur

In der Tat können Programme, die auf ein durchmoderiertes Begleitprogramm setzen, wie Deutschland-Radio oder MDR Kultur, ebenso Erfolge vorweisen wie ein Programm mit gezielten Einschaltsendungen wie das Schweizer Radio DRS2. "Die Mischung macht's", davon ist Gerda Hollunder, die Programmdirektorin des jüngsten Kulturradios, Deutschlandradio Berlin, überzeugt. Bei ihrem Sender fänden Kulturinteressierte "das ganze Spektrum", von Hörspielen über Nachrichten bis zu Musik und Klatsch und Tratsch über "die Bohlens und Royals dieser Welt". Arthur Godel, der stellvertretende Direktor des Schweizer Radios DRS, setzt auf die Erfahrung, dass eine Sendung, die gut gemacht ist, "weit über die Zielgruppe hinaus" interessiert. So könne man dem Publikum "pulverisierte Bildung" verabreichen, ohne Schulfunk zu machen. Seiner Erfahrung nach ist es das Namedropping, das eine überflüssige Verständnisbarriere aufbaut. Wichtig sei es, spielerischer mit der Kultur umzugehen und Neues auszuprobieren. Einer, der sich und seinen Sender mit Sonderprojekten und Eigenproduktionen ins Gespräch bringt, ist Herbert Kapfer, Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst beim BR. Er mache aus Überzeugung Zuhörprogramm, sagte Kapfer selbstbewusst. Gemeinsam mit dem Zentrum für Kunst und Medienkultur (ZKM) in Karlsruhe hat er vor vier Jahren das Medienkunstfestival intermedium ins Leben gerufen - ein "größenwahnsinniges Projekt", wie er selbst sagt (vgl. Berichterstattung in epd 85 und 93/99 sowie 25-26 und 27/02).
Auch mit dem Bayerischen Staatsschauspiel und diversen Hörbuchverlagen arbeitet Kapfer eng zusammen. Die zehnstündige Fassung von "Moby Dick" nach dem Roman von Herman Melville, die Kapfers Abteilung kürzlich zusammen mit dem Hörverlag produzierte, hat sich nach drei Monaten bereits mehr als 4500 Mal verkauft (epd 01/03).

Kultur macht mündig


Kapfer ist stolz darauf, dass es ihm auch durch die Zusammenarbeit mit Musikern, DJs und jungen Künstlern und Autoren wie Andreas Ammer gelungen ist, das Hörspiel in "einen größeren kulturellen Kontext zu stellen" und damit den Beweis anzutreten, dass "Radiokultur über Kulturradio hinausgehen" kann. Über Quoten, sagt Kapfer ganz selbstbewusst, müsse man nicht reden: "Wir produzieren im Ghetto." Aber künstlerische Programme seien nun mal Randphänomene und würden daher stark angegriffen: "Dass das Zeitgemäße nicht immer das Beliebteste ist, war schon immer so."
Kunst, behauptete kürzlich die Staatsministerin für Kultur, Christina Weiss, mache mutig, kritisch und selbstkritisch. Sie erziehe zur Mündigkeit und zur
Denkfähigkeit. Solange es mutige und mündige Redakteure mit so viel Spaß an Kultur gibt wie Kapfer, kann auch Axel Hecht, der Chefredakteur des Kunstmagazins "Art", sicher sein, dass seine Rundfunkgebühren auch für Kultur ausgegeben werden.
Die Kulturverächter, vielleicht auch nur die Gleichgültigen scheinen eher in der Hierarchie weiter oben angesiedelt zu sein - dort, wo man zuerst das Wort und dann das ganze Programm abschafft. Möglicherweise dachte Peter-Michael Latzel ja weniger an das Publikum als an sie, als er davon sprach, Kultur müsse "subkutan injiziert" werden.
Hecht erinnerte die öffentlich-rechtlichen Kulturredakteure daran, dass es ihre große Chance sei, dass sie frei vom Markt agieren könnten. Es gebe keinen Grund, sich an der Klagemauer einzurichten. Tatsächlich:
Beim SWR-Fernsehen, sagte Latzel, sei der Etat für die Kultur immer noch größer als der für die Unterhaltung. Und subkutane Kulturinjektionen wie "Schwarzwaldhaus 1902" lässt man sich als Zuschauer doch gerne gefallen.

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