"Europa - eine Kuh mit Sternenhimmel im Bauch"

Von Alexander Kluge | Quelle Welt Online 24.10.2010 | | Interviews

Aus Sorge um Deutschland: Der Maler Anselm Kiefer schwimmt im Fluss der Zeit, wirft mit Diamanten und erreicht nie sein Ziel. Ein Gespräch von und mit Alexander Kluge

Er gehört zu den großen Geistern unseres Landes. Indem Anselm Kiefer malt, denkt er. Werke wie "Das Geheimnis der Pflanzen", "Wege der Weltweisheit", "Brünhilde schläft", "Athanor", "Mohn und Gedächtnis" prägen sich dem Betrachter tief ein. Sie handeln von einer Wirklichkeit, die dem Zuschauer eines Samstag-Abend-TV-Programms fremd erscheinen wird, aber unglaublich realer ist als jedes von Menschen gemachte Programm. Wie es die Astrophysiker sagen: Drei Sonnen mussten verglühen, damit eine Materie entsteht, wie die unserer Erde und die der Zellen in unserem Körper. Wir Menschen, so Anselm Kiefer, sind sehr aufwendig hergestellte Lebewesen und für mehr ausgerüstet als für das, was wir alltäglich tun.

Seinen Weltruhm gewann dieser Künstler in den USA und in Frankreich. Es war ein starkes Ereignis, dass er jetzt auf Einladung der Villa Schöningen seine Bilder von Kühen, Sternen, Pflanzen, Europa und der Königin Pasiphae in Potsdam zeigte. Es gibt nicht viele Künstler wie ihn. Wie es in den "Meistersingern von Nürnberg" von Hans Sachs heißt: "Ehrt eure deutschen Meister, so bannt ihr gute Geister!"

Als Anselm Kiefer im März 1945 geboren wurde, war ich gerade 13 Jahre alt. So sind wir in zeitlicher Stafette ins 21. Jahrhundert geraten, das anders ist, als wir dachten. Anselm Kiefer, neugierig und wählerisch, legt Landkarten der Zeiten übereinander. Das nennt er cross-mapping. Eine zerbrechliche Pflanze, sagt er, oder ein Kuhbauch der Gras verdaut, wirke nur dann wirklich, wenn auch die Bewegung der übrigen Dinge bis zu den Sternen hinauf wahrgenommen werde. Und so sind für Kiefer die Antike, die Mythen, die Tagesnachrichten und die moderne Kunst stets nur im Zusammenhang etwas Wahres.

Wir haben an einem ruhigen Samstag, in der Villa Schöningen, ein Gespräch von zwei Stunden geführt, von dem hier ein Ausschnitt zu lesen ist. Hier, unmittelbar an der geschichtsträchtigen Glienicker Brücke, ist seine Ausstellung "Europa" noch bis zum 31. Januar 2011 zu sehen.

Alexander Kluge: Sie haben hier ein Europa, das sehr zutraulich blickt.

Anselm Kiefer: Ja, die schaut sehr nett die Kuh, das ist eine jungfräuliche Kuh.

Alexander Kluge: Das ist eine jungfräuliche Kuh und hat aber einen Sternenhimmel im Bauch.

Kiefer: Das Bild hat den Titel "Pasiphae". Das ist die Frau des König Minos, die Mutter des Minotaurus.

Alexander Kluge: Hier sehe ich eine andere Kuh, auch mit Sternen im Bauch, umgeben von roten Blumen. Sind das hier Pflanzen, die opiumhaltig sind?

Kiefer: Es sind Mohnblumen.

Alexander Kluge: Bewirken sie Schlaf oder Rausch?

Kiefer: Das frisst sie auf, die Kuh.

Alexander Kluge: Der deutsche Soziologe Max Weber spricht in Bezug auf charismatische Helden von "betrunkenen Elefanten" ...

Kiefer: Sie haben sich an Pflanzen berauscht. Sie sind trunken von Hingabe.

Alexander Kluge: Solche Berserker vergleicht Max Weber mit "Politikern, die harte Bretter bohren". Sie tun das, sagt er, mit Leidenschaft und Augenmaß.

Kiefer: Aha, das sollte ich malen?

Alexander Kluge: Sie würden sicher keinen Menschen malen, der an einem Brett bohrt.

Kiefer: Ich würde überhaupt keinen Politiker malen. Vielleicht würde ich eine Wiese malen und ein Jahr lang wie Dürer an diesen Grashalmen arbeiten.

Alexander Kluge: Aus Respekt vor der Ewigkeit des Grases?

Kiefer: Ja, und auch der sinnlosen Arbeit.

Alexander Kluge: Ich kann das nicht sinnlos finden. Was Sie vorschlagen, empfinde ich in der japanischen Tradition als Zen; als die kriegerische Übung des Künstlers.

Kiefer: Natürlich.

Alexander Kluge: In ein Bild haben Sie einmal hineingeschrieben: "Bergwerk von Falun". In Johann Peter Hebels Kalendergeschichte verunglückt ein junger Mann am Tag nach seiner Verlobung im Bergwerk. Nach Jahrzehnten wird er ausgegraben. Seine inzwischen 80 Jahre alte Verlobte, die ihm treu blieb, sieht ihn: Er ist jung wie am Tag des Unglücks. Und jetzt wurden die 33 Bergleute in Chile durch eine gewaltige Anstrengung gerettet.

Kiefer: Man muss dazu sagen, dass in China und in Sibirien viele Bergwerksunglücke stattfinden. Vieles wird unter der Erde verschüttet, und die Rettung, wie zum Beispiel bei uns in Lengede, ist selten.

Alexander Kluge: Ein Denkmal für den unbekannten Soldaten gibt es. Ein Denkmal für den unbekannten Bergmann gibt es eigentlich nicht.

Kiefer: Das wäre ein starkes Bild. Es bedeutet Treue um Treue. Wie bei der Dahlbusch-Bombe, die in Gegenwart eines deutschen Kanzlers in Lengede die Bergleute wieder emporholt. Den ich ausgeschickt habe, kann ich auch zurückholen. Protego ergo sum, ich vermag zu schützen, also bin ich. Das sagt die Autorität von sich selbst. Das gehört in meinen Themenkreis.

Alexander Kluge: Hier sehe ich im Katalog im Zusammenhang des "geheimen Lebens der Pflanzen" ein Bild, das Sie dem Alchemisten und Mystiker Robert Fludd gewidmet haben, einem Zeitgenossen von Newton. Durch eine Sonnenblume wie durch ein Fernrohr blickt man auf das Sternenzelt.

Kiefer: Robert Fludd spricht davon, wie das UNENDLICH KLEINE sich im UNENDLICH GROSSEN, dem Kosmos, wiederholt. Der Satz gilt nach beiden Seiten. Ich war unheimlich fasziniert, als ich diesen Satz bei Robert Fludd las.

Alexander Kluge: Das ist typisch, wie Sie lesen. Da wirft ein Satz sich in Ihr Herz, und daraus entsteht später ein Bild.

Kiefer: Richtig.

Alexander Kluge: Ich habe in Ihren Notizen gelesen, die Sie für Ihre Vorlesungsreihe im Collège de France vorbereitet haben. Mich hat dort eine Geschichte verblüfft, die von Diamanten handelt.

Kiefer: Es geht um ein frühes Tunnel-Projekt aus dem 18. Jahrhundert. Der Tunnel sollte Frankreich und England verbinden. Das Projekt blieb dann liegen. Und als in den ersten Jahren meine Bilder einen Wert bekommen haben, ich hatte zum ersten Mal Geld, habe ich Diamanten gekauft und in dieser Tunnelruine in den Sand geschmissen ...

Alexander Kluge: Sie haben den Göttern geopfert?

Kiefer: Als Opfer, natürlich.

Alexander Kluge: So wie ein gläubiger Jude im Mittelalter zum Sabbat Wein ausschüttet, als Opfer dafür, dass die ägyptischen Verfolger Israels im Roten Meer umgekommen sind. Das ist Generosität. Ich gebe für meine Feinde das Beste. Ich finde es generös, wie Sie da Diamanten in den Tunnel geworfen haben.

Kiefer: Da ist viel Schlamm. Als Kind habe ich im Garten ein Loch gegraben, also eine Art Tunnel, und habe dort etwas hineingelegt, was ich geschrieben hatte. Davor eine Glasscheibe, und das habe ich zugemacht. Das habe ich dann fortgesetzt in Südfrankreich. Ich habe dort kilometerlange Tunnels gegraben.

Alexander Kluge: Und was haben Sie damit gemacht?

Kiefer: Die erste Idee waren die sieben Himmelspaläste. Die Merkaba.

Alexander Kluge: Auf dem Bild, das Sie ja mehrfach gemalt haben, sehe ich wieder ein gewaltiges Firmament. Und die Einzeichnung von Sternenbildern, zum Beispiel das Sternenbild Opiocus.

Kiefer: Wie man es den Blumen zuschreibt, so gibt es auch für die Sternensysteme eine Blüte, ein Werden und Vergehen. In ihrer Weise leben sie nur einen Moment. Es gibt andauernd Sterne, die explodieren oder sich zusammenziehen zu einem schwarzen Loch und dann für unsere Welt verschwinden. Die Zeit nehmen sie mit sich. Und so ist der Kosmos in ständigem Umbau.

Alexander Kluge: Sie nennen die Ausstellung, in der wir hier sitzen, "Europa".

Kiefer: Klar. Ich bin sehr besorgt um Europa und auch dann um Deutschland. Man kann den Deutschen besser trauen, wenn sie wirklich in Europa integriert sind.

Alexander Kluge: Etwas gefesselt? So wie der Minotaurus?

Kiefer: Wie der Behemoth, das biblische Ungeheuer.

Alexander Kluge: Noch einmal zu Europa: Europa ist eine von Zeus nach Kreta entführte Prinzessin. In der Spätantike ist Europa dann der Name einer kleinen Provinz, die direkt hinter Byzanz liegt.

Kiefer: Europa ist ein Archipel. Mich hat es bewegt, dass ich in einer Heidegger-Vorlesung hörte, dass wir Europa verlieren können, dass es irgendwann nur noch einen geografischen Archipel gibt von Asien, der sich Europa nennt. Das hat Heidegger aus den Tagebüchern von Paul Valéry. Und der hat es von Nietzsche.

Alexander Kluge: Ein Archipel, das sind ja Inseln.

Kiefer: Es sind Halbinseln.

Alexander Kluge: Wenn ich von Tiflis aus hochgucke, das wäre ein Bild, das ich mir von Ihnen wünsche, oder von Bishkek in Kirgistan, liegt Europa als Winzigkeit hoch oben im Nordwesten.

Kiefer: Ja, von der Seidenstraße aus gesehen. Von Kashgar aus. Die Wirklichkeiten liegen auf dem Planeten anders verteilt, als wir Europäer meinen. ich habe einmal eine Reise gemacht von Peking, über die südliche Seidenstraße, das war vor 15 Jahren, da habe ich noch Gefangene in Ketten marschieren sehen wie in einer Oper.

Alexander Kluge: Wie entsteht aus solchen Eindrücken bei Ihnen ein Bild?

Kiefer: Ich glaube nicht, dass das Bild das Wichtige ist, sondern das, was zwischen den Bildern liegt. Nehmen Sie zum Beispiel die Heuschober von Claude Monet. Der wird heute als Impressionist geschätzt, weil er bunt ist. Aber die wirkliche Idee bei Monet liegt nicht im einzelnen Bild, sondern zwischen den Bildern, nämlich in der Zeit. Er hat die Heuschober morgens um 11, nachmittags um 3 und 4 gemalt, immer wieder ein Bild unter verschiedener Beleuchtung. Er hat also ein Fluid, eine Aktion, gemalt.

Alexander Kluge: Den Fluss der Zeit.

Kiefer: Den Fluss der Zeit. Die einzelnen arretierenden Momente, die Bilder, sind weniger wichtig als dieser Fluss.

Alexander Kluge: Sie beschreiben soeben das Prinzip der Filmmontage nach Godard.

Kiefer: Bei Godard oder bei mir?

Alexander Kluge: Bei Ihnen und bei Godard.

Kiefer: Das gibt es in jeder Kunstform. Im Film, in der Musik oder in den Bildern.

Alexander Kluge: Aber ich finde, dass die Filmkunst weniger Aura hat als die Malerei. Ein Bild kann ein Anker sein. Ein Film ist eher ein Netz.

Kiefer: Sie haben mich vorhin gefragt, was ich einem Zuschauer empfehlen würde. Ich antworte: Er soll sich eine Stunde hinsetzen vor das Bild. Und dann, wenn er das macht, gibt es auf einmal in ihm einen Film.

Alexander Kluge: Eine Epiphanie.

Kiefer: Epiphanie, ja. Und dadurch kann das, was beim Künstler entstanden ist, nie direkt, aber indirekt als Zeichen gelesen werden. Diese Zeichen sind aber nicht Buchstaben, auch nicht Töne und man weiß nicht, wie sie sich übertragen. Es gibt keine Entsprechung von dem, was ich mit dem Bild gewollt habe, und dem, was der Betrachter sieht.

Alexander Kluge: Jetzt noch mal zu Europa. Warum sagt man, die Göttin Athene sei "eulenäugig", die große Göttin Hera aber "kuhäugig".

Kiefer: Hera ist die Vertreterin der Struktur, der Ordnung. Sie setzt dem Chaotischen den Rahmen.

Alexander Kluge: Im Bauch Ihrer Kuh ist kein Herkules zu sehen. Die von Ihnen gemalte Kuh, die ich hier sehe, ist nicht Hera. Sie ist vielmehr eine Geliebte des Zeus, die in eine Kuh verwandelt wurde und von Hera bis Ägypten verfolgt wurde. Sie trug den späteren Halbgott Herkules in ihrem Bauch. Der ist bei Ihnen nicht zu sehen. Stattdessen sieht man einen Sternenhimmel und das, was die Kuh frisst.

Kiefer: Die Kuh verwandelt ja diese Pflanze, die an sich fremd ist, in Nahrung und Energie. Die Kuh ist für mich der Inbegriff des Metabolismus. Ich meine diese Kilometer an Darm.

Alexander Kluge: Eine Poetin der Natur.

Kiefer: Und sie "käut wieder". Also sie verwandelt alles nochmals durch weiteren Genuss. Sie isst alles zweimal.

Alexander Kluge: Was übrigens mancher Mönch, der antike Schriften abschreibt und so die Worte bewahrt, tut. Er käut wieder.

Kiefer: Natürlich. Und die Kuh hat etwas Meditatives in ihren großen Augen.

Alexander Kluge: Ja.

Kiefer: Schräg hoch blickt sie. Ich habe Kühe ja gehütet. Ich habe eine Beziehung zu Kühen. Ich kann mit denen sprechen.

Alexander Kluge: Und Sie sagen, diese Augen sind klug?

Kiefer: Meditative Augen. Weise Augen. Wenn es ekstatische Augen wären, wäre es so ähnlich wie weise.

Alexander Kluge: Als Schriftsteller geht es mir darum, dass man Dinge wörtlich nimmt. Da gibt es eine Geschichte von Till Eulenspiegel. Ein Städter sagt zu ihm: "Geh mir aus den Augen." Und Eulenspiegel antwortet ihm: "Wenn ich in deinen Augen wäre, dann müsste ich ja durch deine Nase kriechen, wenn du die Augen zumachst."

Kiefer: "Die Augen schließen", das kann einer im Augenblick tun oder es kann bedeuten, er stirbt.

Alexander Kluge: Wenn du tot bist, muss ich durch die Nase raus ...

Kiefer: Man findet immer etwas Neues, wenn man Worte wörtlich nimmt.

Alexander Kluge: Man sagt: "Am Fuße des Berges". Aber der Ausdruck zeigt weder einen genauen Ort am Berg an, noch hat ein Berg im wörtlichen Sinn einen Fuß. Könnten Sie einen "Fuß des Berges" malen?

Kiefer: Höchstens, wenn ich einen Schuh dahin male.

Alexander Kluge: Also Ihr Metier ist das Wörtlichnehmen von Eindrücken.

Kiefer: Richtig. Eindrücke auf den Ursprung zurückführen.

Alexander Kluge: Kluge:

Alexander Kluge: Dann ist die Steigerung davon cross-mapping: etwas aufeinanderlegen, was gegensätzlich ist? Und dabei kommt immer etwas Drittes heraus? Das ist die Alchemie des Geistes?

Kiefer: Also das cross-mapping ist sowieso mein System. Meine Bilder haben immer viele Schichten über Jahre hinweg und sie leben davon, dass verschiedene Pläne aufeinandergelegt werden.

Alexander Kluge: Wenn Sie mir mal das Wort Garten interpretieren. Was bedeuten Gärten für Sie?

Kiefer: Paradiesgärtlein. Hortus conclusus. Die Pflanzen sind schön aufgereiht. Das sind Bilder außerhalb der Wirklichkeit. Ein Bedeutungsgeflecht. Jede Pflanze hat eine Bedeutung. Die Lilie von Maria, das Veilchen auch, jede Pflanze hat eine Entsprechung mit einer Bedeutung. Es gibt auch den Hortus philosophorum. Das ist der Garten der Alchemisten, Atanor steht in der Mitte.

Alexander Kluge: Was ist das?

Kiefer: Atanor, der Ofen der Alchemisten. Der heißt Atanor, ja. So habe ich meinen Sohn übrigens genannt.

Alexander Kluge: Ein ungewöhnlicher Name. Es ist nicht leicht, in eine Schulklasse zu kommen und zu sagen: Ich heiße Atanor.

Kiefer: Das ist sein zweiter Name. Ich war gnädig.

Alexander Kluge: Wie ist der erste?

Kiefer: Der ist Vergil.

Alexander Kluge: Das ist auch anspruchsvoll.

Kiefer: Ja, aber verständlicher. Er heißt Vergil Elias Atanor.

Alexander Kluge: Beschreiben Sie doch einmal diesen Ofen der Alchemisten.

Kiefer: Das ist ein chemischer Ofen, auf dem die Alchemisten ihre Gebräue kochen und vermischen, wo sie aus Blei Gold zu machen versuchen. Auch wenn ihnen das nicht gelang, so ist doch auf den Nebenwegen etwas entstanden, zum Beispiel in Sachsen das Porzellan. Ein Alchemist, mit dem Tode bedroht, wenn er nicht Gold macht, schuf das weiße Gold.

Alexander Kluge: Ein Service davon kann man tauschen gegen eine Schwadron Kürassiere aus Preußen.

Kiefer: Und das ist überhaupt das Wesen des Kunstschaffens. Man hat eine Idee, ein bestimmtes Ziel und das erreicht man nie. Aber es gibt immer einen Ausweg. Aus dem Sprung, dem Übersprung heraus, kommt man zu etwas, das mit dem Anfang nichts zu tun hat.

Alexander Kluge: Das nennen die Griechen Kairos.

Kiefer: Kairos, jaja. Ein kleiner zwergenartiger Gott. Erwischt man die Tolle an seiner Stirn, kann man ihn fassen, kommt man zu spät, erwischt man ihn am Schädel, rutscht man an der Glatze ab.

Alexander Kluge: Auf diesem Bild hier rührt mich die Pflanze, die vor dem Kosmos zu sehen ist.

Kiefer: ... eine kleine zerbrechliche Pflanze auf einen Sternenhimmel geklebt.

Alexander Kluge: Geklebt?

Kiefer: Geklebt. Und diese Pflanze ist extrem brüchig und hat ein anderes Leben als das Bild, das sich darunter befindet und das länger aushält. Es geht also um die Darstellung zweier verschiedener Zeiten: kosmische Zeit und Pflanzenzeit ...

Alexander Kluge: ... so wie es Parallelwelten gibt, gibt es die Zeit in beiderlei Gestalt.

Kiefer: Man kann eine Zeit so weit dehnen, dass es zur GROSSEN REVOLUTION kommt. So nennen die Astronomen die Zeit, in der sich unsere Sonne und ihre Planeten um den Kern der Milchstraße bewegen. Solche Zeiten können aber auf Bruchteile von Sekunden zusammenschießen. Ich habe mit einem Bergsteiger gesprochen, dessen Bruder neben ihm verunglückt ist. Er selbst suchte eine Stelle, wo er seinen Haken in die Wand schlagen konnte und sein Bruder ist hinter ihm abgestürzt. In jener Sekunde hat der Bergsteiger ein Loch für seinen Haken gefunden. So ist er nicht abgestürzt. In diesem Moment, hat er mir erzählt, hat er sein ganzes Leben von Anfang bis zu diesem Augenblick vor sich gesehen.

Alexander Kluge: Was könnten Sie von dieser Sekunde malen?

Kiefer: Wenn ich eine Pflanze nehme und den Kosmos, dann ist das dieser Moment als Zeitraffer und als Zeitdehnung. Auch die kleinen Quanten, die immer in Bewegung sind und aus denen die Welt besteht, können Sie nicht darstellen. Das ist das Gleiche wie das, was ich von Monet erzählt habe, von den Heuschober-Bildern.

Alexander Kluge: Wahrscheinlich sind in unseren Köpfen, in unseren Körpern, in der Intelligenz der Fußsohlen, Geister vorhanden, denen die Quantenmechanik geläufig ist. Das heißt, wir können etwas ahnen, was exakt ist, auch wenn wir es nicht wissen.

Kiefer: Das meine ich schon lange.

Alexander Kluge: Das ist die Unschärferelation in der Kunst.

Kiefer: Und das berührt sich mit dem Ikonoklasmus, der Vernichtung von Bildern. Bilder machen und Bilder vernichten sind EIN Prozess

Alexander Kluge: Ich sehe Werner Heisenberg, wie er die Unschärferelation in seinem Kopf entwickelt, während er in Helgoland am Meer auf und ab geht. Auf Kies und Sand.

Kiefer: Er denkt mit den Fußsohlen. Da kommt die Erleuchtung.

Alexander Kluge: Wenn Sie das malen sollten: Der Gang des Kosmos und Heisenberg findet die Unschärferelation plötzlich aus Versehen in Helgoland, wie würden Sie das anstellen?

Kiefer: Das kann ich Ihnen nicht sofort liefern.

Alexander Kluge: Aber in fünf Jahren. Oder während einer anderen Zeit. Sie suchen zum Beispiel hier am Glienicker See und erklären das Stück Ufer zu Helgoland. Indem Sie es malen, legen Sie eine Spur.

Kiefer: Ich habe in der Themse einmal einen Rollschuh gefunden. Der war verrostet und verklebt mit Lehm. Das wäre ein Ding, das könnte zur Darstellung dienen.

Alexander Kluge: Den haben Sie noch?

Kiefer: Ich habe Regale, wo alle diese gefundenen Dinge aufbewahrt sind, die auf einen Zusammenhang warten. Ich habe ein Riesenareal, eine Halle, 250 Meter lang, wo überall Dinge stehen, die warten. Sie gehen in meinem Kopf spazieren.

Alexander Kluge: Ich verspreche Ihnen, wenn Sie aus dem Schuh aus der Themse ein Bild über die Unschärferelation machen, einen zehnminütigen Film über die Geschichte der Eisgänge auf der Themse. Einmal war die Themse zugefroren und die Menschen haben Buden, Karussells und Läden auf dem Fluss errichtet wie auf der Alster in Hamburg. Ihr Lebensgefühl ist, dass man eigentlich bis zum letzten Atemzug Künstler ist, oder?

Kiefer: Das sowieso. Es fängt an mit der Geburt und hört auf mit dem Tod. Vielleicht nicht einmal mit dem Tod. An sich geht ja irgendwas weiter.

Alexander Kluge: Aber man hat zu Lebzeiten etwas deponiert.

Kiefer: Man hat was in Bewegung gesetzt.

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