Der Chronist der Gefühle
Alexander Kluge erhält den Adorno-Preis
Der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge erhält am 11. September 2009 den mit 50.000 Euro dotierten Adorno-Preis der Stadt Frankfurt. Die Jury würdigte den 1932 in Halberstadt geborenen Kluge als einen "herausragenden Schriftsteller, Filmemacher und Theoretiker der Gegenwart". Kluge habe sich immer zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule bekannt und sei ein "Meister der Grenzgänge in verschiedenen Genres".
Kluges neues Buch, "Labyrinth der zärtlichen Kraft", handelt von der Liebe. Oft geht sie seltsame Wege, folgt nicht der Vernunft, sondern eigenen Gesetzen: Liebe im Verhältnis zur Geschichte, Irrungen, Wirrungen, die Erhabenheit des Gefühls sind Themen des Buches. Ist die Liebe Inbegriff der Freiheit? Oder untersteht sie dem Diktat der Herrschaft? "Bei Bizet, in 'Carmen', heißt es, die Liebe ist ein rebellischer Vogel, den man nicht zähmen kann,“ so Kluge. "Das hat eine gute Eigenschaft, sie ist immer ein Partisan gegenüber jeder Herrschaft. Die Herrschaft blamiert sich, wenn sie versucht gegen die Liebe vorzugehen. Aber auf der anderen Seite ist es auch sehr schwer, Versprechungen abzugeben und auf Liebe zu gründen. Wie kann ich zu mir selbst treu sein, wie kann ich zuverlässig sein, auch aus Selbstliebe zuverlässig sein, und gleichzeitig die Wildheit der Empfindung respektieren?"
"Adorno hat zu dem Zeitpunkt, als er mich zu Fritz Lang brachte, nicht an den Film geglaubt, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass Film ein Kunstwerk wäre," erzählt Kluge. "Er hat gesagt, dass Walter Benjamin, der den Film als neue Technologie und Ende des auratischen Kunstwerks feierte, übertreibt. Und gemessen an der Musik und den 2000 Jahren Literatur, der Vertrauenswürdigkeit der Bücher, sei der Film ein höheres Tinnef in der Hand von Produzenten.“ Kluge strafte Adorno Lügen - mit einem von Eisenstein beeinflussten experimentellen Dokumentarfilm.
1977 wird Hanns Martin Schleyer wird ermordet. Zehn Regisseure reagieren mit einer filmischen Kollage auf die veränderte Lage. Eine Geschichtslehrerin gräbt nach den Grundlagen deutscher Geschichte, während ein Türke verhaftet wird, weil er ein Gewehr mit sich führt. Er habe sich nur eine Taube zum Essen schießen wollen, gibt er zu Protokoll. Der Chronist Kluge erzählt Gegengeschichten der Geschichte - macht Marginales sichtbar. Intellektueller Eigensinn und ästhetische Provokation haben seit 1988 einen Namen: DTCP, die "Deutsche Entwicklungsgesellschaft für Fernsehprogramme". Sinnbild der Unterbrechung des Unterhaltungsprogramms durch ein offensives Gegenprogramm. Denken und Spielweisen des Adorno-Schülers Kluge waren im Leitmedium Fernsehen angelangt - ausgerechnet im Herzen der Kulturindustrie: dem Privatfernsehen. Geliebt wurde er dafür nicht, das war aber auch nie sein Anliegen.