"Wie erkennt man einen Dämon? Er schwatzt und übertreibt."

Von Thomas Combrink | Quelle Göttingen - E-Literaturzeitschrift "titel" | | Interviews

Der als die Stimme aus dem Hintergrund bekannte Produzent von Kulturmagazinen ist einem größeren Publikum vor allem durch seine Interviews im Fernsehen vertraut geworden. Deutlich weniger Leute haben hingegen zur Kenntnis genommen, dass der 1932 in Halberstadt geborene Alexander Kluge neben seiner beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt und der Arbeit als Filmemacher mit den Bänden "Chronik der Gefühle" und "Die Lücke, die der Teufel läßt" ebenfalls ein literarisches Werk vorgelegt hat, für das er im letzten Jahr mit dem Büchner-Preis geehrt wurde. Im März 2004 wechselte Kluge in Göttingen für ein Gespräch die Seiten und stellte seine Konzeption von Literatur so dar.

Thomas Combrink: In dem Vorwort von "Chronik der Gefühle" schreiben Sie, dass die Bibliothek von Alexandria für Sie noch immer brennt. Wie meinen Sie das?

Alexander Kluge: In Alexandria gab es eine hinreißende hellenistische Bibliothek, in der alle Werke der Antike einmal vorhanden waren. Unter anderem waren acht Dramen von Sophokles, die uns heute unbekannt sind, da noch erhalten. So hat mich zum Beispiel "Der Tod des Odysseus" immer sehr interessiert. Wir kennen den Inhalt noch aus drei fragmentarischen Zitaten aus anderen Dramen. Verloren ging das alles, als die Bibliothek verbrannte, zum einen als Cäsar dort belagert wurde und dann, als ein fanatischer Christenbischof die Menschen in Alexandria zum Sturm auf die Bibliothek aufwiegelte, wo das Heidentum seinen Sitz hatte. Ich glaube aber nicht, dass so etwas einfach Feuer fängt, vielmehr brennt es immer noch. Und zwar so lange, bis wir die Texte wiederhergestellt haben.

Combrink: Wie können wir die Texte denn wiederherstellen?

Kluge: Bibliotheken sind ja nichts anderes als Apotheken des Wissens. Als wertvolle Behälter besitzen sie gewissermaßen ein paralleles Leben. Wenn sie zerstört werden, werden sie eben nicht zerstört. Das können Sie mit Freuds Vorstellung von der menschlichen Psyche verknüpfen. In einem gesunden psychischen Gewebe geht nichts verloren; was wir vergessen, ist ja nicht unwiederbringlich zerstört. Die Seele sammelt auch, aber wir können uns nicht willkürlich aus dem Kontingent der gesammelten Gegenstände bedienen. An bestimmten Koordinaten in unserem Leben können wir Empfindungen haben, die wir zum letzten Mal vielleicht im Alter von sechs Jahren hatten. Und so ist die Bibliothek von Alexandria nur faktisch verbrannt, all das, was in ihr enthalten war, befindet sich in älteren Schichten in uns, die irgendwo gelagert sind und auf ihre Regeneration warten. Anders gesagt: Klaus Reichert hat den Anfang des ersten Buch Genesis aus dem Hebräischen übersetzt, und er behauptet, dass die wirkliche Übersetzung nicht "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde", sondern "in seinem Kopf und nach seinem Buch schuf Gott die Welt" heißen muss. Es gibt also erst ein Buch, erst eine Schrift, genau wie wir Schriften in unseren Zellen haben, die ja auch so etwas wie Bibliotheken darstellen, denn sie geben das Wissen über unseren blauen Planeten, das Wissen über die Evolution und damit über uns selbst wieder. Diese Bibliotheken in unseren Zellen stellen vermutlich die Grundform dar von dem, was dann an Bibliotheken entsteht. In Alexandria ist das Wissen in der Bibliothek gehortet und damit bis an die Grenzen des Reiches verfügbar. Wenn so etwas wie diese herrliche Bibliothek verbrannt wird, dann brennt sie in unseren Herzen so lange, bis wir sie wieder auslösen.

Combrink: Aber wie können wir sie wieder auslösen?

Kluge: Wir können weiterschreiben. Wo Sophokles dichtete, warten wir auf weitere Dichter, die Sophokles erneuern, wenn seine Texte zerstört wurden. Geformtes Wissen in den Tragödien von Sophokles oder den Texten von Homer ist mehr als das Wissen, das sie transportieren. Das sind poetische Gestalten, und die haben ein ewiges Leben. Und schauen Sie nur, wie präzise Homer schreibt. In der Odyssee findet sich kurz vor Schluß die Szene, in der die Mägde, die nachts mit den Freiern schliefen, gehängt werden, und dann gibt es diesen kurzen Moment, wo noch einmal die Füße zappeln. Das ist unübertrefflich so wie manche Texte von Tacitus. Das ist Lakonie, bestürzende Kürze. Wenn man neu schreibt, sind das die Stellen, an denen man sich entzünden kann.

Combrink: Nicht nur Tacitus oder Homer nennen Sie häufig als Vorbilder, sondern auch Marcel Proust. Wo sehen Sie die Parallelen zwischen Proust und Ihnen? Ihren erzählerischen Miniaturen steht das Riesenwerk der "Recherche" gegenüber.

Kluge: Ja, aber die "Recherche" ist ein Splittertext. Über sieben Seiten finden sich manchmal nur Worte, fast wie bei einer automatischen Schrift. Aber plötzlich gibt es einen Blitz, so wie der ganze Anfang auf einer einzigen Assoziation beruht, auf einem Geschmack, der besonders schwer wiederzugeben ist. Proust schreibt keineswegs anders. Und wenn in "Die Lücke, die der Teufel läßt" eine Geschichte über Proust enthalten ist, dann sind diese acht Zeilen mit allen Nerven, die Texte lieben können, Proust nachempfunden, quasi als eine Reverenz.

Combrink: Ist die direkteste Reverenz nicht das Zitat?

Kluge: Die direkteste ist die Liebe. Wenn ich also ganz innig an Proust denke und niemand merkt, dass ich in Gedanken an ihn geschrieben habe, dann wäre dies die dichteste Nähe. Ein Zitat enthält immer schon eine Verzerrung, das ist dann Cross-Mapping. Cross-Mapping entspricht der Arbeitsanweisung: "Mit einer Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern." Zwei Karten, die nicht zu einander passen, werden aufeinandergelegt und aus der Irritation können neue Einsichten entstehen. Wenn man die Philosophie von Immanuel Kant auf Intimbereiche anwendet, also Liebesverhältnisse, eine Dreiecksbeziehung zum Beispiel, dann sind ja offensichtlich die Texte von ihm für diesen Fall nicht durchdacht. Er hat das nicht als Beispiel genommen, um den kategorischen Imperativ zu exemplifizieren. Wenn ich an etwas gar nicht glaube, setze ich ein Zitat gegen ein Wirklichkeitsfeld, und damit kontrastiere ich zwei Wirklichkeitsverhältnisse.

Combrink: Durch das Zitieren verwenden Sie fremdes Sprachmaterial. Gibt es für Sie ein Eigentum an Sprache?

Kluge: Nein, das gibt es meines Erachtens nicht. Sprachen sind große komplexe Systeme wie Lebewesen. Die kann kein Autor sich aneignen, und er ist auch nicht gehalten, das Eigentum dieser Sprache anzuerkennen. Die Originalitätstheorie ist etwas, das ich nicht als zutreffend empfinde. Natürlich höre ich die Tonlage meiner Mutter oder der Kinderfrau, die mir die Märchen vorgelesen hat. Oder ich nehme die Stimme meiner Schwester als etwas ganz Individuelles wahr. Insofern gibt es natürlich das Eigene, nur ist dieses Eigene kein Eigentum. Meine Kinderfrau und meine Mutter sind längst gestorben, und so sind in mir eine ganze Menge von Stimmen von wirksamen Vorfahren, und mit diesen Zungen spreche ich.

Combrink: Manche Ihrer dichterischen Ahnen bezeichnen Sie als ihre Vertrauensleute. Können Sie erklären, was Sie darunter verstehen?

Kluge: Meine Lieblingsgeschichte in "Chronik der Gefühle" ist in dem Bild enthalten, auf dem ein Lastwagenfahrer zu sehen ist, der schon ein halbes Jahr blind seinen LKW fährt. Sein neunjähriges Kind, das neben ihm sitzt, sagt ihm, wo es lang geht. Er hört mit den Augen eines anderen. Er sieht über das, was er hört von dem anderen. Das ist eine Vertrauensbeziehung. Ich glaube, dass wir sehr viel mehr Vertrauensbeziehungen lebenslänglich aufbauen, als sinnliche Direktbeziehungen.

Combrink: Wo ist der Unterschied?

Kluge: Ich habe noch keinen Philosophen getroffen, der in einem Gespräch über sinnliche Wahrnehmung nicht sagt: "Nehmen wir das Glas oder den Tisch hier vor uns." Er meint dann, dass er ein direktes Verhältnis zum Glas oder dem Tisch vor ihm hat. Wenn er ein guter Philosoph ist, dann löst er diese Aussage wieder auf und behauptet, dass auch dieses Verhältnis höchst indirekt sei. Vor vier Wochen sprach ich in einer Sendung mit einem amerikanischen Hirnforscher, der mir berichtete, dass vierzig Agenten im Gehirn tätig sind, die der Person auf verschiedene Weise, als Chor, beschreiben, was sie sieht, ob der Gegenstand rund, gefüllt oder leer ist. Oder ob der Gegenstand, aus anderer Erfahrung hergeleitet, zerbrechlich ist. Der Begriff Glas wird nervös von vierzig verschiedenen Deutungssystemen, die alle nie selbst ein Glas gesehen haben und im Gehirn Echos verkünden, zu einer sinnliche Wahrnehmung verknüpft. Zwischen der physikalischen Beobachtung, die als Lichtquelle auf mein Auge dringt oder als Geräusch auf mein Ohr zukommt und dem, was mein Hirn dauerhaft verschlossen an Deutungen dieser Zeichen ermöglicht, ist eigentlich überhaupt keine Verbindung, sondern ein Abgrund. Das ist selber Cross-mapping, ein Abgrund von Missverständnissen. Nun nennen Sie mir den allwissenden, omnipotenten Autor, der mehr tun kann, als in diesem Orchester mitspielen!

Combrink: Wenn der Autor auch nicht omnipotent ist, so hat er doch, in Ihren Worten ausgedrückt, "einen Eigensinn".

Kluge: Am Anfang des neuen Buches ist ja ein Bild, auf dem Maultiere auf einer Insel zu sehen sind und ringsherum ist Wasser. Die sitzen nun auf ihrer Robinsoninsel in der Welt. So etwas ist objektiv, irgendwann wird sich entscheiden, ob sie davonkommen, gerettet werden oder ob sie umkommen. Gleichzeitig ist in ihnen eine Gegenwehr gegen dieses Objektive, sie wollen nicht sterben und zweifeln, ob es so gemeint ist von der Realität. Eingeimpft in der gleichen Evolution, die sie hervorgebracht hat, ist ihr Glaube, dass es nicht böse mit ihnen gemeint ist. Irgendetwas Mütterliches soll sie in dieser Realität beschützen. Was sie den objektiven Verhältnissen entgegensetzen, ihr Eigensinn, ist dann subjektiv. Allerdings kann ich nicht beweisen, ob Maultiere so etwas denken. Dass Menschen so etwas denken, davon bin ich überzeugt.

Combrink: Sie beschreiben die Maultiere als Wesen mit Empfindungen, aber Sie beschreiben sie mit der Sprache der Theorie, und damit erzeugen Sie Distanz.

Kluge: Weil es ja auch wahr ist. Kein Mensch weiß genau, wie die Maultiere auf der Missouriinsel empfunden haben. Wenn ein Mensch glücklich ist, dann übertreibt er, und wenn er von Unglück geschlagen ist, dann wird er dieses Unglück leugnen, so lange er kann. Da findet sich eine subjektive Antwort, die den objektiven, den wirklichen Verhältnissen entgegengesetzt ist. Die objektiven Verhältnisse sind nicht eingerichtet auf Menschen. Die subjektive Seite im Menschen reicht aber von der Leugnung der Wirklichkeit, wenn sie Unglück bringt, bis zur Übertreibung von Wirklichkeit, wenn sie glücksverheißend ist. Dann bildet der Mensch Hoffnungshorizonte und ist der Goldsucher seines Lebens.

Combrink: Gibt es eine Trennung von objektiv und subjektiv?

Kluge: Nein, es gibt nur subjektiv-objektive Verhältnisse. Das Subjektive und das Objektive mischen sich, aber ich kann es in einer Analyse wieder entmischen. Die objektiven Verhältnisse haben ein ganz verschiedenes Alter. Die Bahn, mit der ich gekommen bin, hat ein anderes Alter, als die Tasse Kaffee, die uns eben angeboten wurde. In der Universität Göttingen gibt es eine Struktur, die auf 1760 zurückgeht. Alle diese Zeiten enthalten objektive Verhältnisse verschiedener Genese, und zusammen bilden sie den Chor der Objektivität, mit dem wir umgehen, indem wir abstrahieren und sagen: "Wichtig ist mir jetzt die Geschichte der Universitäten oder die Geschichte des Dritten Reiches in Göttingen." Jedesmal habe ich eine andere Perspektive gewählt, eine andere Einstellung, filmisch gesprochen. Damit kann ich dann mit objektiven Verhältnissen umgehen, die selber eine Sogwirkung ausüben und von sich aus nicht zur Übersichtlichkeit neigen. Beim Subjektiven unterschätzt man, wie vielfältig häufig die Gegenreaktion ist. Da ist ein Mensch in uns, der ist sechs Jahre alt, der Säugling ist auch anwesend, und all dieses ist nur eine Form vom Chor. Wirklichkeiten, die mir Glück bringen, denen stimme ich auf dämonische Weise zu, auf Verhältnisse, die mir unerträglich sind, antworte ich zunächst mit Leugnung. Langsam erst trimme ich mich dazu, realitätsgerechte Antworten zu produzieren.

Combrink: Sie gehen nicht vom "freien Willen" aus?

Kluge: Es wäre übertrieben, wenn ich hier die Theorie des freien Willens vertreten würde. Ich glaube aber, dass es unfreiwillig so etwas wie Willenskräfte gibt, die uns beschützen können. Wenn wir das nehmen, was ein Kind als Schutzengel bezeichnet, dann bin ich der Meinung, dass wir mehrere Eigenschaften in uns haben, die schützend sind, die uns im rechten Moment veranlassen, uns richtig zu verhalten. Die Schnelligkeit, mit der sich erfahrene Soldaten hinschmeißen können, wenn sie kaum den Abschuß gehört haben, unterscheidet sie von denen, die neu dazukommen. Wahrscheinlich haben aber beide, der Neuling und der erfahrene Soldat, diese Fähigkeit des Ahnungsvermögens einer Gefahr erworben, längst bevor sie je an die Front kamen. Vielleicht war das 60000 Jahre vor Christus von einem unserer Vorfahren.

Combrink: In der Geschichte "Der Taucher", die in dem Buch "Die Macht der Gefühle" mit Bildern versehen und ohne die Bilder dann später in den "Basisgeschichten" in "Chronik der Gefühle" veröffentlicht ist, geht es darum, dass ein Mann eine verheiratete Frau umwirbt, er daher für sie nach einer Muschel taucht, aber am Schluß doch ihre Antipathie zu spüren bekommt. Am Ende der Geschichte schreiben Sie: "In dem Beziehungssystem, auf das sich der Taucher verlassen hatte, steckte ein Fehler." Erst skizzieren Sie umgangsprachlich recht präzise diese Szenerie und dann modulieren Sie plötzlich sprachlich in eine analytische und damit etwas kältere Tonart.

Kluge: Wobei kalt jetzt ein Wort von Ihnen ist. Ich empfinde ja analytisches oder theoretisches Reden nicht als kalt, sondern als eine genauso warmherzige Bemühung, wie das Streicheln eines anderen Menschen. In dieser kurzen Geschichte finden sich drei Elemente. Das Eine ist ein Vorkommnis, von dem ich weiß, denn die Geschichte habe ich gehört. Das zweite Element ist Schillers "Taucher" als eine poetische Metapher. Übrigens wird diese Tauchergeschichte von Sigmund Freud zitiert, zu Beginn von "Das Unbehagen in der Kultur". Dort sagt er, dass er das ozeanische Gefühl, welches der Liebe zugerechnet wird, nicht empfinden könne. Auch im äußersten Enthusiasmus habe er immer noch begrifflich denken können. Das sind Verwandtschaften untereinander. Und das dritte Element ist, dass ich natürlich überlege, warum jemand einer schönen Frau in der Erwartung, dass das ein gerechter Tausch sei, eine durch Gefahren eroberte Muschel bringt.

Combrink: Hat Liebe etwas mit gerechtem Tausch zu tun?

Kluge: Ja, denn in der Liebe gibt es keinen ungerechten Tausch. Die Troubadoure erwarten den gerechten Tausch. Ein Kind erwartet von seinen Eltern zunächst den gerechten Tausch. Die Grundlage, auf der die Erlaubnisse gegeben werden, intim zu werden, die enthalten ein Vertrauensversprechen: "Kann ich dir trauen, dann kann ich mich dir hingeben." Gerechter Tausch bedeutet ja nicht, dass die Gegenwerte rechnerisch übereinstimmen, das hat ja mit der Bilanz nichts zu tun.

Combrink: Als sie den Text geschrieben haben, haben Sie an dieser Stelle bemerkt, dass sich Ihre Sprache ändert?

Kluge: Ob man mit der Schere etwas schneidet oder mit dem Messer, ob man gärtnerisch tätig ist oder mit einem Musikinstrument, das ist doch egal, Hauptsache, es ist liebevoll. So ist das theoretische Einsichtsvermögen von Menschen ganz genauso eine sinnliche Fähigkeit wie das poetische.

Combrink: In dem Moment, wo der Mann seiner Angebeteten die Muschel überreicht, entleert sich sein Darm. In "Die Lücke, die der Teufel läßt" gibt es eine ähnliche Geschichte mit einem Piloten, der vor dem Abschuß der Raketen ebenfalls seinen Darm entleert und deshalb die Rakete nicht auf die Hochzeitsgesellschaft feuert.

Kluge: Das ist gleiche Geschichte, die Darmzotten denken klüger als der Verstand. Das ist einfach eine ältere Schicht in unserer Mitgift, als wir noch keinen Immanuel Kant hatten. Seit sehr frühen Zeiten ist schon ein Stück Seele im Darm, und die macht es, dass wir in einem Moment der Gefahr dazu tendieren, uns zu entleeren.

Combrink: Wenn wir bei der Geschichte "Der Taucher" bleiben und uns die beiden Fassungen anschauen, so arbeiten Sie in der ersten Fassung noch mit Fotos von Haifischen, die in "Chronik der Gefühle" dann nicht mehr zu finden sind. Wie kommt das?

Kluge: Das ist eine Frage der Akzentbildung. In einem Filmbuch, das wesentlich den Film wiedergibt, wird die Erzählung durch die Fotos gestützt. Genauso macht der Übergang von einem erzählenden Satz zu einem Begriff, wenn er die Anschauung verstärkt, auch keinen Unterschied. Es sind aber verschiedene Aggregatzustände des Erzählens.

Combrink: Die Bilder fungieren bei Ihnen aber nicht nur als Illustration.

Kluge: Bilder dieser Art sind ja nicht originäre Wahrnehmungen, sondern in diesem Fall schließt sich die Metapher Haifisch an und dann die Brechtschen Liedzeilen "der Haifisch, der hat Zähne". Sie können nicht unbefangen über einen Haifisch erzählen, wenn sie einen Haifisch nur aus dem Aquarium kennen. Wenn man einen Haifisch als Bild zitiert, dann ist es naheliegend, dass man auf die Zähne setzt, da es grotesk ist und der Verzerrung dient. Die Groteske erleichtert den Übergang zwischen Lesen und Schauen.

Combrink: Schreiben Sie erst den Text und suchen dann die Bilder, oder arbeiten Sie in genau umgekehrter Richtung?

Kluge: Das Bild mit den Maultieren hat mir meine Schwester eines Tages mitgebracht. Das hat sie in einem Buch beim Antiquar gefunden. Dann hat sie gesagt: "Die Geschichten, die gefallen mir nicht wirklich. In dem einem Kapitel sind lauter Wissenschaftler, das sind ja fast Verrückte, die da Wissenschaft betreiben. Wenn ich das lesen soll, produziere ich innerlich soviel Widerwillen, dass mein Erkenntnisinteresse abstirbt." Es war nicht ganz einfach für sie, mich zu überzeugen. Natürlich bin auch ich subjektiv und verliebt in meine Geschichten, denn ich finde, dass es zutreffende Geschichten sind. Um mich zu beeinflussen, hat sie mir das Bild gegeben. Vierzehn Tage, nachdem wir uns über die Streichung von Texten gestritten hatten, wurde das ganze Kapitel über spekulative Wissenschaft aufgelöst. Davon ist jetzt nur noch eine ganz knappe Geschichte drin.

Combrink: Bei den "Geschichten über das Weltall" im neuen Band findet man ohne wissenschaftliches Vorverständnis als Leser nur schlecht Orientierungspunkte.

Kluge: Was mich an Sternen fesselt, ist, dass sie nicht manipulierbar sind. In der Orientierung findet sich die Grundmetapher, dass Räuber am Strand die Leuchttürme verrücken. Die Schiffe stranden und werden ausgeraubt, und das nennt sich dann Strandraub. Und Navigation auf See hat den Vorteil, das die Sterne nicht verrückbar sind. Kein Feind kann die Sterne umrücken. Man braucht sehr komplizierte Täuschungsmanöver, wie wir sie heute machen können durch die Satelliten im Orbit, um die Orientierung unmöglich zu machen.

Combrink: Manche Texte, wie zum Beispiel "Plasketts Stern", beschränken sich auf die Wiedergabe von astronomischen Sachverhalten und deuten nur noch schwach einen poetischen Gestus an. Wie kommt das?

Kluge: Wenn Sie in einem Film einen wichtigen Montageschnitt machen, müssen sie vorher eine leere Einstellung haben. Sie können nicht nur Wichtigkeiten aneinander reihen, damit kann man keinen Film machen. Die Geschichten sind untereinander verknüpft. Wenn man mir aus einem Kapitel drei Geschichten heraustrennt, ändert sich das ganze Kapitel, da es ein Proportionssystem ist.

Combrink: Aber wieviel Vorwissen würden Sie voraussetzen beim Leser?

Kluge: Keines, aber Sinn für Worte oder Situationen, das würde ich voraussetzen. Ich gehe einfach mit diesen Wissensformen um, als wäre es Alltag. Es kommt in jeder Kindergeschichte vor: "einer pflückt einen Stern" oder "jemand zündet die Sterne nachts an". Das sind ja Vorstellungen, die wir in der Kinderzeit hatten. Eine Kerngeschichte ist für mich "Ein Menschheitsbote von 1917". Aus den siebzig Jahren kommunistischer Herrschaft ist ein Selbstbewußtsein der Wissenschaft entstanden, das sich den Sternen zugewendet hat, erst den Flugzeugen, später den Sternen. Angefangen von der Mir bis zur sowjetischen Astronomie ist eigentlich nirgendwo soviel von den Sternen erwartet und soviel Interesse hingetragen worden. Aber das Land war ja relativ elend, gemessen daran, was sie mit den Sternen zu tun haben wollten. Wenn wir nun die Geschichte "Politische Ökonomie der Sterne" nehmen, dann findet sich hier ein Gedanke, über den ich mich mit Heiner Müller sehr intensiv unterhalten habe: Sterne sind verschwenderisch. Junge Sterne, blaue Riesen, sind in einer Million Jahre schon verpulvert. Da verpulvern sie das, was 10 Milliarden Jahre halten könnte, weil sie so viel Sternenwind verstreuen. Diese Riesensterne haben ein kurzes Leben und arbeiten vollkommen unökonomisch. Es gibt ja für Verschwendung viele Metaphern. Heiner Müller trägt das in dieser Geschichte nun vor und macht sich dabei vor lauter Planwirtschaftlern der DDR unmöglich, indem er sagt, dass man bei der Eroberung des Kosmos aufpassen solle, dass die Planwirtschaft nicht gefährdet sei.

Combrink: Was denken Sie denn über Planwirtschaft?

Kluge: Planwirtschaft ist nicht etwa absurd. Die sieben mageren und die sieben fetten Jahre sind eine Grundmetapher des Menschen. Es gibt das Haushälterische im Menschen, und die Speisekammer ist etwas Achtenswertes.

Combrink: Wie verstehen Sie das Verhältnis von Theorie und Poesie?

Kluge: Da gibt es für mich keinen Unterschied. Eine gute Theorie ist poetisch und damit eine Zuspitzung von Poesie. Und Poesie, die nicht einer theoretischen Betrachtung standhält, ist geradezu langweilig.

Combrink: Ist Kant für sie poetisch?

Kluge: Der hat poetische Stellen. Er bemüht sich nicht um Poesie. Aber eine so glasklare Fähigkeit, große Raster über den Planeten und das Menschengeschlecht zu legen, dass ein einer Spinne, einer Arachne, würdiges Webnetz entsteht, das ist auch ein poetischer Ansatz. Wenn wir über Theorie sprechen, dann muss ich sagen, dass die diskursive Mitteilung ungenauer ist als die poetische, und sie ist auch ungenauer als die wirklich theoretische. Diskursive Texte, also die meisten wissenschaftlichen Texte, sind auf mittlere Verständigungsgrade gerichtet. Möglichst viele Leute sollen sich über das Gelesene oder Gehörte austauschen können. Sage ich "bürgerliche Gesellschaft", dann ist das ein Mittelwert und damit sehr ungenau. Wenn ich "am Fuße des Berges" sage, dann ist das eine Metapher, denn der Berg hat weder einen Fuß, noch sage ich genau, wo die Stelle am Berg sich befindet, das wäre dann diskursive Redeweise. Die Sprache kann aber mehr, und die poetische Sprache würde natürlich Genauigkeitsgrade suchen. Wenn Robert Musil am Anfang vom "Mann ohne Eigenschaften" das Wetter beschreibt, dann ist das zwar Umgangssprache, aber sehr viel genauer als jedwede diskursive Redeweise, es ist unverwechselbar dieser eine Tag. Das Ungefähre und das Unbestimmte sind aber genauso Kategorien des Poetischen wie das Bestimmte und das Genaue. Manche Dinge wären absurd, wenn die übergenau geschildert würden. So ist "tausend Jahre wie ein Tag" tatsächlich eine poetische Metapher.

Combrink: Wer wäre denn ein poetischer Wissenschaftler für Sie?

Kluge: Novalis oder Büchner in seinen naturwissenschaftlichen Schriften.

Combrink: Wäre Wittgenstein für Sie ein Poet?

Kluge: Nein, für eine poetische Tätigkeit tritt er zu stark als Dirigent auf. Er betrachtet die Worte, während er sie schreibt und sondert alles Mögliche aus. Es fehlt ihm einfach jede musikalische Struktur. Aber da würde ich mit mir reden lassen, denn sammeln tut er auch, und das Poetische heißt sammeln. Er sammelt aber rechthaberischer als ich. Der ist mir schlicht zu logisch, der gebraucht nicht beide Hirnhälften. Aber da kann ich auch falsch liegen.

Combrink: Gibt es eine literarische Tradition, zu der Sie sich zählen würden?

Kluge: Helmut Heißenbüttel ist mir sehr nah. Aber in eine Tradition stellen, da würde ich etwas ganz Einfaches nehmen: Ovid, Tacitus, Montaigne.

Combrink: Heißenbüttel hatte eine ähnliche, vielleicht noch radikalere Vorstellung als Sie vom Nutzen des Zitats in der Literatur.

Kluge: Alles, was in einem Menschen an Stimmen vorkommen kann, ob er an der Theke steht, ob er quasselt, ob er Akademiker ist und denkt, ob er empfindet, ob ein Kind schreit, ob ein Kind lacht, ob ein Dämon in mir spricht oder nicht, ob meine Eltern durch mich durchsprechen, das ist alles gleichwertig. Ich bin eine anarchistische Komponente und zwar nicht aus Willkür, sondern aus tiefem Glauben, dass keine Kommunikation einer anderen vorangeht, wenn sie menschlich ist.

Combrink: Von wem stammen Sie literarisch ab?

Kluge: Ich stamme von der Kritischen Theorie, und die haben eine ganz feste Genealogie. Horkheimer hat das frühe Bürgertum, die Menschen um 1600, also Shakespeare, Galilei, Monteverdi, den Homo novus, als Ahnvater, und Montaigne ist sozusagen genau dieser Typus. Montaigne ist mein Vorbild, denn er weist direkt auf die Antike. Auch Cäsarius von Heisterbach ist einer meiner Vorfahren, der hat lauter mittelalterliche Tratschgeschichten aus den Trümmern der antiken Traditionen aufgeschrieben, indem er alles, was ihn interessiert und was er an Fragmenten gefunden hat, zu sehr schönen, emotionalen Geschichten zusammenkittet hat. Der ist ebenfalls eine Relaisstation zur Antike.

Combrink: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie Poesie und Wissenschaft nicht streng voneinander abgrenzen?

Kluge: Ja, denn ich glaube, dass man antihierarchisch mit diesen beiden Gebieten umgehen darf. So wie man Kenntnisse der Literatur antiliterarisch anwenden darf, so darf man auch Theorie unter Duldung des Antitheoretischen im Menschen ausüben. Gauß war in dem Moment, wo er in die Wälder Sibiriens das pythagoreische Dreieck über Hunderte von Meilen einschnitzen ließ, als Poet tätig. Er war Gärtner. Das ist eine poetische Tätigkeit. Zwischen einem Poeten, einem Philosophen, einem Wissenschaftler gibt es nur arbeitsteilige Unterschiede. Die antihierarchische Beobachtungsfähigkeit, das ist das eigentlich Poetische. Dabei muss man die Grenzverletzung dulden, dass etwas wissenschaftlich ist und hier in die Erzählungen eindringt. Wissenschaft ist etwas Erzählenswertes. Je mehr Fachgrenzen man beim Erzählen überschreitet, desto mehr muss man sich klar sein, warum man überhaupt erzählt.

Combrink: Verringert sich die Leserzahl durch diese Grenzüberschreitungen?

Kluge: Da kann man nicht wirklich Rücksicht drauf nehmen. Ich bin ja nicht populär. Ich würde ja gerne beides miteinander verbinden. "Devil´s blind spot" heißt die amerikanische Ausgabe von "Die Lücke, die der Teufel läßt", und die ist nicht 900 Seiten, sondern 260 Seiten lang. Wenn die Menge sich ändert, dann ändert sich alles, und ich muss neu erzählen und eigentlich alles umdichten. Ich kann mich nicht gleichzeitig auf die Verkaufbarkeit und auf die Kunst konzentrieren.

Combrink: Gibt es einen Grund, dass Ihre Geschichten teilweise nicht länger als eine halbe Buchseite sind?

Kluge: Wie erkennt man einen Dämon? Er schwatzt und übertreibt. Jedes weitere Wort würde meine Geschichten häufig schwächer machen. Bei Paracelsus ist die höchste Potenzierung gleichzeitig die größte Verdünnung. Je wichtiger ein Vorgang emotional ist, je kürzer wird die Geschichte, weil jede Phrase überflüssig ist. Anton Webern musste seine Symphonien mehrmals von den Wiener Philharmonikern spielen lassen, weil die Leute wegen der Kürze nicht wußten, ob sie die Symphonie schon gehört hatten oder ob die Musiker noch ihre Instrumente stimmen.

Combrink: Lesen Sie gern Romane?

Kluge: Ja, vor allem Tolstoj, aber auch "Madame Bovary" oder "Effi Briest" lese ich sehr gerne. Mein Lieblingsroman ist die "Princesse de Clèves" von Madame de La Fayette. Aber ich komme mit sieben Romanen aus. Und die "Metamorphosen" von Ovid gehören natürlich auch dazu und das soll andeuten, wie stark ich in Ovids Tradition stehe. Das, was leidet, nimmt bei ihm eine fremde Gestalt an. Das ist der ganze Inhalt der "Metamorphosen".

Combrink: Mögen Sie Arno Schmidt?

Kluge: Den liebe ich sehr. Arno Schmidt ist mir außerordentlich nah. In seinem Verhältnis zum Material ist er aber viel omnipotenter als ich. Der ernennt die Wirklichkeit; Wirklichkeit gibt es ehrenhalber bei ihm. Einfach nach seinem Interesse erklärt er etwas für relevant. Da wäre ich hysterisch vorsichtig und würde an der so gesetzten Wirklichkeit dauernd zweifeln. Er ist mit der Beste. Aber die früheren Sachen gefallen mir viel besser, weil sie nicht den Großgestus haben. Wenn man die früheren Texte von Arno Schmidt auf eine lange Papyrusrolle schreiben würde und dazusetzte, was gravitativ aus "Zettels Traum" angezogen würde, dann hätte man ein Buch, dass allen meinen Büchern überlegen wäre. Das würde ein Interesse wiedergeben, das es nur an der Schwelle von 1800 gegeben hat und noch unmittelbar vor den Gebrüdern Grimm liegt. Er hat sehr viel von dem, wie die Gebrüder Grimm die Märchen gesammelt haben, und er hat auf so eine elaborierte Weise ein Ausdrucksvermögen deutscher Sprache.

Combrink: Aber welches Interesse gibt Ihre Literatur wieder?

Kluge: Bei mir kommt eine bürgerliche Bescheidenheit hinzu und eine Erziehung in der kritischen Theorie und in der Musik. Es gibt einen Satz von Bach: Wenn eine Stimme nichts zu sagen hat, dann hat sie zu schweigen. Bach ist in den energischen Kompositionen sehr verdichtet, lakonisch und direkt. In der Substruktur ist er noch mal so gut, und wenn man die Phrasen wegläßt, dann bestehen die Stücke aus Kernen. Diese subkutanen Kerne findet man auch bei mir, und diese Kerne haben die Erziehung, dass die Autonomie der Sprache, der Worte und die Autonomie der wirklichen Verhältnisse einen Zusammenhang bilden und alles aus wirklichkeitskonzentrierten Details besteht. Meine Geschichten enthalten den Kernsatz: Das Geschehen ist eigentlich autonom, und ich will es beschreiben.

Combrink: Sie haben mal gesagt, dass Produktivität die einzige Währung sei, die sie akzeptieren und dass nur der, der arbeitet, Erfahrungen machen würde. Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Begriff Homo faber für Sie?

Kluge: Wir müssen den Homo faber studieren, weil er instinktiv in uns eingesetzt ist und als ein Produkt einer Evolution, die auch Fehler macht, uns mitgegeben ist. Aber wir müssen den Homo faber verknüpfen mit dem Homo compensator, dem Gleichgewichtler, der empathiefähig ist. Der Homo faber kann ohne jede Empathie einen Robotomismus des Bösen betreiben. Der kann auch Auschwitz gründen, während der empathische Mensch das gar nicht kann, der würde eine Allergie bekommen.

Danke für das Gespräch!

Quelle: Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.titel-magazin.de

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