"Träume sind die Nahrung auf dem Weg zum Ziel"

Von Peter Laudenbach | | Interviews

Für den Schriftsteller und Filmregisseur Alexander Kluge ist das Nützliche allein nicht lebensfähig. Ein Gespräch über Wunschenergie und den lebensnotwendigen Überschuss an Möglichkeiten.

brand eins: Herr Kluge, wie entstehen große Träume?
Alexander Kluge: Menschen brauchen einen Horizont. Wenn Horizonte und Perspektiven verschlossen sind, werden die Träume größer. Die großen Träume dienen zur Horizont-Erzeugung. Das ist nicht das Gleiche wie die Träume, die man nachts hat. Früher sagte man zu den großen Träumen auch Utopie. Das ist ein falsches Wort. Utopie bedeutet: kein Ort. Ein Traum hat aber immer einen Ort. Der Träumende ist nicht irgendwo im luftleeren Raum, sondern in einer konkreten Situation. Darauf antworten die Träume. Träume sind nicht nur ein Ausdruck von Wünschen, sie sind auch der Ausdruck von Not. Wären wir im Paradies, müssten wir nicht träumen. Träume sind keine Utopien, es sind Heterotopien, also andere Orte, eine andere Wirklichkeit, die gleich neben der ersten Wirklichkeit liegt.

Frei nach Woody Allen ist die Wirklichkeit möglicherweise kein schöner Ort – aber der einzige, an dem man ein ordentliches Steak bekommt. Und Anhänger des Sachzwangs würden sagen, dass neben den objektiven Tatsachen imaginäre andere Wirklichkeiten ziemlich unwichtig sind.
Wir leben in mehreren Wirklichkeiten. Zu den Sachzwängen gehört das Gefühl. Wenn ein Mensch in seinen Gefühlen von der Realität beleidigt wird, will er, dass neben den Tatsachen seine Träume auch ein Recht haben. Es ist etwas Schönes, wenn ich eine Erfahrung, die mich quält und die ich im Augenblick für unveränderbar halte, verlasse und in eine andere Erfahrung eintauche. Das passiert, wenn wir träumen oder wenn wir ins Kino gehen. Oft haben wir dann beim Wiedereintritt in die Wirklichkeit die Lösung für ein scheinbar unlösbares Problem. Wir haben sie im Traum gefunden. Ähnliches wird ja auch von Wissenschaftlern berichtet, die an einem Problem arbeiten und die Lösung unwillkürlich finden, während sie mit etwas völlig anderem beschäftigt sind. Träume stellen eine eigene Wirklichkeit her. Das ist der Antirealismus des Gefühls. Den soll man genauso ernst nehmen und wertschätzen wie die objektiven Tatsachen. Beide haben recht: die Träume und die Tatsachen. Das eine kann das andere nicht auslöschen. Das Nützliche allein ist nicht lebensfähig. Was mein Zwerchfell mir erzählt und was mein Gehirn mir erzählt, ist verschieden, aber beides zusammen ist real. Eines allein bildet die Wirklichkeit nicht ab. So entstehen Zerrbilder.

Das Nasa-Raumfahrtprogramm 1961 war ein Projekt des Kalten Krieges und gleichzeitig der Versuch, einen Menschheitstraum zu erfüllen und zum Mond zu fliegen. Der Teilchenbeschleuniger des Cern, die größte Maschine der Welt, dient der physikalischen Grundlagenforschung – eine enorme Investition, von der niemand weiß, ob sie irgendwann zu nützlichen Ergebnissen führt. Brauchen solche Projekte neben dem nüchternen Kalkül auch eine rational nicht ganz zu begründende Vision, eine Art utopischen Überschuss?
Sie brauchen eine Wunschenergie. Man kann bei Erfindungen nie vorhersagen, was daraus wird. Wissenschaftler, die am Cern zusammenarbeiten, wollten ihre komplexen Datensätze austauschen. Dafür entwickelten sie ein System. Daraus entstand etwas, was die Cern-Forscher überhaupt nicht intendiert hatten: das World Wide Web. Der Alchemist Johann Friedrich Böttcher soll im 18. Jahrhundert am Dresdner Hof Gold erfinden – und erfindet dabei ein Verfahren zur Porzellanherstellung. Hier gibt es mehr Glück als Verstand, auch wenn im Cern ungeheure Mengen davon versammelt sind. Man kann den Fortschritt nicht planen.

Heißt das, auch Träume, die nicht in Erfüllung gehen, sorgen für reale Veränderungen, wenn man sie nur ernst nimmt?
Es gibt den Traum, dass es eine Rettung geben möge, wenn in unserem Leben Katastrophen geschehen. Wer im jugoslawischen Bürgerkrieg in Sarajevo lebt, träumt von der Flucht nach Westeuropa, auch wenn Westeuropa in diesem Augenblick so fern ist wie der Mond. Solche Träume sind ein Trost. Wenn jemand wie Martin Luther King davon spricht, dass er einen Traum hat, ist der Traum ein anderes Wort für Vorstellungsvermögen. Das ist ein Reichtum. Wir sind umgeben von Konjunktiven, von der Möglichkeitsform. Es könnte alles ganz anders sein.

Von dem Schriftsteller Robert Musil stammt der berühmt gewordene Satz, wenn es Wirklichkeitssinn gebe, müsse es auch so etwas wie einen Möglichkeitssinn geben.
Und dieser Möglichkeitssinn verändert die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ich hatte ein Gespräch mit dem Unternehmensberater Roland Berger. Er hat erzählt, dass es im Dezember 1989 objektiv möglich gewesen wäre, die DDR zu einer Sonderzone der EU zu machen, als eine Lieblingskolonie der Beamten in Brüssel – von Margaret Thatcher gedacht als Verhinderung eines Großdeutschlands, von François Mitterrand gedacht als östliches Expansionsgebiet der französischen Industrie. Der Prozess nach 1989 hätte also auch anders verlaufen können. Wenn man nicht sieht, dass es immer auch andere Möglichkeiten gibt, wenn man nur die Sachzwänge sieht, die ja mindestens so imaginär sind wie die Träume, wird man wirklichkeitsblind. Ein kluger Ökonom wie Adam Smith, dieser sympathische Schotte, verbindet die objektiven und die subjektiven Tatsachen. Auf dem Markt sind Millionen Egoismen tätig, gemeinsam schaffen sie das Gemeinwohl. So entsteht eine Form von stillschweigender, unbewusster, gar nicht intendierter Kooperation. Wir hätten in der Evolution als Gattung ohne diese Fähigkeit zur Kooperation nicht überlebt. Es gibt nichts Egoistischeres und zugleich Gemeinwohl Stiftendes als Kooperation. Menschen wollen ihr Vertrauen anlegen, nicht aus Sentimentalität, sondern weil sie das zum Überleben brauchen.

Was ist der Unterschied zwischen Träumen und Zielen?
Träume sind die Nahrung auf dem Weg zum Ziel. Ohne Träume verhungert man auf diesem Weg. Sie können statt Traum auch Hoffnung sagen. Wer seine Träume ernst nimmt, hat einen Vorrat an Hoffnung. Das ist eine knappe, also eine kostbare Ressource.

Menschen, die man daran hindert zu träumen, werden entweder sterben oder untergehen. Stimmen Sie diesem Satz des Dramatikers Heiner Müller zu?
Ich stimme fast allem zu, was Heiner Müller gesagt hat. Der Satz gilt nicht nur für einzelne Menschen, er gilt auch für Gesellschaften. Gesellschaften, die keine Träume mehr haben, haben nur noch die Gegenwart. Von Gegenwart allein kann man nicht leben. Gesellschaften haben einen enormen Bedarf an Zukunftserwartung. Sie brauchen eine Zukunft, über die nicht schon in der Vergangenheit verfügt wurde. Die Vorstellung einer verschlossenen Zukunft, die nur Altlasten und Schulden der Vergangenheit abtragen muss, halten Menschen nicht aus. Das wird als Aufforderung zur Gewalt, zur Barbarei erlebt. Eine einschneidende Erinnerung ist für mich der Juni 1948, als mit der Währungsreform jeder Westdeutsche 40 D-Mark bekommen hat. Damit war die Zukunft wieder offen. Für einen Moment fängt alles neu an. Die Menschen sind wieder bereit, Hoffnung zu investieren.

Ein Unternehmen braucht, um überhaupt zu investieren, die Erwartung einer halbwegs planbaren Zukunft.
Siemens zum Beispiel steckt enorme Gelder in Forschungsprojekte, zum Beispiel, um über die Frage nachzudenken, was es bedeutet, dass in 20, 30 Jahren große Teile der Menschheit in Mega-Citys leben werden. Das sind keine Träume, aber es sind auch keine linearen Berechnungen der Zukunft. So entsteht ein Überschuss an Möglichkeiten. Das können Sie von der Ökonomie in Liebesverhältnisse übersetzen: Jede Liebesbeziehung braucht diesen Überschuss an Möglichkeiten. Wenn ich mir nichts mehr vorstellen kann, wenn ich alles schon kenne und die Ziele des anderen in jedem Augenblick merke, ist das eine liebestötende Situation. Wirklichkeit braucht Unbestimmtheit. Wenn ich nicht wissen kann, wie der andere meine Zärtlichkeit erwidert, wenn ich auf Überraschung angewiesen bin und darauf, den anderen zu überraschen, ist das eine lebendige Liebes-Situation. Das Gegenteil davon ist Mechanik.

Was hat die Dynamik von Liebesbeziehungen mit Zukunftserwartungen in der Wirtschaft zu tun?
Ein Konzern wie Siemens muss genauso Hoffnungshorizonte mobilisieren, zum Beispiel bei den Mitarbeitern und Kunden, wie jemand in einer Liebesbeziehung. Dieser Glaube an eine gemeinsame Zukunft, das Vertrauen, ist ein Kredit, den jedes Unternehmen und jede Liebesbeziehung braucht. Ohne dieses Kapital an Vertrauen übersteht man keine Notzeiten. Etwas anderes ist die Illusion, alles zu wissen, die Wirklichkeit zu beherrschen und die Zukunft planen zu können. Man sieht aber nie das ganze Bild, wie ein Filmemacher, der beim Framing am Rand der Einstellung etwas abschneidet. Im Märchen vom Dornröschen ist das die 13. Fee – und die bringt das Unglück. Der Glaube, die Zukunft planen zu können, ist gefährlich. Die Illusion, dass etwas, das heute funktioniert, morgen genauso funktionieren wird, führt zu Katastrophen, wie in Tschernobyl oder bei Lehman Brothers. In Tschernobyl haben die Planer übersehen, dass in der Kontrollzentrale Menschen arbeiten, und Menschen werden müde. Sie haben alles berechnet, nur nicht die menschlichen Eigenschaften wie das Nachlassen der Aufmerksamkeit der Mitarbeiter.

Die Filmindustrie wird gern Traumfabrik genannt. Wozu brauchen Gesellschaften Orte, an denen ihre Ängste und Sehnsüchte sichtbar werden?
Wenn wir sie nicht bräuchten, gäbe es solche Orte nicht. Wenn ich die „Metamorphosen“ des Ovid lese, habe ich einen direkten Zugang zu einer fremden Welt. Der Kunst ist die Vorstellung vertraut, dass fremde Wesen auf fernen Planeten leben. Für Immanuel Kant ist es geradezu läppisch und überheblich, wenn jemand die Existenz fremder Intelligenzen auf anderen Planeten bestreitet. Weil er ein geselliger Mensch ist, würde er sich gern mit den Außerirdischen austauschen. Das durchbricht die engstirnige Diktatur der sogenannten Wirklichkeit.
Die Kunst ist nicht der einzige dieser Orte. Andere sind zum Beispiel die Tagungsstätten in Aspen, wo die wichtigen Stiftungen ihre Konferenzen abhalten, oder Hotels in Davos beim Weltwirtschaftsforum. Das sind Öffentlichkeiten, in denen man anders sprechen kann als auf einer Vorstandssitzung. Auch die Funktionseliten brauchen Orte, an denen sie nicht nur funktionieren, sondern mit Möglichkeiten und alternativen Szenarien spielen können. Freud nennt das ein Probehandeln im Geiste. Das ist kein durchkalkulierter Plan, es ist auch kein Traum, es ist ein antizipierendes Durchspielen von Möglichkeiten. Das ist schwer herzustellen, weil meistens die Zeit fehlt.
Wir haben den G-20-Gipfel gefilmt, das Treffen der wichtigsten Regierungschefs der Welt. Bei den Dreharbeiten hatte ich den Arbeitszeitmesser Trube dabei. Herr Trube hat gestoppt, wann diese Politiker in ihrem Tagesablauf überhaupt Zeit haben, nachzudenken. Die wenige Zeit, die sie haben, müssen sie mit öffentlichen Ritualen und festlichen Essen vertrödeln. Sie haben keine Zeit für nichts, sagt Herr Trube. Ihnen fehlt die Zeit, aus dem zwangsläufigen Handlungsablauf herauszutreten und in Alternativen zu denken, genau wie Manager. Hannibal verliert in der Antike den Krieg, weil er nie eine Pause gemacht hat. Er hatte keine Zeit.

Träume können aber auch den nüchternen Blick vernebeln und fatale Folgen haben. Wann werden sie gefährlich?
Träume eröffnen Horizonte, aber sie sind nicht unschuldig. Die Deutschen träumten vor 70 Jahren davon, Afrika zu erobern: "In die Zukunft ziehen wir Mann für Mann …" Diese Träume werden bitter bezahlt.

Alexander Kluge, 77, ist Schriftsteller, Filmregisseur und TV-Produzent. Zuletzt ist sein Filmessay "Nachrichten aus der ideologischen Antike" erschienen (Filmedition Suhrkamp). Derzeit arbeitet er an einem Film über die Weltwirtschaftskrise.

Foto: Monika Höfler

 

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