RAUMSTATION BABYLON

Von Daniel Weber | Quelle NZZ FOLIO Heft Nr. 2 Februar 2001 | | Interviews

Was hat Breitbandfernsehen mit Oper zu tun? Was Till Eulenspiegel mit medialen Darstellungsformen? Was Ovid mit dem World Wide Web? Der Kulturoptimist Alexander Kluge stellt die Vernetzungen her. Das Gespräch führte Daniel Weber.

Herr Kluge, mit Ihrer TV-Produktionsfirma sind Sie auch bei dem Versuch mit interaktivem Fernsehen dabei, den die Bertelsmann Broadband Group in mehreren deutschen Städten durchführt. Was steuern Sie dazu bei?
Ich stelle Vernetzungen her unter dem Stichwort Opernführer, oder genauer: imaginärer Opernführer. Es gibt ja rund 86 000 Opern, von denen sind aber nur vielleicht 7000 überhaupt bekannt, gespielt werden noch viel weniger, und in einem traditionellen Opernführer kommen natürlich nur die berühmten vor. In diesem Breitbandversuch, der das Fernsehen mit dem Internet verbindet, können wir nun etwas tun, was ich immer schon tun wollte: einen Opernführer herstellen, mit knappen Texten, nur etwa zwanzig Zeilen pro Oper, hinter denen eine ganze Bibliothek von Informationen abrufbar ist.

Das heisst, man kann am Bildschirm dieses Internet-Fernsehgeräts eine Oper anklicken?
Genau, Sie klicken etwas an. Zum Beispiel den Titel "Die Schöne will, der Scharfe darf". Ist das eine Operette? Ist das etwas Neues? Sie bleiben dort hängen, weil der Text anzüglich ist oder Ihnen unbekannt oder weil er sich reimt. Dann können Sie alles, was damit verwandt ist, anklicken, bis hin zu "Der Vetter aus Dingsda". Und wenn Sie nicht mit der leichten Muse weiter wollen, können Sie von dort in die schweren Opern gehen, etwa sechzig Opernkomplexe haben wir bisher produziert. Das funktioniert wie eine Strassenkarte, die eine Übersicht des Strassennetzes gibt. Sie müssen nicht alle Strassen ablaufen, sondern sehen auf einen Blick das Zentrum, die Vororte und so weiter.

Ich kann als Zuschauer also Informationen von unterschiedlichem Gewicht abrufen?
Je weiter Sie klicken, desto intensiver wird die Information: Zunächst haben Sie nur den Text mit Fotos, dann gelangen Sie zu den Kurzfilmen, die sind zwischen einer und fünfzehn Minuten lang. Das hat uns gezwungen, die Opern, die ja alle länger sind - ausser Milhauds Einminuten-Opern -, zu kürzen und aus mehreren Perspektiven zu zeigen. Wir können von "Aida" zwanzig verschiedene Varianten bauen, die so unterschiedlich sind, dass daraus ein besonderer Reiz entsteht. Wenn Zubin Meta dirigiert oder Michael Gielen, wenn Hans Neuenfels inszeniert oder wenn man sie in Verona sieht -dann sind das völlig verschiedene Opern. Auf dieser Ebene der Strassenkarte gehen Sie schon durch Ladenstrassen, wo die Geschäfte übersichtlich nebeneinander stehen. Und von diesen Geschäften können Sie dann in die Vorratslager klicken, da haben Sie die ganzen Opern, eine Bibliothek aller erreichbaren, qualifizierten Aufführungen. Das sind dann sechsstündige Sendungen.

Und das alles ist abrufbar?
Ja, dahinter steckt die Idee: Auch wenn ich im Moment nicht alles sehen will, kann ich doch darauf zurückgreifen, da ist ein grosser Vorrat. Ich habe ein Gefühl, wie mein Vater es hatte, wenn er seine Würste betrachtete und sich auf den Winter freute. Er war Landarzt, die Bauern haben sie ihm gebracht. Und so kann ich jetzt bei diesem Versuch, der Fernsehen und Internet verbindet, auch mit Kultur umgehen. Ich habe Vorräte und muss nicht alles, was ich habe, gleich aufessen.

Können Sie uns das Konzept an einem Beispiel erläutern?
Nehmen Sie die deutsche Nationaloper, Webers "Der Freischütz", die kurz nach dem Dreissigjährigen Krieg handelt. Einer, der scharf schiessen gelernt hat, kehrt in die Heimat zurück und schiesst dort auf das Liebste, das er hat. Auch Strawinskys "L'histoire du soldat" von 1918 zeigt einen verirrten Soldaten. Und die wichtigste Oper der Moderne, Alban Bergs "Wozzeck", erzählt dasselbe. Das würde jetzt einen gemeinsamen Nenner ergeben: Wir erzählen vom verirrten Soldaten, von der misslungenen Heimkehr. Und kommen plötzlich zu "Idomeneo" von Mozart, wo ein aus Troja heimkehrender König seinen Sohn opfern soll. Das Heimkehrerthema liegt den Menschen offensichtlich auf der Seele. Und gerade die Heimkehrenden aus dem letzten Krieg kamen in Deutschland nach Hause, ohne zu erzählen, denn sie konnten nichts Ruhmvolles berichten. Und das alles können wir nun zu einem Sechs-Stunden-Stück vernetzen. Wir produzieren im Grunde Vertrauen in die Oper, indem wir zeigen: Das hat mit deinen Erfahrungen zu tun. Und ausserdem hat's noch Musik.

Aber die Vernetzung geht weit über die Oper hinaus.
Till Eulenspiegel hat das ja vorgemacht. Er hat gewettet, dass man hundert Fische in zwei Stunden essen kann -und er gewann. Er liess sie so verschieden zubereiten, dass das ging. Sie müssen ein Thema, für das Sie interessieren wollen, mit allen Darstellungsformen angehen, komischen, ernsten, musikalischen, logischen. Dann können Sie das Vertrauen der Zuschauer erwerben. Die neuen Medien könnten ein Versprechen geben: Wir bieten Gründlichkeit, nicht Oberflächlichkeit. Und die Zuschauer sollen entscheiden, wie weit sie vordringen wollen. Die Opern sind ja eigentlich das Spiegelbild von 350 Jahren Entwicklung hin zum Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft. Alle Irrtümer und alle Idole sind irgendwann von Musik begleitet worden. Und dies lässt sich vernetzen. Mein "Opernführer" ist ein Vexierspiegel der menschlichen Erfahrung. Er fordert den Zuschauer zur Diskussion auf.

Wer ist dieser Zuschauer? Wie stellen Sie ihn sich vor?
Man klagt immer, die neuen Medien seien so spartengebunden, die neuen Zielgruppen seien so eng. Gewiss sind sie in ihrem spezifischen Interesse sehr eng fokussiert. Sie sind aber gleichzeitig neugierig auf das, was um sie herum geschieht. Wir haben bemerkt, dass die Menschen, die auf der einen Seite noch im Unterhaltungsmedium Fernsehen verankert sind, auf der anderen Seite aber im Internet weltweit neue Kontakte aufnehmen, hoch interessiert sind. Menschen haben ja den Hang, dass sie gern nachgucken, was die andern machen, mindestens aus Eifersucht neugierig werden.

Interaktivität beisst ja auch wechselseitige Beeinflussung. Wo kann bei Ihnen etwas von den Zuschauern zurückfliessen?
Zunächst fliesst Aufmerksamkeit. Der Zuschauer ordnet für sich eigene Erfahrungen. Oper ist ein sehr professionelles Unternehmen, ein Zuschauer wird nicht ohne weiteres gegen Opernwerke ansingen können, aber in ihm singt oder antwortet etwas. Ich improvisiere einmal eine mögliche Vernetzung: In Verdis "Macht des Schicksals" fallen eigentlich alle Entscheidungen in den ersten zehn Minuten. Ein Inkaprinz, verschlagen nach Spanien, liebt eine junge Adlige. Das ist nicht standesgemäss, weil sein viel höherer königlicher Adel hier nicht gilt. Die beiden werden vom Vater überrascht, es kommt zu wechselseitigen Drohungen, es löst sich ein Schuss, der Vater ist tot. Danach kann niemand mehr dem Schicksal entrinnen. jetzt springen wir ins Jahr 1939. Mussolini, sein Aussenminister und Schwiegersohn Ciano, Lord Chamberlain und Lord Halifax sitzen in der Loge der römischen Oper und sehen "Macht des Schicksals". Sie unterhalten sich darüber und sagen, an einen solchen Quatsch glauben wir doch nicht. Das sind sachliche Menschen. Und mit all ihrer Sachlichkeit finden sie keine Lösung gegen den Ausbruch des Weltkriegs kurz danach. Ciano wird wenige Jahre später vom eigenen Schwiegervater hingerichtet. Lord Halifax hat ein Duell mit Churchill im Mai 1940 im Kabinett und zieht den Kürzeren. Das sind alles Elemente der Oper. Und in dieser Vernetzung gibt es natürlich auch poröse Stellen, wo die Souffleuse oder ein Bühnenarbeiter der Oper eine andere Wendung geben könnten - die Opernstörung gehört mit zu einer solchen Vernetzung. Die Marx Brothers haben uns solche Störungen vorgeführt, die könnten wir verbinden mit Helge Schneider, mit Schlingensief, mit Phettberg. Und als Zuschauer können Sie sich natürlich auch äussern und sagen: Ich habe das in meinem Leben folgendermassen erlebt. Das könnte in einem Chat geschehen - entscheidend sind die Spielmöglichkeiten.

Sind die technisch nicht sehr beschränkt?
Wenn ich Internet sage, meine ich immer Breitbandverbindung und ein Gerät, das so einfach wie ein Fernseher mit drei Knöpfen zu bedienen ist. Heute ist das Zeug ja noch sehr langsam. Die Wege im Internet sind so umständlich wie eine Autofahrt durch Russland im Jahr 1902.

Was reizt Sie besonders an den künftigen Möglichkeiten? Fernsehen in Verbindung mit Internet ist ein herrliches Instrument. Es kommt meiner Vorstellung von Öffentlichkeit und Erzählen sehr nahe. Interaktivität ist ja insofern nicht neu, als meinetwegen im Mittelalter die lateinische Sprache zu einer Vernetzung geführt hat. Man hatte ein Informationsnetz an den Universitäten, wo wenige Texte eine unendliche Menge von Rückmeldungen produzierten. Aber wir können noch weiter zurückgehen: Eigentlich machen wir hier nichts anderes als unsere Urahnen, die Kelten. Die gründeten nicht Städte wie die Römer, sondern oppida, Kombinate von Scheunen, von Lagerhäusern. Die bilden den Kern der keltischen Gesellschaft. Darum herum führt eine Strasse, da sind die Verkaufsstände, da sind die Kantinen, und dort wird erzählt. Diese Art von Städtebau entsteht heute virtuell. Im Grunde ist das Internet nichts weiter als ein Aufbruch zur Städtegründung, samt Kolonien wie im antiken Griechenland.

Aber ohne zentrale Autorität.
Mit den Gedanken ist es wie mit der Musik. Irgendwann entstand irgendwo auf der Welt eine geniale neue Musik. Später, als sie berühmt geworden war, hiess diese Musik zum Beispiel Tango. Und an irgendwelchen Stellen auf dem Erdball entstehen auch neue Gedanken. Dem nachzugehen, ist etwas, das mich immer schon gefesselt hat. Und beim Internet kann keine Regierung ernsthaft sagen, wir errichten hier Mauern, setzen der Information Grenzen. Das funktioniert Gott sei Dank nicht. Das Internet löst einen anarchischen Prozess aus, es ist eine Freisetzung der subjektiven Gewerbefreiheit im Menschen.

Die jedoch nicht allen zugute kommt.
Da ist ein grobes Missverhältnis. Dass zum Beispiel Afrika im Internet kaum eine Stimme hat, das ist schlimm. Aber es ist schon erstaunlich: An den überraschendsten Stellen auf dem Erdball findet man Leute im Netz, zum Beispiel in Kasachstan.

Braucht es für die weltweite Vernetzung auch eine Einheitssprache?
Das Sprachenproblem ist eine Herausforderung. Aber Babylon hat immer zwei Seiten: Weil die Leute einander nicht verstehen, müssen sie lernen, einander zu verstehen. Das hat der Schmelztiegel Amerika gelehrt. Die Einwanderer hatten keine grossen Englischkenntnisse, sie sind sprachlich zusammengewachsen. In einem Dorf, wo alle den gleichen Dialekt sprechen, verstehen sich die Leute unter Umständen schlechter - weil sie ihre Gegensätze befestigen. Im Internet gibt es ja eine eigene Sprachform, ein Kauderwelsch, das für Philologen schrecklich klingt. Aber wir sind alle nicht die Herren über diese Entwicklung. Eindeutig ist, dass Menschen jetzt mehr miteinander machen - auch mehr Mist. Aber dank dem höheren Umsatz sozusagen erhöhen sich auch die Chancen, dass man etwas Geglücktes findet.

Aber bleibt das nicht alles sehr vereinzelt?
Kein Mensch ist nur individuell. Bewusst verstärken die Leute den Individualismus, unbewusst sind sie kollektiv tätig. So sind auch die New Yorker. Und was herauskommt, ist eine Stadt, die doch eigentlich ein freiwilliges Kollektiv ist. Diese freiwillige Kollektivität ist die Antwort auf alle Planwirtschaft. Das ist der grosse Unterschied zum Fernsehen oder zu den Staatstheatern oder ähnlichen Anstalten. Was mit dem Internet eine Chance bekommt, ist sozusagen der Antiplan.

Die interaktive Welt ist digital, eine Welt aus Nullen und Einsen; Strom, kein Strom. Was halten Sie vom häufig erhobenen Einwand, dadurch werde die komplexe Wirklichkeit ungebührlich vereinfacht?
Ich bin überhaupt nie misstrauisch gewesen gegenüber der Prinzessin auf der Erbse, die sagt: Ich liege weich, oder ich liege nicht weich. Diese Ja/Nein-Antworten, das sind fundamentale Unterscheidungen, darauf ist unser Körper und nach meiner Meinung auch unsere Seele geeicht, das machen wir die ganze Zeit. Auch mit der Entschiedenheit des 0/1-Systems können Sie Komplexität, Polyphonie, sogar Unbestimmtheit ausdrücken. Nur nicht direkt. Ich würde sagen: 0 und 1 soll man nicht unterschätzen.

Aber auch nicht überschätzen?
Es gibt Dinge, die können Sie digital nicht nachmachen. Nehmen Sie das Kino: In der Hälfte der Zeit, die Sie in einem Kino verbringen, ist es dunkel. 1/48-Sekunde des Films ist belichtet, 1/48-Sekunde ist dunkel. Die Information beim Film steckt in den Lücken zwischen den Bildern. Ihr Bewusstsein registriert nicht, dass Sie, wenn Sie zwei Stunden im Kino sassen, eine Stunde davon im Dunkeln waren. Ich glaube aber, dass der Körper, das Gehirn das wahrgenommen hat. Dadurch geraten Sie in diesen eigentümlichen Schwebezustand, der das Kinogefühl ausmacht, den Zauber des Kinos. Im Fernsehen hat man das nie, weil das Fernsehbild ja aus Zeilen aufgebaut ist, es ist eine Schrift, da gibt es keine Pausen.

Also doch weniger Differenziertheit?
Die Farben von Rembrandt, diese unbestimmten Dunkelheiten, diesen leichten Goldton, das kann Ihnen ein Computer niemals geben. Da müssten Sie übrigens auch mit Wörtern unendlich lange arbeiten, bis Sie dargestellt hätten, was das denn nun ist. Ein Computer würde Ihnen das immer so ein bisschen wie ein Ausserirdischer berichten, relativ mechanistisch. Dafür könnte er Ihnen so viele Varianten bescheren, dass das wieder ein eigenes, neues Interesse erweckt. Es könnte doch sein, dass ein moderner Künstler nicht eine bestimmte Farbe verwendet, sondern eine Auswahl anbietet, Ihnen sozusagen einen Spaziergang erlaubt. Und Sie bekommen unzählige Nuancen. Das klassische Ideal des auratischen Kunstwerks ist nicht allein selig machend. Das wusste schon Walter Benjamin.

Vernetzung betreiben Sie ja auch als Autor, in ihrer "Chronik der Gefühle".
Ja, aber man muss vorsichtig sein mit der Vernetzungsabsicht. Vernetzung ergibt ich von selbst. Meine Haltung ist eine beobachtende, ich beobachte, ob die Töne, die Geschichten zusammenpassen. Ob sie zusammenwollen. Falsch wäre es zu sagen, ich bin der Dichter, ich verdichte. Die Willenskraft ist der Feind der Vernetzung.

Welche Vorbilder haben Sie in dieser Haltung geprägt?
Ovid mit seinen "Metamorphosen" ist der grösste Vernetzer, den ich kenne. Darin finden Sie die Geschichte der Weberin aus Byzanz, einer schönen jungen Frau, die konnte nicht nur weben, sondern erzählte auf den Gewändern Geschichten. Dann trat sie in einem Wettbewerb gegen Athene an und blieb Siegerin. Und das führte dazu, dass die Göttin sie in eine Spinne verwandelte. Das ist Arachne, die Spinne. Der Name für die Spinnen kommt von einer, die Geschichten in ihre Tuche webt. Das ist die Geschichte, die Ovid im Grunde erzählt: die Geschichte der Vernetzung.

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