“Projekte sind im Grunde Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne”

Von Claus Philipp | | Interviews

Alexander Kluge im Gespräch mit Claus Philipp

Lob der Plumpheit


Im Auftrag seiner Landesherren Johann Friedrich und Herzog Ernst August sollte in den Jahren zwischen 1680 und 1685 der bekannte Intelligenzarbeiter G. W. Leibniz für ein Honorar von 1200 Thalern, Einzelheiten nach seiner Disposition, mit Erfindungen die Rentabilität des Oberharzer Bergbaus steigern.

Tatsächlich zum Arbeitsort angereist, sind komplizierte Pumpen und Förderanlagen zu besichtigen, die durch Pferd und durch Wasserkraft angetrieben werden; sie pumpen das Wasser aus Bergwerkstollen und tragenden Schichten auf eine Anhöhe des Harzes, während zugleich eine Hebevorrichtung das geförderte Erz zutage bringt. Im Sommer und in den strengen Wintern leiden die Bergwerke unter Wassermangel. Die Silberbergwerke liegen still. Die Bergleute sind beschäftigungslos, ihre Familien hungern.

Der Experimentator entstieg der Kutsche, besah die vorgezeigten Einrichtungen, die Stauteiche. Oberbergrat von Hahn misstraute dem Gelehrten; dieser machte den Vorschlag, es mit Windmühlen zu versuchen: Bocksmühlen aus Holland. Die Winde von den Harzbergen herab sind aber nicht stetig wie der Westwind von See. Sie stürzen in die gedachten Windräder, zerstören sie eher, als sie anzutreiben. Der Oberbergrat blieb skeptisch. Er hielt den Gelehrten für einen Projektmacher, einen Herangereisten.

Es kommt darauf an, sagte Leibniz, die Wasser, wenn sie an den Förderanlagen und Rädern ihre Arbeit getan haben, wieder in die oberen Staubereiche zurückzuführen. Er verglich das Gelände, das offensichtlich aus Bergrücken und einem Tal bestand, mit dem Kreislauf eines menschlichen Körpers, der seine Flüssigkeiten nach aufwärts bis unter die Schädeldecke hebt, um sie von dort, wie Kaskaden, springen zu lassen. Für das Gelände benötigte der Bergrat keine Beschreibung, doch der Gelehrte redete von Brust, Schultern, vom Hals des Wasserdurchlaufs. Was haben Sie an Energie? fragte er. Es gibt nichts als Winde und einige Vorrichtungen, um Feuer zu machen, entgegnete der Oberbergrat. Dazu müssten Sie aber einen Kreislauf für den Kohletransport bergauf leiten. Das kostet die Energie, die es einbringt. Holz, es wäre schon oben, würde allein zu rasch verbrennen, erwiderte Leibniz. Bleibt der Wind. Er sah große Windmühlenräder an allen Bergrändern aufgestellt. Er war jetzt hungrig und reiste wieder ab.

Das Misstrauen des Oberbergrats zehrte vom Misstrauen der Bergleute, die er kannte. Sie sabotierten die Versuche des hohen Gelehrten, die er im Schriftweg aus der Landeshauptstadt verordnete. Es ist schwierig, organische Vernunft auf diese Berge aufzusetzen. Es ergeben sich auch keine schnellen Erfolge, da die großen Windräder in eine Art Flatterrhythmus gerieten, in den Stoßwinden des Harzes rasch zerfransten. Später wurden, nach Plänen des Hauptstädters, kleine plumpe Mühlen gebaut: Das Wasser floss tatsächlich, durch Schaufeln gehoben, bergauf in die Staubereiche, wurde dort aber von den Bergleuten gemieden. Man hätte einen Kreislauf für die Umstellungsenergie ihrer Gewohnheiten hinzubauen müssen, und der Gelehrte plante in Hannover tatsächlich ein Modell hierfür, welches Abgesandte aus der Hauptstadt vorsah, Studenten, die einige Herbstmonate mit Überredungsarbeit an den Teichen verbringen sollten. Der Gelehrte überbrückte aber seinerseits nicht die Differenz der Orte. Er hätte wiederum anreisen und die Studenten bergauf in eine Art intellektuellen Stauteich bugsieren müssen, damit diese wiederum in den Köpfen der Bergleute die Gewöhnung in eine Überhöhung brächten, von wo der Strom der Einfälle und Handgriffe dann bergab ein menschliches Räderwerkzeug betrieb. Die Mühlenanlagen im Oberharz blieben deshalb, auch wenn sie Kosten machten, als Fragmente liegen, wurden zu Antiquitäten.

Jetzt hat Prof. K. H. Manegold, Hannover, diese »Vorrichtung für horizontale und vertikale Windkünste im Oberharz« von dem Hamburger Bau-Ing. J. Gottschalk nach der Aufzeichnung des Gelehrten nachzeichnen lassen. Der Modellbauer J. Stromeyer hat originalgetreue Modelle angefertigt. Im Windkanal wurde die Effektivität einer solchen Leibnizschen Windmühle mit senkrechter Achse getestet. Die Versuche zeigen »eine recht plumpe Maschine, die nur eine geringe Ausnutzung der Energie zulässt«. Das wurde der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach Bad Godesberg berichtet, die das Projekt finanziert.

Es saß aber in der Bad Godesberger Zentrale der Forschungsgemeinschaft ein Leibniz-Freund, der das Modell auf seine Kosten aus dem Windkanal wieder heraustransportieren ließ und in einem Möbelwagen nach Clausthal-Zellerfeld brachte. In dem Einschnitt zwischen zwei Harzer Bergrücken stellte er die robuste Vorrichtung, wie in einem natürlichen Windkanal, auf. Die Winde stürzten hier, es ist Winter, von der DDR-Seite mit rohem Zugriff in die Mühlräder, die eine deutlich messbare Leistung erwirtschafteten, fähig 46 ebenfalls plumpe Förderradstufen anzutreiben, sobald sechs Plump-Mühlen untereinanderstanden; sie könnten dann eine beachtliche Menge Wasser aus der angenommenen Tiefe der Stollen im Jahre 1680 in die Höhe der ehemaligen Staubereiche tragen, von denen jeweils noch eine Geländekuhle zu sehen war.

Er ist ein Mann, sagte der Leibniz-Verehrer, den das Unternehmen 2680,- DM gekostet hatte, der mit FERNBLICK AUS DER HAUPTSTADT, in der er es besser aushielt als im rauen Harzgebirge, die nötige Konkretion einbringt. »Das Modell mag im Windkanal künstlich erscheinen, es besteht ja aus Kunst, es gehorcht aber der Naturbedingung am Ort. Ich bewundere die PLUMPHEIT DIESER WINDKUNST. Sehen Sie, auf Blatt 4 der Akte haben Sie feingliedrige, elegante, holländische Windmühlen. Die wollte er kopieren. Hier haben Sie, auf Blatt 16, den Versuch, sie dimensional zu vergrößern. Diese Modelle wurden durch die Bergwinde von 1683 zerstört, und hier, Blatt 21, 22, 23, haben Sie den Weg zur robusten, armseligen Konstruktion, die zu den Physiken des Orts passt. Das hat er entwickelt, ohne ein zweites Mal dagewesen zu sein. Das nenne ich Fernblick.«

Alexander Kluge: Chronik der Gefühle,

Band I, Basisgeschichten,

Frankfurt am Main 2000, S. 442ff



Claus Philipp:Man kann „Lob der Plumpheit“ als eine Geschichte über Distanzen lesen.

Alexander Kluge: Das liegt in der Natur von Projekten und Projektmachern. Die größte Distanz besteht ja zwischen dem, was der Mensch im Kopf macht und was irgendwo in der Welt an Händen gebraucht wird.


Philipp: In diesem Falle herrscht Reformbedarf in einem entlegenen Tal…

Kluge: … im Harz. Dabei ist Leibniz gar nicht gewohnt, sich diesen rauen Verhältnisse auszusetzen. Er ist eher jemand, der in seinem Studierzimmer hockt, Briefe schreibt, höfisch auftreten kann, ein feinsinniger Mann. Der reist jetzt hier in die Wildnis, wo die Bergwerke sind.


Philipp:Und da stößt er auf Skepsis, Misstrauen. Über einen Oberbergrat heißt es: „Er hielt den Gelehrten für einen Projektmacher, einen Herangereisten.“ Ist das etwas, das sich deckt – Projektmacher und „Herangereister“?

Kluge: Das kann man sagen. Es gehört wohl eine bestimmte Fremdheit und Frechheit dazu, mit Projekten umzugehen. Bäuerliche, agrarische Lebensweise verträgt sich nicht damit, Projekte zu machen. So pflanzt man keine Gärten, so baut man keinen Acker, so verteidigt man keine Stadt. Mit Projekten geht man in die Weite, man untersucht fremde Länder, man bringt Kenntnisse nach Haus, man trägt Kenntnisse aus der Hauptstadt an einen entlegenen Ort, wo sie etwas nützen.


Philipp:Zugespitzt formuliert: Jemand, der ein Gemeinwesen wie ein Dorf, eine Stadt usw. aufbaut, betreibt nicht Projektarbeit?

Kluge: Ein Städtegründer, ein Verfassungsgeber ist eigentlich das Gegenteil eines Projektemachers. Obwohl man eine Verfassung ein Projekt nennen kann, das stimmt. Dennoch: Vieles, was über Nähe, Gewohnheit, Trägheit verfügt, im Grunde sozusagen mitten im Leben steht, kann man nicht gleich ein Projekt nennen. Aber was sich davon entfernt, also schon der junge Mann, der sagt, in meinem Dorf werde ich die Braut nicht finden, da wird mein Handwerk nicht gedeihen, ich gehe auf Wanderschaft, und das haben die Wandergesellen ja massenweise gemacht – da wirft einer etwas in die Ferne, und sammelt es dann, reicher geworden, wieder auf. Das ist die Idee des Projekts.


Philipp: Daniel Defoe, der Autor des berühmten „Essay on Projects“ und des „Robinson Crusoe“, ständig pleite, schreibt über die immer auch prekäre Lage dieser Beweglichkeit und Findigkeit: Entweder man werde zum Selbstmörder, Verbrecher oder Projektemacher, wenn man vor den Gläubigern auf die Flucht gehen muss.

Kluge: Das finde ich ein sehr schönes Gleichnis. Defoes Robinson selber ist ja insofern Projektemacher, als er auf seiner Insel, unfreiwillig in die Ferne geschleudert, ganz London in seinem Kopf hat, und hier als Einzelner dieselbe Zivilisation aufbaut, die von vielen Menschen in den großen Städten entwickelt worden ist.


Philipp:Nun wird Robinson als einsamer Insulaner durch Misstrauen aber weniger behindert als Leibniz in Ihrer Geschichte – obwohl ja letztlich auch der erst über eine gewisse Distanz erfindungsreich zu wirken beginnt..

Kluge: Leibniz geht an einen entlegenen Ort, wo er als Wissenschaftler gar nichts gilt. Wo sozusagen die Windmühlen-Typen, die er mitbringt, die mittelmeerischen zunächst, die flandrischen, gar nicht geeignet sind. Die werden vom Wind, von den heftigen Harz-Böen zerzaust, vernichtet. Und jetzt baut er robuste Windmühlen. Ich finde es schön, wie ein feingeistig feinsinniger Mensch hier die Robustheit anwendet. Etwas, das seiner Seele eigentlich entfernt ist. Die Seele von Leibniz würde ich als filigran bezeichnen. Seine Monadologie, das ist ja die Lehre von seelischen Kristallen und Edelsteinen und von Vereinzelung und allen möglichen Dingen, hier jedoch geht er in eine Arbeitswelt hinein, wo die Oberbergräte seit Jahrzehnten genaue praktische Erfahrungen haben, von denen sie sich nicht lösen. Sie würden auch nicht auf eine neue Lage mit ihren Erfahrungen antworten, und sie würden deswegen nie Auswege finden. Er als Fremder, der in die Gegend nicht passt, dem die Gegend sozusagen Magenschmerzen bereitet – der kann ja nicht einmal essen, was dort serviert wird, und er kann sich auch nicht lange dort aufhalten – er findet diesen Funken Fremdheit, der einen Ausweg eröffnet.


Philipp: Dieser Funke Fremdheit kommt aber eigentlich erst verzögert zum Tragen, in dem, was Sie „Fernblick aus der Hauptstadt“ nennen. Leibniz vergewissert sich vor Ort, setzt sich wieder in Bewegung, kehrt nach Hause zurück, durchdenkt die Lage und beginnt, seine Ideen zu adaptieren.

Kluge: Er findet durch Fernlenkung ans Ziel. Dass er seinen Körper überreden könnte, da noch einmal hin zu fahren, ist wohl undenkbar. Aber dass er in der Lage ist, aus diesen fragilen Windmühlen, die an der Meeresküste stehen, bergfähige, höhenwindtaugliche Klötze zu machen, die wirklich wie Mühlen funktionieren – das macht er Kraft seines Geistes, und das ist Projektieren. Es ist genau so, als würde er Menschen auf den Mars versetzen können, die Jupiter-Monde besiedeln. Das sind alles Projekte.


Philipp:Und die müssen wiederum den realen Gegebenheiten angepasst werden. Wenn man den Mars noch nicht erreichen kann, fliegt man zuerst einmal auf den Mond.

Kluge: Das Interessante an solchen Projekten ist, dass sie anschließend wieder verloren gehen, ihre Kühnheit führt nicht dazu, dass sie Traditionen bilden. Schon jetzt wissen wir nicht mehr, wie man Menschen auf den Mond transportiert, was wir ja einmal gemacht haben. Diese ganzen Kenntnisse sind schon wieder verloren gegangen. Man müsste für Milliarden Dollar und mit vielen Menschen das Ganze neu entwickeln, um auch nur bis zum Mond zu kommen. Projekte sind im Grunde Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne.


Philipp: Vergleichbar mit Utopien?

Kluge: Nicht unbedingt, denn sie sind ja manchmal ganz praktischer Natur.


Philipp:Das erinnert an Hochgebirgsexpeditionen. Da erreicht man zuerst 6000 oder 7000 Meter Höhe, dann merkt man, die Luft wird knapp, gibt auf. Das nächste Mal nimmt ein anderer die Sauerstofflasche mit, schafft es bis 7500, was Jahre später vielleicht einen Dritten dazu bewegt, mehr rote Blutkörperchen aufzubauen…

Kluge: Und jetzt stellen Sie sich das vor: in einem bürgerlichen Berliner Anzug, also sehr fester Kleidung, marschiert Alexander von Humboldt auf einen Andengipfel. Und Jahrhunderte später läuft Reinhold Messner hinter ihm her. Der läuft heute denselben Weg, den Humboldt einst ging. Das eine ist Dokumentation – was Messner macht –, und was Humboldt macht, ist Projekt. Da merken Sie, und das können Sie beim Projekt immer sehen, eine Diskrepanz. Wie Humboldt gekleidet ist, wie unangepasst der ist für das Bergsteigen – daran sehen Sie die Kühnheit eines Gedankens, der seine eigene Praxis gar nicht kennt. Der ist gefahrenblind. Er sieht gar nicht, wie gefährlich das ist, was er tut.


Philipp:Wie ein Kind.

Kluge: Oder wie Odysseus.


Philipp: Als Sie die Geschichte schrieben, hatten Sie da eine konkrete, eigene Situation im Kopf, in der sich Ihre Faszination für Leibniz neu entzündete?

Kluge: Sagen wir so: Das lief für mich nicht unter der Überschrift „Projekt!“ Aber wenn Sie die revoltierenden Studenten von 1968 nehmen, in Frankfurt etwa, die haben teilweise in Arbeitsgruppen etwa 17 bis 24 Entwürfe pro Woche dafür entwickelt, was man alles reformieren sollte – in den Gefängnissen etwa, gegenüber der Bundeswehr, in der Justiz, in der Gesellschaft usw. Die haben Programme entwickelt, zu deren Ausführung man fünf, sechs Generationen gebraucht hätte. Allerdings: Wäre das von den Einzelnen tatsächlich in die Wege geleitet und ausgeführt worden, dann hätten wir heute eine andere Welt.

Diese Studenten sind aber Entwerfer, das sind keine Projektemacher, denn sie haben ja nichts ausgeführt. Was passiert aber, wenn jetzt jemand daran Feuer fängt? Das Eigenartige ist, dass die Geliebten dieser Studenten sich tatsächlich sehr oft aufmachten, und etwas ausgeführt haben. Sie haben sich in Gefängnisse, in Frauenstrafanstalten eingeschmuggelt als Hilfspersonen, preiswert, haben dort Reformarbeit betrieben, Erfahrung gewonnen, die Verhältnisse zu verbessern versucht, bis das sehr gewaltsam gestoppt wurde durch die Justizbehörden. Diese Frauen würde ich als Projektmacherinnen bezeichnen. Sie gehen weiter, sie werfen etwas vor sich hin, und sie folgen diesem Wurf.

Projizieren heißt ja, etwas nach vorne werfen, etwas von sich nach vorne werfen. Das macht jeder Bildwerfer im Kino, der wirft etwas auf die Leinwand, und jetzt entsteht etwas auf der Leinwand, was vorher nur auf einem Zelluloid war. Ich werfe also etwas, ich breche etwas aus mir heraus, an dem mir innerlich sehr viel liegt. Und das tue ich aus Not oder aus Lust.

Der Böttcher beispielweise, der das Porzellan erfunden hat, der war in Not. Bedroht vom sächsischen Herrscher, dass er getötet würde, wenn er nicht Gold machen könne als Alchimist. Gold konnte er aber nicht machen, dafür hat er dieses weiße Pulver verarbeitet zu Porzellan, und dagegen konnte man ganze preußische Schwadrone eintauschen, das war zeitweise mehr wert als Gold und ist als Meissner Porzellan individueller, als Gold im allgemeinen ist. Dieser Mann wirft aus Not etwas aus seiner Seele heraus, weil die Seele so etwas ist wie ein Vulkan, der Feuer speit. Und dabei wirft so ein Vulkan, wie man weiß, auch Diamanten aus. Diese Schatzbildung durch Wegwerfen, das nennt man Projektmachen.


Philipp:Ist das dem Erfinden ähnlich?

Kluge: Nah verwandt, aber der Erfinder ist taktiler, er findet etwas, das vor ihm in seinem Sichtfeld liegt. Er bringt Dinge zusammen. Das ist beim Projektemacher nicht unbedingt der Fall. Projektemacher: Das ist ja ein Begriff, der kommt erst auf mit der Entwicklung der frühen bürgerlichen Gesellschaft. Das sind Menschen mit sehr viel Selbstbewusstsein. Die wollen nicht nur Eigentum bilden an Gewerbebetrieb oder Vermögen, sondern an ihrem Leben selbst, an ihren Frauen und Kindern, an ihrem Lebenslauf. Denken Sie nur an Kolonien: Da haben wir dann etwa der Imperialismus der Holländer in Java. Projekte machen ist also nicht unbedingt etwas Gutmütiges oder was Freundliches, sondern es ist diese Fähigkeit im Menschen, sich gleichsam infektuös über die Welt zu verbreiten. Und am weit entfernten Ort das, woran einem am meisten liegt, noch einmal ins Reine zu schreiben.


Philipp:Glücksritter in Kreuzzugszeiten wären noch nicht als Projektemacher zu bezeichnen?

Kluge: Analytisch betrachtet: Nein. Nehmen Sie den lateinischen Kreuzzug. Die fahren hinaus in der Erwartung, dass sie eine Flotte, die Venedig vertragsgemäß bereit gestellt hat, auch bezahlen können. Sie haben aber kein Geld mitgenommen. Also müssen sie sich verdingen und als Krieger für Venedig erst mal Kriege führen, den Balkan erobern. Statt nach Jerusalem zu gelangen, wo die heiligen Stätten warten, verwüsten sie Byzanz und teilen den Peloponnes, Makedonien und was sozusagen griechisch-römisch war, in Baronate, Grafschaften, Herzogtümer auf. Ein vollkommen absurdes Unternehmen. So was würde ich nicht ein Projekt nennen. Dies hier ist nur Raubgier in ferne Länder getragen. Selbstüberschätzung: Ich habe zwar kein Geld, mache aber Verträge über Schiffe, und wenn ich nicht bezahlen kann, dann werde ich dienen. Im Märchen kommt das ja oft vor. Das ist eine andere Fassung von „Hans im Glück“. Eine Uralt-Verhaltensweise, in der ich mit meinen Kräften zahle für meine Illusionen, mich in meinem Leben verirre.


Philipp:Vor diesem Hintergrund könnte man sagen, dass insofern das heutige Projekt-Verständnis ein sehr inflationäres ist.

Kluge: Das können Sie nun wirklich annehmen. Aber nehmen wir nochmal den ursprünglichen Begriff der Aventure, des Abenteuers. Da wäre etwa der Vater von Parsifal, der verlässt Herzeloide, die Mutter, geht in den Orient, befreit dort eine schöne schwarze Königin, heiratet sie und zeugt mit ihr diesen Halbbruder, Feirefiz, der wie ein Zebra gestreift ist, halb ist er weiß, halb ist er schwarz. Dann kommt er wieder und hat etwas zu erzählen. Davon ausgehend könnte nun wiederum ich Ihnen jetzt viele Geschichten erzählen, die alle Abenteuer enthalten. Im Verlauf solcher Abenteuer kann man natürlich auch eine Welt gewinnen, ein Reich erobern, Nachkommen haben. Das ist aber etwas anderes als das was die Projektemacher, die frühen bürgerlichen Unternehmer, von Galilei angefangen, betreiben. Wenn Galilei Ausschau hält nach den vier Jupitermonden, also ein Geschmeide des Planetensystems findet, und später für Geld darüber Vorträge hält, dann ist er sozusagen als Sammler, Sucher in der Ferne tätig. Nicht als Eroberer, er kommt ja gar nicht ran an die Monde. Aber das, was er hier tut, das hat einen Sinnkern. Das heißt: In ihm ist eine Neugier vorgebildet, und jetzt entdeckt er im Weltall die Entsprechung. Wenn ein Afrikaforscher des 19. Jahrhunderts aufbricht, die Nilquellen zu suchen, dann sehe ich da eine Ähnlichkeit. Während wenn ein Pizarro ein Inkareich zerstört, Gold einsammelt, die Füße der indianischen Herrscher verbrennen lässt, dann sehe ich darin kein Projekt. Das ist noch nicht einmal ein Abenteuer, das sind Zerstörer, Verbrecher an einem weit entfernten Ort. Die Projektemacher sind etwas anderes. Sie dehnen die Welt aus, indem sie von einem starken inneren Kern, den sie spüren, ausgehen.


Philipp:Was wären jetzt neben der Herausbildung von Bürgerlichkeit Krisensymptome, die diese Tendenz befördern, Projekte zu machen oder überhaupt wahrzunehmen?

Kluge: Man sagt, die Not ist ein starker Antrieb. Wenn zum Beispiel Faust in der Oper „Dr. Faust“ von Busoni von Gläubigern und von Häschern, die nach Freigeistern, Alchemisten, Hexenmeistern fahnden, verfolgt wird, dann erst unterschreibt er den Teufelspakt. Weil es ein Projekt ist, seine Kräfte zu verstärken. Übermensch zu werden. Das macht er aus Not. Oder Shakespeare: Da ist jemand, der einer gebildeten Schicht angehört, einer Bildungsschwemme entstammt, die Ende des 16. Jahrhunderts in England ausbricht. Plötzlich sind die alle arbeitslos. Hoch ausgebildet, hoch talentiert, und gleichzeitig: keiner will sie haben. Und dann geht einer wie Shakespeare zum Theater. Weil er überflüssig ist, schreibt er, in Verteidigung gegen die Leere; um ihn herum wachsen ihm Kräfte zu. Da hätten Sie eine Korrelation zwischen Not und Absprungsfähigkeit, und das ist genau das Wesentliche des Projekts. Der Mensch als Projektil, als Geschoss, das ist letztlich dasjenige, was im Wort Projekt steckt. Und das sehe ich in der heutigen Verwendung des Wortes Projekt, wo jedes Vorhaben Projekt genannt wird, nicht unbedingt.

 

Philipp:Zurück zum Misstrauen des Gemeinwesens gegenüber dem „Herangereisten“: Hat das nicht mit einer Ahnung dieser „zerstörerischen“ Nähe von Projekt und Projektil zu tun?

Kluge: Gut möglich. Aus den Partisanen werden tatsächlich Projektmacher: Wenn sie etwa Selbstmordattentate planen, dann ist das die äußerste Form des Projektmachens. Ich werfe ein Stück meiner Seele in die Ferne und will daran eine Wirkung sehen.

 

Philipp:Terrorismus ist eine Art von Projektemacherei?

Kluge: Naja, das gehört wohl zu diesen Dynamiken dazu. Menschen sind, wie gesagt, nicht harmlos. Wir sprechen hier, vom Gegenpol betrachtet, nicht über Gartenbau oder Ackerbau.


Philipp:Auch nicht über Architektur? Also einen Wolkenkratzer zu bauen…

Kluge: Ich würde schon sagen: der Hochbau ist ein nach oben gestürztes Projekt. Die sibirische Eisenbahn ist ein in die Länge gestürzter Eiffelturm. Solche Sätze können Sie bilden. Das kommt dem Attentat sehr nah.


Philipp:Bleiben wir bei der Notwendigkeit einer Krise für das Projekt. Die Leute hier in der Geschichte über Leibniz haben ein Problem, weil sich das ohne Windmühlen existenziell nicht ausgeht. Sie vergeben einen Auftrag, so wie man heute etwa sagt, wir brauchen verstärkt Projektunterricht und Unterrichtsversuche in den Schulen, um irgendwann einmal im Gefolge der desaströsen Pisa-Studienergebnisse eine sinnvolle Reform zustande zu bringen.

Kluge: Insofern können Sie auch vom „Projekt Europa“ sprechen. Man müsste eine ungeheure Anstrengung unternehmen, dass alle gegenseitig die Landessprachen lernen, babylonisch vielsprachig werden. Wir können nicht mit einer gemeinsamen Währung bewaffnet Europa gründen, sondern wir können es nur machen, indem wir unsere Gefühle, also inneren Tätigkeiten miteinander vereinigen, und das ist ein Bildungsprozess gigantischen Ausmaßes.


Philipp: Vor dieser Unübersichtlichkeit übernimmt dann das Projekt als kleiner, nachvollziehbarer Vorstoß wohl auch Stellvertreterfunktionen für notwendige Prozesse, die in dieser Beschleunigung nicht gelingen können. Gibt es Zeiten, die Projekte fördern?

Kluge: Alle Notzeiten und alle luxurierenden Zeiten. Wenn Menschen mehr Potenzial haben, als von ihnen gebraucht wird, von ihnen genommen wird, dann gibt es Projekte. Umgekehrt etwa in der Schwarzmarktzeit nach ’45 – da gab es auch Projekte. In der Mittellage hingegen, wenn die Tätigkeit von Menschen und das, was von ihnen verlangt wird und was sie können, miteinander überein stimmt, dann sind Projekte eher selten.


Philipp:Wäre jetzt so eine stagnierende Zeit?

Kluge: Ich kann das nicht beurteilen, weil es ja nicht überall gleich ist. An der Grenze zu China hingegen – ich weiß nicht, ob da nicht Projektzeiten herrschen. Das ist sehr unterschiedlich auf unserem Planeten. In Südosteuropa, also im Vorfeld Österreichs, gibt es sehr lebendige Spannungszonen, wo Projekte mit Sicherheit in diesen Tagen entstehen. Wollen Sie ausschließen, dass in den Favelas in Sao Paolo sieben Erfinder sitzen? Können wir beide ausschließen, dass in einem Land, das keine Großmacht ist, nicht etwas Unerwartetes entsteht? Vielleicht ergeben sich in Russland oder in Transnistrien gerade Ketten von Zaubereien, wo Leute, weil sie es nötig haben, Projekte machen, etwas völlig Neues in die Welt bringen. Andererseits: In der Mitte der Bundesrepublik, da herrscht im Moment sicher ein ängstlicher Fluss, ein Rückzug aus Leben, da scheitern Projekte im Grunde aus Mutlosigkeit. Oder die Not ist nicht groß genug, um die Projekte auszulösen, und überzählige Gefühle hat zur Zeit kaum einer.


Philipp:Wie würden Sie das definieren: überzählige Gefühle?

Kluge: Nehmen Sie New York 1902: Da haben Sie mehr menschliche Fähigkeiten, die sich realisieren wollen, als Gelegenheiten, da wird zum Beispiel der Film erfunden.


Philipp:Gleichzeitig hat der Film aber ­– Stichwort: Projektmacher als Glücksritter – durchwegs etwas vom Zirkus und Jahrmarkt. Er wird, um bei Ihrer Diktion zu bleiben, vom Rande der Gesellschaft mitten hinein geworfen.

Kluge: Auch die Elektrizität wird am Rand der Gesellschaft erfunden, als Glitzerglanz. Der ist erst im Zirkus und Variété populär, und dann beleuchtet er alle Städte. Aber ganz am Beginn, da ist Licht eigentlich nur ein Lockmittel von den Rändern, das von Coney Island her kommt. Das sind überschüssige menschliche luxurierende Fähigkeiten, etwas vom Schönsten, das es gibt. Gleichzeitig entsteht auch immer, wenn etwas stirbt – das hat Wolfgang Schivelbusch sehr schön beschrieben – noch einmal aus Not Luxus. Als die Kerzen untergingen und von Petroleumleuchten oder vom Gaslicht ersetzt wurden, da gab es noch mal die schönsten Luster, die es überhaupt gibt. Und als die Gasleuchten aufhörten, strahlten sie kurz noch einmal auf, bis zum Theaterbrand hin.


Philipp:Stellen wir obige Frage nach den stagnierenden Zeiten anders. Wo würden Sie derzeit interessante Projektmacher sehen?

Kluge: Ich muss es Ihnen vom Gegenpol her erläutern: Die Nachahmung des Projektemachens, die ist häufig. Meist haben wir es hier mit Spielern oder Verwaltern zu tun.

 

Philipp:Mit, wie Peter Sloterdijk formulierte, leitenden Angestellten, die Eroberer spielen?

Kluge: Ja, und so etwas gefällt mir überhaupt nicht. Der Spieler, der einfach etwas ankurbelt und es verlässt. Und der Verwalter, der gewissermaßen die Dinge einander zurechnet, ordnet, aber seine Willenskräfte oder Begehrungskräfte gar nicht einbringt. Der sich verhält, als wäre er der Beobachter seines Lebens und nicht der Produzent seines Lebens. Das ist der Gegenpol zum Projektemacher. Ich bin sicher: wenn es Projektemacher in unserer Gegenwart um uns herum gibt, dann sehen wir sie meist nicht. Ein Wissenschaftler zum Beispiel an der Universität von Kalifornien, der sich mit der Planckschen Länge befasst – das ist ein Milliardstel eines Milliardstels eines Milliardstels eines Milliardstels Millimeter, und dort ist Gravitation und Quantenphysik miteinander verbindbar, das ist im physikalischen Sinne wirklich: Wenn so ein Mann jetzt bei Genf außerordentlich große Forschungsapparaturen baut, dafür auch das Geld zusammenkriegt, wie ein neuer Leibniz, um dorthin vorzudringen, weil er sagt, dort kann ich die dunkle Materie finden, nämlich, 70 Prozent dessen, was den Kosmos ausmacht im Großen, ist in diesem extrem Kleinen versteckt, dann ist das ein Projektemacher. Und den Mann gibt’s, er hat den Nobelpreis bekommen. Fanatisiert für die Frage, dass nicht die Größenordnung, die wir kennen, auch nicht der gestirnte Himmel über uns wirklich sind, sondern diese extrem kleine Maßeinheit, die Planck vor 1900 entdeckt hat. Der ist sozusagen jetzt die Alternative zum Geografen, der die Welt durchwanderte.

Projektemacher sind die Schüler des Aristoteles, die den Armeen Alexander des Großen folgen in den Osten, und Fuß für Fuß, Parasange für Parasange, mit einem Messgerät, das sie hinterher schleppen, das die Meilen misst, den fremden Boden betreten mit ihren Füßen und damit die Welt erkunden. Das sind neugierige Menschen, die anschließend das Projekt Weltkarte verfolgen. Dasselbe wiederholt sich zu Silvester 1800. Wo eine französische Armee Ägypten besetzt hält, und die besteht zur Hälfte aus Militär. Die andere Hälfte sind Gelehrte, hoch gebildete Leute, und die sagen, wir setzen jetzt die Französische Revolution, die ja in Paris gescheitert ist, hier in Afrika fort. Wir eignen uns die 4000 Jahre, die hier auch topografisch vor uns liegen, an. Wir werden Afrika französisch zivilisieren, immer von Wissenschaftlern begleitet und zugegebener Weise ungebeten von den Einwohnern. Aber so etwas sind Projekte. Eine derartige Fortsetzung der Französischen Revolution mit anderen Mitteln in Afrika fasziniert mich natürlich deutlich mehr als die Napoleonische Eroberung von Moskau. Die muss scheitern. Dieses Projekt hätte nicht scheitern müssen und hätte ein anderes Afrika ergeben, als wir es heute haben.


Philipp:Aber es liegt ja wiederum sehr oft im Wesen des Projekts, dass es irgendwann seine Limits, sein Scheitern sehr klar als Spur hinterlässt.

Kluge: Die Spur gibt’s in diesem Fall in Form von Leuten, die heute noch nachweislich auf dieser seltsamen Gewürzinsel von Sansibar sitzen und die abstammen von denen. Die sind inzwischen vermischt mit Generationen von Kaufleute-Familien, die den Indischen Ozean hin und her bereisen, dieses ganz andere Mittelmeer zwischen Indien und Afrika, und das ergibt, von einem anderen Punkt des Planeten betrachtet als von Europa, eine Ermöglichung anderer Zivilisationen. Das ist eigentlich das Wesen der Projekte. In diesem Fall auch glaubwürdig – was ich bei den meisten „Projekten“ heute bezweifle.


Philipp: Glaubwürdig?

Kluge: Projektemacher sind oft auch Kriegsmacher. Das sind Alchemisten, Glücksschmiede, Heiratsvermittler, Eroberer, Schatzsucher und Schatzfinder. Die haben eine ganz breites Spektrum. Und Sie brauchen hier ein Gravitationsfeld, mit dem Sie das beurteilen, und das wäre die Frage der Vertrauenswürdigkeit. Es gibt vertrauenswürdige Projektemacher und nicht vertrauenswürdige, das Unterscheidungsvermögen dafür ist elementar notwendig. Und diese Vertrauens- oder Glaubwürdigkeitsfrage, das ist die Kernfrage, die ja auch wiederum vom bäuerlichen Menschen gestellt wird, der sich nicht von seinem Ort wegbewegt und nicht projiziert. Er kann ja nicht seine Äcker in die Ferne schmeißen und nachspringen.

Gleichzeitig dürfen wir den Verwalter nicht unterschätzen, der redlich versucht, sein Leben zu verwalten, obwohl er dabei vielleicht ungewöhnlich langweilig wird. Nehmen wir etwa den Mann von Ibsens Nora, einen Sozialdemokraten der Liebe. Keine Frau will das haben, weil das Abenteuer völlig fehlt. Er gibt nichts von seiner Seele preis, ist aber ordentlich. Auch da können Sie sagen, die glaubwürdige Form davon, die vertrauenswürdige Form davon, ist etwas, was wir prüfen müssen, so etwas muss es geben.

Und genau dasselbe würden Sie jetzt vom Projektemacher sagen, der ja als Patriot des Eigenwillens den bürgerlichen Instinkt in sich hat. Das hat’s vorher nicht gegeben im Feudalismus. Und das gibt es heute natürlich immer seltener, weil die bürgerliche Gesellschaft ist nicht wirklich präsent, sie setzt sich nicht fort. Das, was wir heute sehen, sind alles sozusagen Embryonen von Bürgern, die leben und sterben. Wir kommen gar nicht bis zum Ich, bis zur Ich-AG. Dieses Ich ist aber eine ganz zerstörerische Potenz. Wir finden es bei den Neokonservativen in den USA besonders ausgeprägt. Da haben wir in den Stiftungen Projektemacher der Spitzenklasse. Die sagen Ihnen: wenn wir Irak erobert haben, ergibt sich folgendes Domino-System, dass sagen wir, Arabien reformiert, Syrien beseitigt in der gegenwärtigen Gestalt, im Iran Folgendes auslöst, und sich weiter wirkt bis Turkmenistan. Sie merken: Jemand kann Verwalter sein, also sehr kühl, sehr hart im Inneren, meine Seele läuft parallel zu meinen Karten, und gleichzeitig vertrauenswürdige Dinge tun. Und jemand kann Projektemacher sein und kann nicht-vertrauenswürdige Dinge tun. Also ohne einen Wertmaßstab können Sie diese verschiedenen Typen des bürgerlichen Verhaltens – bürgerlich meine ich hier positiv, mit bürgerlich meine ich stürmisch, „ich will mich realisieren“ – nicht wirklich einschätzen.

Das Projekt Ich, der Individualismus als Projekt - das hat einen Charme, weil es natürlich Taten zelebriert. Das entwickelt eine Autodynamik, weil sich diese „Einzelgänger“ entgegen der Tatsache, dass sie völlig vernetzt sind, für Individuen halten. Und in dieser Wildheit, in dieser Einhörnigkeit, leisten sie grandiose Dinge. Das Problem unserer Zeit, heute, 2005, ist, dass es auf diese Menschen nicht mehr ankommt. Ein Einzelmensch kann sich heute tatsächlich nicht mehr einbilden, er könne die Welt bewegen.


Philipp: Bei den zeitgenössischen Projektvorstellungen – mit ihrer zumindest unterschwelligen Vision von kollektiver Arbeit – heißt es dann immer: Netzwerke bilden. Verträgt sich mit dem Charakter des Projektemachers überhaupt ein Wille zu wirklicher Kommunikation?

Kluge: Zur Kommunikation ja, aber zum Kollektiv nicht. Und je näher Sie zu dem kommen, was ein Mensch liebt, desto mehr werden Sie sehen, dass er das verallgemeinern kann, sich auf einen Konsens einigen kann. Die Börse zum Beispiel ist nichts weiter als eine Summe von Projektemachern, die sich zusammen geschlossen haben, und das keineswegs über ihre individuellen Befindlichkeiten oder Bedürfnisse. Über die Erziehung ihrer Kinder würden sie vielleicht schwerste Auseinandersetzungen führen, aber über die Frage, was der Wert eines bestimmten Aktie an diesem Tag ist, einigen sie sich mit höchster Kommunikation. Oder, in der Physik: Dort gilt auch, dass man sich einigen kann: Nur das, was andere auch beobachten können, gilt. Wenn da einer schummelt, ist er sozusagen draußen.

Und jetzt können Sie langsam in kleinen Schritten bis zu dem hin gehen, was für Menschen wesentlicher ist als Physik und Börse. Wenn Marlene Dietrich das Lied singt „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ oder wenn Sie Manon Lescaut nehmen, die quasi den Kategorischen Imperativ von Kant anwendet auf ihre Liebesfähigkeiten, d.h. Liebe ist eine republikanische Tugend, ich gründe die Verfassung der Gesellschaft auf meine persönlichen Liebesempfindungen, und wenn ich übermorgen dort Regenwetter habe, nicht mehr liebe – auch das sind Projekte, und diese Projekte werden umso riskanter, je mehr Seelenanteile sie haben. In der Liebe ist das Projektieren ganz besonders schwierig, aber typisch. Alle großen Tragödien und Melodramen gehen so: „Ich werfe meine Seele an etwas ganz Fremdes“, José etwa auf die Abenteurerin Carmen, und er ist gar nicht auf der Höhe dieser Frau, und daran stirbt er. Wir könnten uns jetzt gegenseitig Liebesgeschichten erzählen, und sehen, was das heißt: Dass etwas Glück bringen kann, aber gleichzeitig immer Anziehung an etwas, das ich nicht kenne, bedeutet.


Philipp: Zugespitzt gesagten, würden aber heute viele Leute mit dem Thema Projekt weniger Liebes- als Ehegeschichten – siehe etwa das gern beschworene „Projekt gemeinsame Familie“ – assoziieren.

Kluge: Warum nicht? Es wäre sozusagen eine polemische Verkürzung, wenn man sagt, Ehe sei gar kein Projekt und werfe die Seele nicht nach vorn. „Philemon und Baucis“ beispielsweise - da haben Sie das Agrarische und das Gastfreundliche und das Projektierende zusammen. Diese beiden nehmen den Gast an – und das war Gott Jupiter – und jetzt dürfen sie sich etwas wünschen, und sie wollen zusammen bleiben, und sie wachsen zusammen nach ihrem Tode als zwei Bäume und überleben sich um tausend Jahre. Das ist nun alles besser als der tausendjährige Ruhm von Napoleon, der wurde nie ein Baum. Die landwirtschaftlich-agrarische Weise, die ja den Fremden abweist, „auf meinen Acker kommt der Fremde nicht, von meinem Brot nähre ich mich selbst“ – da sind die generös, Generosität repräsentieren die zwei. Und alles dies ist in dieser Liebesgeschichte enthalten, und sie ist das kühnste Projekt, das ich kenne.


Philipp: Das ist im Endeffekt doch auch eine Sache der Vereinzelung.

Kluge: Aber diese Einzelgänger nähren sich von etwas, das vorher kollektiv erarbeitet worden ist. In ihnen ist ein Kern entstanden, der wird voraus geworfen, und dieser Kern ist nicht aus ihnen allein entstanden, sondern aus einem Netzwerk von vielen Tausenden Menschen und Vorfahren. Und das ist genau das, was Defoe erzählt hat. Robinson Crusoe vereinigt auf seiner einsamen Atlantikinsel ganz London in sich und ist insofern ein Netzwerk, der bleibt ein Netzwerk. Und wenn man so pseudokritisch sagt, das ist hier jetzt der Mann von Nora, den die verlässt, dann unterschätzt man, dass selbst in diesem Langweiler ein Seelenfunken ruhen kann, der plötzlich aufbricht. Es geht sozusagen um ein Leben im Sprunge. So wie man sagt, „auf einen Sprung vorbei gekommen“. Das hat Leibniz gemacht hier in diesen Bergwerken. Er hat es nicht einmal ausgehalten dort. Es war nicht seine Angelegenheit. Wie bei Nora, einer Frau, die nur noch ein normales verwaltetes Leben vor sich sieht, und plötzlich entzündet es sich an einem Fremden, durch einen Fehltritt, und dies bringt ihr Leiden und Glück zugleich.


Philipp: Das heißt sogar schon ein Fehltritt per se könnte sogar ungewollt zu einem Projekt werden.

Kluge: Ich glaube auch nicht, dass Projekte absichtlich entstehen und dass die Projektemacher wissen, was sie tun.


Philipp: Etwas, das zum Beispiel gerne als Projekt bezeichnet wird, ist ein Unternehmen wie damals die Encyclopédie. Wer war hier der Projektemacher, oder inwiefern spricht so ein „Projekt“ durch die Beteiligten durch? Durch einen Verleger, durch Vermarkter, durch einzelne Intellektuelle, die, wie man es über Diderot nachlesen kann, zum Teil extremen Schwerkräften ausgesetzt sind: Zensur, öde Ehe etc.

Kluge: Das, was wir da nachträglich Projekt nennen, ist ein ungeheuer komplexes Netz von all dem. Nichts davon können Sie hinwegdenken. Sie brauchen eine ganze Epoche, Sie brauchen eine Rezeptivität der Menschen, die so etwas wollen und hinterher auch kaufen. Sie brauchen diesen verrückten Verleger, der sich nicht scheut, 36 Bände zu veröffentlichen. Sie brauchen D’Alembert. Sie brauchen die Temperamentemischung. Das ist ja eine Horde von neurotisch begabten Menschen, die auch gegeneinander Krieg führen können, die auf einander neidisch sind. Und die kommen zusammen, quasi selbstvergessen, und machen diese Enzyklopädie. Und genau das ist das, was wir heute bräuchten: die Selbstvergessenheit. Absichten schaden einem Projekt. Ein Projekt wird nicht besser durch Absicht sondern durch Hingabefähigkeit. Projekt heißt Hingabefähigkeit auf der Basis von Gegenseitigkeit. Deswegen hatten wir vorhin ja auch eine größere Menge von Beispielen aus Liebesverhältnissen, weil das ist der Punkt, wo Sie selbst abmessen können, ob ein Projekt Glück hat oder nicht. Die Enzyklopädie ist eines der gelungensten Projekte, die ich kenne, und der Nachahmung bedürftig.


Philipp:Wie würden Sie das Verhältnis von Ökonomie und Ermöglichung von Projekten sehen? Wenn man sagt, Absicht wäre tödlich, dann ist doch eines der wesentlichen Probleme des Projektbetreibens die Absichtshaltung und Effizienzforderung von Seiten öffentlicher oder privater Finanziers.

Kluge: Kann sein, aber denken Sie auch hier mögliche Gegenpole. Schikaneder zum Beispiel. Der ist als Theaterdirektor zur Effizienz verpflichtet. Er braucht ein Publikum jeden Abend. Und beeinflusst jetzt Mozart, diese „Zauberflöte“ zu komponieren. Das ist ja eine Fülle von relativ bewährten Nummern. Man kann das Stück in seiner Zusammensetzung überhaupt nur verstehen, wenn man weiß, was damals alles an Hits populär war. Und das schreibt der zusammen. Und dann entsteht dort etwas Glückliches. Denn wir haben ja nicht mehrere „Zauberflöten“. Und das auf der Basis einer Schrotthalde von Handlung, bei der man besser gar nicht versucht, die Königin der Nacht aus dem 1. Akt mit der im letzten Akt zusammen zu denken. Was heißt hier „Erfolg“? Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt, das sei sozusagen von Schikaneder so gesteuert, der richte sich eben nach ökonomischen Gründe. Mozart richtet sich nicht nach ökonomischen Gründen, wenn er komponiert. Sie haben weiters eine Wiener Bevölkerung, die Theater besucht, die orientiert sich nach der Ökonomie von abendlicher Heiterkeit, von Spannung. Und wenn Sie das zusammen nehmen, dann erhalten Sie eine Vielsprachigkeit, die ist eigentlich unser Projekt. Und die Vielsprachigkeit steckt auch genau so in der Enzyklopädie, sie ist dort nur nicht offen gelegt. Keiner von denen redet mit der gleichen Zunge wie der andere. Und wenn Sie noch in Dialekten, in verschiedenen Sprachen schreiben würden, würde es immer schöner. Sie könnten die Enzyklopädie auch so schreiben, dass Sie sagen, es kommt nicht darauf an, ob es wahr ist oder ein Irrtum. Schreiben Sie doch einmal alle Irrtümer zusammen. Das ergäbe auch einen Kristall.


Philipp: An solchen Kristallen arbeiten ja auch Sie.

Kluge: Ich halte es für wesentlich, dass man Irrtümer mit berücksichtigt, denn nur die richtigen Aussagen haben uns bisher kein Glück gebracht. Es kann in den Irrtümern auch noch was versteckt sein. Kein Irrtum entsteht ohne Grund. Wie gesagt, alle diese Dinge bilden unbewusste Projekte, und das ist die Fortbewegungsform von Selbstbewusstsein bei den Menschen. Das funktioniert nicht bewusst, wenn der Mensch sich was traut. Insofern ist die Vertrauensfrage wichtig: Kann ich dem vertrauen? Damit korreliert dann die Frage: Traue ich mich etwas?


Philipp: Also könnte man es verdichtet so sagen, Projektemacherei hat insofern weniger mit einem didaktischen Gestus zu tun als mit Formen von Erfahrung.

Kluge: Es geht um Grundformen kühner Erfahrung. Wenn Erfahrung sich etwas traut, dann nimmt sie die Form des Projekts an.


Philipp: Würden Sie sich selbst eher der Gattung der Projektmacher zuordnen, nachdem Sie selbst mit einer gewissen Distanz zu den Dingen…

Kluge: Als Betrachter finde ich Projektemacher faszinierend, ich selber bin kein Projektemacher.


Philipp: Warum nicht?

Kluge: Weil ich einen festen Kern habe, um den ich mich bewege, ich reise zum Beispiel überhaupt nicht.


Philipp: Was man für Leibniz, der es ja da auch nicht lange aushält, Magenschmerzen bekommt, durchaus ähnlich behaupten könnte…

Kluge: Soweit würde ich gehen wie Leibniz, also in dessen Haut möchte ich gerne kriechen. Aber es ist eine fremde Haut, es ist ein sehr großer Mann, der versteht auch etwas von Mathematik, was ich nicht vermag. Aber Sie verstehen, dass mich dieser Mann fasziniert, das können Sie ja aus dem Text entnehmen, und es reicht ja für Menschen unseres Jahrzehnts, dass sie etwas bewundern oder etwas beschreiben, sie müssen nicht alles selber machen.



Lesbarkeit von Zeichen


Der Graphiker Philemon Berdjew, Lemberg, jetzt in Warteschleife, früher Zentrales Institut für Graphik und Design der Akademie, arbeitet seit 1986 am Entwurf symbolischer Zeichen, die noch in 6000 Jahren einem Intelligenzwesen TÖDLICHE GEFAHR signalisieren. Es wird angenommen, dass der Adressat keine der heute gesprochenen Sprachen beherrscht. Er liest auch keine kyrillische Schrift. Die Zeichen müssen, auch bei Beschädigung oder Verwitterung, ein eindeutiges Signal wiedergeben. Zu berücksichtigen ist die kulturelle Umformung, in Zukunft beschleunigt, aus hässlich wird schön, aus Schrecken Attraktion, aus gut böse. Unter diesen Voraussetzungen ist Eindeutigkeit gefordert.

Rückschlüsse aus römischen Denkmälern, altbabylonischen Zeichen sind trügerisch, sagte Berdjew. Die Entwicklung der kommenden 6000 Jahre ist beides, langsamer und beschleunigter. Die tödliche Gefahr, vor der gewarnt werden soll, ist abstrakter, selbst unsichtbar.

Berdjew ist mit seinen Computern inzwischen ans Internet angeschlossen. Er hat Betteltouren unternommen, um Geld zusammenzubringen. Ein ehemaliges Mietshaus aus der Zeit der k. u. k. Monarchie ist von ihm gefüllt mit Entwürfen und Dateien, die auf umständliche Art, die für die Partner in den USA unhandlich sind, ein System zeitübergreifender Zeichen umfassen.

Es ist, sagt Philemon Berdjew, unsinnig, HEISSE SPOTS in den Pripjetsümpfen, die sich über Tausende von Quadratmeilen erstrecken, dadurch kennzeichnen zu wollen, dass man eine Art Verkehrsschild auf Waldpfaden anbringt. Man kann auch nicht wissen, ob künftige Intelligenzen nicht Riesen- oder Zwergengröße haben. Einige seiner Zeichen knüpfen an Arbeiten des Mathematikers Carl Friedrich Gauß an, die dieser für die Zarin Katharina entwickelt hat. Es handelt sich um eine Darstellung von Sätzen des Pythagoras, eingeritzt in das Erdenrund.

Gauß hatte von der Zarin Mittel erhalten, in den sibirischen Flachwald Schneisen einzuhauen, eine Meile breit, endlose Meilen lang. Die so dargestellten Hypotenusen über den Dreiecken sollten fremde Intelligenzen, die z. B. vom Mars oder anderen Gestirnen zu uns hersähen, davon überzeugen, dass inmitten des analphabetischen Russland Kenntnisse der Mathematik verbreitet seien, das Interesse einer gastlichen Intelligenz die Fremden erwarte, falls sie sich dem Planeten annähern sollten. Welchen Anhaltspunkt, fragte Berdjew, gibt dieses Beispiel aber für die Aufstellung von Warnleuchten, die auf einen atomaren Unfall hinweisen sollen? Wer wird in Leuchten oder Zeichen, die eine Havarie dokumentieren, ein Zeichen gastlicher Intelligenz vermuten?

 

Alexander Kluge: Die Lücke, die der Teufel lässt.

Im Umfeld des neuen Jahrhunderts

Frankfurt am Main 2003, S. 174

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