Kleine Ereignisse werfen ihre Schatten

Von Stephan Schlak | Quelle www.welt.de | | Rezensionen

Der dem Diktator abgetrotzte Tag: Mit seiner Chronik des 30. April 1945 gelingt Alexander Kluge ein grandioses Geschichtspanorama

In der Walpurgisnacht vom 30. April auf den 1. Mai 1945 brach im Harz über dem Brocken ein Sturm los. Vom Blutdurst und den vielen frischen Toten des Krieges angefacht, übernahmen die Hexen das Kommando. Eine "wilde Jagd" der Ermordeten und Verbrannten setzte ein, die die Kriegsparteien, gleich welcher Fahne, verschlang. "Dieser Sturmwind vernichtete für einige Stunden alles, was ihm gegenüberstand." – Es war ein Sturm der Imagination. Kurz vor seinem Tod hatte Einar Schleef, der Theaterberserker und begnadete Gesamtkünstler, die Vision seiner Sangerhausener Klavierlehrerin in der Walpurgisnacht des letzten Kriegsjahres mit Goethes "Walpurgisnacht im Harz" kurzgeschlossen. Ein historisch obsessiver Tanz in den Mai. Alexander Kluge erzählt uns in einer seiner vielen neuen Geschichten in seinem Buch "30. April 1945" diesen Hexensabbat – ohne ihn gleich aus dem Lager der historischen Wirklichkeit zu verbannen. "Man muss nämlich unterscheiden zwischen der unwirklichen Realität, in der wir alle leben, und dem Originalton der verlorenen Geschichte, die sich ungewöhnlich und erhaben äußert."

Der Autor und Filmemacher ist diesem "Originalton" des 30. April 1945 auf der Spur. Der Wahnsinn und die Himmelsbilder, all die Fantasien und Fiktionen, die sich an dieses deutsche Schicksalsdatum "30. April 1945" ketten – "an dem Hitler sich erschoss" –, versucht Kluge in seinen Geschichten einzufangen. Dabei führt der Untertitel des Buches in die Irre. Es geht Kluge in seiner Chronik eines Tages weniger um Prologomena zur "Westbindung der Deutschen" – die über seinen Freund Jürgen Habermas und den Berliner Historiker Heinrich August Winkler als intellektuelles Marschgepäck und Gesellschaftsräson der Bundesrepublik kanonisch geworden ist. Mehr als der geschichtsphilosophische Vektor dieses Tages interessiert ihn die Unübersichtlichkeit der Lage. Mehr als die breiten Avenuen der politischen Ereignisgeschichte interessieren ihn die Seitenpfade, Abgründe und gespenstigen Wiederkehren des Denkens.

Kluge beleuchtet in unzähligen Vignetten dieses Datum, das durch den Selbstmord des Diktators im Kalendarium der Deutschen seine scheinbar eindeutige Musterung bekommen hat. Aber Kluge erzählt uns den Kosmos dieses Tages ganz neu in seiner Fluidität und Offenheit der historischen Situation. Gekonnt verwebt der erprobte szenische Arrangeur dazu historisches Material, autobiografische Erinnerung und literarische Fiktion zu einem ganz eigentümlichen Text. Dazu tritt der Chor der Freunde und Stichwortgeber – Bertolt Brecht, Heiner Müller, auch dunkle, schillernde Worte von Max Kommerell und Carl Schmitt über Hitler als "Sohn der Rache"; als Gastautor durchschießt Reinhard Jirgl mit eigenen Episoden Kluges Geschichtensammlung.

Zwar sind überall am 30. April die Wetterzeichen vom "Ende einer Epoche" zu bestaunen, schlagen die Werwölfe sich in die Büsche, müssen alte Feldmarschälle die Straßenbahn benutzen – zugleich läuft die Maschinerie des Krieges aber weiter, werden Verwaltungsakte und Todesurteile ausgestellt, fließt das Kapital ungehindert durch die militärischen Zonen. Kluge lässt in seinen Geschichten all die Stücke "unterschiedlicher Realitäten" in ihrem Eigenrecht bestehen und aufeinanderprallen. Seine unbedingte Neugier und Empathie gehört dabei stets den einzelnen Lebensläufen – auch gerade jenen, die eigentlich nur zu Randfiguren und Staffagen des großen Geschehens abkommandiert sind. Ihnen vertraut er sich an.

Auftritt des "getreuen Augenzeugen": Kluge imaginiert die Rolle eines "Sanitäters", der am 30. April 1945 auf Befehl das Benzin zum Verbrennen der Leichen an den Sockel der Reichskanzlei zu bringen hatte. "Wir übernahmen Benzinkanister und füllten zusätzlich leere Kanister ab. Einige der Kanister hatten rumänische Aufschriften. Die Trümmerpfade entlang. Unter Streufeuer der Alliierten mit unserer kostbaren Fracht unterwegs in Eile." Vom Sockel der Reichskanzlei versuchte er vergeblich, einen Blick auf das undurchsichtige Geschehen im Bunker zu gewinnen. "Wir Benzinsammler, ohne welche die Grablegung des Herrschers nicht möglich gewesen wäre, standen weiterhin abgetrennt in der Innenführung zum Bunkereingang."

Geschickt blendet Kluge den eigentlich dramatischen politischen Schauplatz jenes Tages ab, den Bunker unter der Reichskanzlei, von dem unser Bildgedächtnis mit Büchern und Filmen bombardiert ist: Blondie und der zitternde Führer, die letzte Götterdämmerung des Reiches … Wichtiger sind ihm hier die Beschreibung des namenlosen Benzinsammlers, der durch das Ausführen von Befehlen in der "Unwirklichkeitsblase" Haltung zu bewahren versucht. Kluge schlägt in seinem Buch einen weiten Haken um das klaustrophische Kammerspiel im Bunker – als wolle er mit seinen Geschichten die Weite und komplexe Lebenswirklichkeit des Datums "30. April 1945" dem Diktator nachträglich abtrotzen. "Seine Existenz im Umkreis des Bunkers, im Weltmaßstab ein einzelner Punkt, ist unwirklich geworden, noch ehe er die Waffe auf seinen Oberkiefer richtete."

Noch im Nachwort grübelt Kluge über den Film "Der Untergang" nach, der ihn in der "Fanatasie" gleich wieder nach San Francisco treiben lässt. "In den Minuten, die nach mitteleuropäischer Zeit den Moment umfassen, in dem Hitler die Tür zu seinem Sterbezimmer schließt, putzen sich die Diplomaten, die an diesem Tag in San Francisco über Gründung und Struktur der Vereinten Nationen verhandeln werden, die Zähne, sie duschen, frühstücken und bereiten sich auf den Tag vor."

So sehr er seine planetarischen Sonden über dieses Datum legt, Geschichten der Gleichzeitigkeit auf dem ganzen Erdball einsammelt, vom "letzten Nationalsozialisten in Kabul" über die Schweizer Neutralitätszone bis zu Heideggers "Enklave deutschen Geistes" in Bad Wildungen – immer wieder kehrt er in seine Geburtsstadt Halberstadt im Harz zurück. Schon gleich im ersten Satz heißt es: "Ich habe diesen Tag in einer Stadt nördlich des Harzgebirges erlebt. Mit 13 Jahren."

Ungeschützt von allen imaginierten Figuren und historischen Maskeraden, erzählt er in der Mitte des Buches berührend von seiner Jugend im Krieg – dem Streunen in der Unterstadt durch die Keller der zerstörten Häuser, dem Krieg-Spielen ("Reiche verteidigen und erobern") auf dem Dachboden der Familie Müller, dem flottierenden Tauschhandel mit Beutestücken. Es war eine unschuldige Jugend, fern der sich schürzenden Ereignisse in der Reichshauptstadt und den Vernichtungsstürmen in Europa – aber es war eine Jugend im steten Gefahrenkreis des Todes. Im Nachwort des Buches findet sich ein Luftbild der US Air Force mit Kraterstellen nach der Bombardierung Halberstadts. "Man sieht die Bombeneinschläge, einer dicht neben meinem Nachhauseweg vom Sommerbad an der Brauerei am Goldbach vorbei."

Unzeitgemäß ragt dieses Buch in das Erinnerungsgelände dieses Jahres hinein, in dem der Schatten der Katastrophe des Ersten Weltkrieges auf den aktuellen Krisen und Kriegen an der Peripherie Europas liegt. Was die Geschichtswissenschaft bei der Beurteilung der Juli-Krise 1914 jenseits aller Schuldzuschreibungen neu erlernen musste – die historische Dimension von Zufällen, Kontingenzen und Paradoxien; aus all dem formt Kluge für den 30. April 1945 ein grandioses Geschichtspanorama – die vergangene Zukunft eines Tages, deren atmosphärischem Sog man sich schwer entziehen kann. Der "Originalton der verlorenen Geschichte" – der 13-jährige Alexander Kluge erfuhr ihn am 1. Mai 1945. Hier schloss er nach einem durchnässten Arbeitstag auf dem Rübenacker zu Hause seine Mutter überraschend wieder in die Arme, die er ein Jahr nicht gesehen hatte.

Der Eigensinn der Wahrnehmung rebelliert gegen die Gravität des Datums. "Dieser Tag ist für mich unvergesslich und wichtiger als der 30. April 1945. Er ist allerdings mit nichts anderem in Halberstadt oder im Weltmaßstab so recht in Verbindung zu setzen."

Alexander Kluge: 30. April 1945. Suhrkamp, Berlin. 316 S., 24,95 €.

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