Erzählungen haben den Vorteil, dass sie blind sein dürfen.

Von Claus Philipp | Quelle wiener literaturzeitschrift VOLLTEXT, 9. ausgabe okt/nov 2003 | | Interviews

Ein Gespräch mit Alexander Kluge.

Ich beginne mit einem ersten Eindruck. Einerseits haben Sie, im Jahr 2000, mit der "Chronik der Gefühle" Ihre bisherigen Prosatexte kompiliert und überarbeitet. Andererseits, 2001: Ihre "gemeinsame Philosophie" mit Oskar Negt, "Der unterschätzte Mensch". War das eine Vorbereitung für "Die Lücke, die der Teufel lässt"?
Alexander Kluge: Nachdem diese beiden Bücher veröffentlicht waren, habe ich mich freier gefühlt. Ich konnte neue Geschichten erzählen. Die 500 Geschichten hier sind aus den letzten drei Jahren. Dazu kam: Noch 1989 hatte man in der Bundesrepublik das Gefühl - auch in Hinsicht auf Perspektiven für die Kinder - wir gehen in ein augusteisches Zeitalter, alles wird harmonisch. Das Gegenteil trat ein. Die Wirklichkeiten auf dem Planeten beginnen, ihre Romantätigkeit zu intensivieren. Die Möglichkeit fängt an zu spinnen. Das hat sehr starke Eindrücke und Motive zum Erzählen für mich ergeben. Gewiss, über das, was man direkt miterlebt bzw. was man im Fernsehen sieht, kann man keine Geschichte schreiben. Aber der Impuls, dass Fragen sich intensivieren, auf die man antworten möchte - dass Geschichten gewissermaßen nach Ausdruck verlangen - das habe ich sehr stark empfunden. Und wenn dann das Frühere quasi gut verpackt in den anderen Büchern liegt, fühlt man sich freier.
Kommen wir gleich zu einem kurzen Text, "Ein Fluss mit Vergangenheit". Da geht es um das russische Flüsschen Pripjat, in der Nachbarschaft von Tschernobyl, und da werden lediglich in einer Fußnote die "hervorragenden Koagulantien für radioaktive Teilchen" erwähnt. Alles ist verstrahlt. Dazu die Abbildung eines kontaminierten Hundes. Der Text selbst war bereits im "Unterschätzten Menschen" ein Gelenk zwischen "Öffentlichkeit und Erfahrung" und "Maßverhältnisse des Politischen"...
Kluge: Das ist da einfach reingerutscht, weil Tschernobyl für mich eine Metapher für das mißglückte Gemeinwesen darstellt. Die Elementarteilchen, die da freigesetzt werden, haben eine Halbwertszeit von 300.000 Jahren, und das Gemeinwesen Sowjetunion, das dort Verantwortung trägt und den Schaden beheben müsste - diese Republik hatte eine Halbwertzeit von zweieinhalb Jahren. Seither sind drei verschiedene Republiken "negativ zuständig", wie der Jurist sagt. Alle bestreiten ihre Zuständigkeit für Tschernobyl. Dieser neue Zustand gibt mir schwer zu denken.
Dem halten Sie etwa den Vorschlag einer verschwörerischen Gemeinschaft zum Schutz der Menschheit entgegen. Oder, als Geschichtenerzähler, einen Grafiker, der sich mit der Frage beschäftigt: Wie wären Warnzeichen in/für die Zukunft zu gestalten?
Kluge: Dieser Mann aus Lemberg hat ein wirkliches Problem ins Auge gefasst.
Nämlich dass möglicherweise in Tausenden von Jahren kein Zeichen, das wir uns ausdenken, noch verständlich sein wird. Außerirdischen gegenüber sind wir wahrscheinlich ohne Verständigungsmöglichkeit. Wie können wir also die Orte des Unglücks kennzeichnen, einer Katastrophe, die dann immer noch nachwirkt? Gehen Sie davon aus: Beim Geschichtenerzählen ist man nicht parteiisch wie bei einem diskursiven Text, wo man sagt, das eine ist richtig, das andere ist falsch. Und da ist jemand, der vor sich hin spinnt entlang der Frage, wie kann man sich verständlich halten über die Zeiten, genauso eine schräge Denkform wie wenn ich ein Kernkraftwerk plane und nicht beschützen kann.
Noch einmal zurück zur "Chronik der Gefühle" und zum "Unterschätzten Menschen". Da haben Sie Rüstzeug, das Sie sich im Laufe Ihrer schriftstellerischen Tätigkeit erwarben, noch einmal eingesammelt, zusammengedacht. Wie eine Landkarte, einen Atlas...
Kluge: Das ist etwas, das mir sehr entgegen kommt. Eigentlich brauchen wir einen Atlas unserer Erfahrung.
Eine Enzyklopädie...
Kluge: Das wäre das größere Wort. Wenn ich viele Gefährten habe, dann kann ich von einer Enzyklopädie sprechen. Wenn ich noch ein bisschen auf Spähtrupp bin, alleine, dann heißt es, vorsichtiger zu sein. Wir arbeiten wie Geographen an Landkarten, aber es sind Landkarten der Erfahrung, die auch die innere Stimme mit berücksichtigen. Das ist Erzählen.
Im Fall der "Lücke" bedeutet das, dass Sie verstärkt auch mit einem
Handapparat Verbindungen und Querverweise zwischen den Geschichten herstellen, durchaus im Sinne von produktiver Irreführung.

Kluge: Sagen wir Lesehilfe. Man wühlt gewissermaßen einmal quer. Die Geschichten bilden untereinander Gegensätze oder Konkurrenzen, manchmal ergeben sie zusammen ein Full House. Nicht mit einem Handlungsraster, einem Handlungszwang. Über ein paar Ortsangaben hinweg kann man an verschiedenen Enden des Buches auf die selbe Erzählung stoßen. Zum Beispiel sämtliche Wasserläufe vom Flüsschen Pripjet hin zur Wolga oder dem Brahmaputra, der Lena, dem Euphrat und Tigris: Wenn Sie nichts weiter täten, als in dem Buch alle Flüsse, alle Behauptungen und Erzählungen übers Wasser zusammen zu greifen, hätten Sie eine eigene Geschichte. Dasselbe könnten Sie mit der Wilden Jagd der Geister machen. Es ist wie ein Wetter, das den Planeten umrundet. Darüber Karten zu haben, Informationen, Navigationsmöglichkeiten, dass ist ein Gebrauchswert eines solchen Buches in meinen Augen.
Ein Kartograph weiß am Anfang natürlich nicht, wie die Landkarte, die zeichnet, aussehen wird. Er kann sich bestenfalls an etwas orientieren, das es vorher schon gegeben hat...
Kluge: Dazu kommt erschwerend, dass ich über bewegte Objekte erzähle. Schiffe. Seefahrer. Gibt es an der anderen Seite des Atlantik ein neues Land? Das wäre eine interessante Fragestellung. Bei Variationen unserer Erfahrung: Was sind die neuen Küsten? Wo komme ich an? Das ist eine grundlegende Frage, die auch schon Odysseus beschäftigte.
Gibt es eine Insel, auf der man verführt werden könnte?
Kluge: Sind es gefährliche Zauberkräfte, denen ich da begegne, oder sind das
freundliche gastgebende Menschen? Das sind ganz wichtige Fragen für jeden von uns. Deswegen gibt es in meinem Buch Heimkehrergeschichten, die fragen: Wie sind die europäischen Außengrenzen befestigt? Was ist das verheißene Land? Was ist die Erwartung, die so viele Menschen nach Europa treibt? Dann: Feuerwehrgeschichten, U-Bootgeschichten, Geschichten vom Kosmos. Verschiedenen Orte, eigentlich sehr verschiedenen Dimensionen, und die muss man echolotartig abtasten durch Erzählungen.
Aber wenn während des Schreibens nicht absehbar ist, wohin sich das Schiff tatsächlich bewegt, wie gewinnt dann ein Buch wie "Die Lücke" Form?
Kluge: Zunächst einmal, indem man die wichtigste Frage vorne als Kapitel 1 bezeichnet. Die Geschichten, die zu verschiedenen Zeiten geschrieben sind, rücken jetzt gravitativ in Richtung dieses ersten Kapitels, wenn sie auf die Frage antworten: Was ist der Unterschied zwischen lebendig und tot? Was heißt lebendig? Das ist keine einfache Frage. Wie Heiner Müller sagte: Auch die Toten leben in uns.
Möglicherweise sind sie rachsüchtig.
Kluge: Das mag sein. Sagt er. Umgekehrt kann es auch sein, dass sie uns bewachen. Heiner Müller war der Meinung, das Gericht der Toten müsse zahlenstärker sein als die Lebenden, dann können Gleichgewichte gehalten werden. Das war schon in der Antike ein geläufiger Gedanke.
Eine Balance, in die man Vertrauen setzen kann...
Kluge: ... zwischen Geschichte und Gegenwart. Das ist die einzige Form, welche die Möglichkeiten, also den Konjunktiv und das Futurum - dass wir weiterleben - irgendwie aufrecht erhält - als Horizontbildner.
Wie stark empfanden Sie eine Verpflichtung toten Freunden wie Müller oder Einar Schleef gegenüber? Versuchen Sie da eine Fackel weiterzutragen?
Kluge: Ich würde es nicht so feierlich ausdrücken. Ich verkehre weiterhin mit den Beiden, die auch in vielen Geschichten vorkommen, das befriedigt mich
sehr stark. Es ist entspannend, dass man einfach suchen, wühlen kann. Erzählungen haben ja den Vorteil, dass sie blind sein dürfen.
Was bedeutet dann in diesem Buch Recherche? Sie bestehen ja darauf, dass viele Geschichten in diesem Buch tatsächlich Fakten wiedergeben.
Kluge: Das tun sie häufig. Nehmen Sie einmal so eine Sicherheitskonferenz, die in München stattfindet und auf der ich für dctp Gespräche führte, unmittelbar vor Ausbruch des Irakkrieges. Zwei Gesprächsebenen waren da zu beobachten. Die eine: Es ist alles entschieden, wie richten wir uns darin ein? Die andere: Wir diskutieren im Moment der Gefahr Völkerrecht, Strategien, Clausewitz. Und da gibt es jetzt einen Arbeitszeitmesser, der mit seiner Methode fragt: Wie viele sind hier Moderatoren, Lobbyisten, Dienstleister - und wieviel ist hier noch klassische kritische Intelligenz? Wie auffällig wäre es, würde vor dieser Öffentlichkeit ein Vortrag von Jürgen Habermas gehalten? Wie sehr würde der stören, gerade weil er grundsätzlich kritisch wäre? Die Lücke in diesem teuflischen Verfahren ist, dass die Intelligenz zwar zum Dienstleister wird, verobjektiviert wird, in ihrer kritischen Fähigkeit unterworfen wird - aber sie gehorcht dennoch nicht. Die unterworfene Intelligenz ist genauso eigensinnig und widerborstig, wie es vorher die kritische war. Sie gehorcht nicht.
Dafür finden Sie auch Beispiele aus dem Untergang der Sowjetunion.
Kluge: Auf der einen Seite freue ich mich, wenn große Machtsysteme zusammenbrechen. Andererseits glaube ich, dass die Menschen und die Arbeit und die Mühe, die sich Leute geben, übrigens auch die Kenntnis von Problemen, das heißt Erfahrung - dass dem unsere Aufmerksamkeit gebührt. Ist etwas zusammengebrochen, dann ist es menschenwürdig, dass man den nötigen Respekt vor den involvierten Menschen zeigt, indem man das noch einmal nacherzählt. Das sind im Grunde die Märchen von heute. Die Brüder Grimm würden heute nicht Großmütter nach Märchen befragen, sie würden die Geschichte des russischen Imperiums erzählen, durch die USA, Asien, Afrika reisen, und auf diese Weise Märchen, die die Realität erzählt, sammeln.
Jetzt sind Sie nicht einer, der reist. Woher beziehen Sie die Informationen, abgesehen von den TV-Interviews? In der "Chronik der Gefühle" gab es z. B diese wunderbare Geschichte über diesen Undercover-Agenten, einen "verdeckten Ermittler", der ins Gefängnis geht und dort durch den Niedergang des Imperiums nicht mehr herauskommt.
Kluge: Jemand hat mir einen solchen Fall erzählt und ich habe ihn in ein anderes Land übertragen. Es ist eigentlich dieselbe Geschichte, die Heiner Müller erzählt über drei Abgesandte der Französischen Revolution, die in der Karibik ihren Auftrag erfüllen wollen, obwohl ihre Auftraggeber längst gestürzt sind.
Ähnliches erzählen Sie von einer russischen Parteigenossin, die eine Robinsonade durchmacht...
Kluge: Robinson Crusoe ist eine äußerst eindrucksvolle Erzählung. Sie zeigt, was in der bürgerlichen Gesellschaft mit einem Menschen geschieht, der auf sich alleine gestellt ist. Er hat den Sklaven Freitag, er entwickelt ein produktives Selbstbewusstsein auf seiner Insel, bis ein Schiff ihn abholt. Da gibt es jetzt die Frage: Was ist der Robinson unter sozialistischen Bedingungen?
Wieder entlang von realen Vorlagen?
Kluge: Ja. Die Geschichte eines russischen Frachtschiffes, das 1939 ausfährt und im Eismeer zu Grunde geht, das war ein Dokument. Dass die Besatzung auf der Bäreninsel gestrandet ist, ist auch wahr. Ich spitze das zu: Dass sie von einem deutschen U-Boot abgeholt werden, also vom Feind, und in eine Situation kommen, bei der sie das alles, was sie denken, erzählen können - das habe ich dazuerfunden.
Ein Drama, eine Konstruktion.
Kluge: Es wird kein Drama, wenn die einfach sterben. Zuletzt habe ich niemanden mehr übrig. Man weiß, dass sie sich dort irgendwie an Land gerettet haben und dann umkamen. Man kann auch Skelette, die nicht sprechen, finden. Aber das ist keine Erzählung. Außerdem wäre es mir zu trübsinnig.
Aus der fiktiven Verhörsituation entsteht nun einer der für Ihrer Texte typischen Dialoge, ein Beschuß der realen Geschichte mit Fragen, auf die zum Teil auch höchst unergiebig, aber sehr bewusst keine Antwort gefunden wird.
Kluge: Weil es sehr schwierig ist, zu erklären, was jetzt am sozialistischen Menschen gegenüber dem emanzipierten Menschen seit 1600 anders ist. Wenn Sie die Geschichte Junge Frau von 1917 hinzufügen, dann können Sie dort nachlesen, dass eine junge Stenotypistin, die in St. Petersburg im engeren Kreis der Revolutionäre mitgearbeitet hat, ein anderes Problem hat. Sie hat ein Ahnungsvermögen von freiwilliger Hingabe, dem, was man sozialistisch nennt: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, das hat sie stundenweise, ahnungsweise in ihrem Arbeitsprozess erlebt, nur hat sie heute die Schwierigkeit, das ihrer Enkelin, die ganz willig ist, zuhört, mitzuteilen. Manche Märchen haben ein Übertragungsproblem. Das ist hier der Inhalt der Erzählung.
Auch Tolstois Anna Karenina, der Sie sich wiederholt nähern, hat aus Ihrer Perspektive ein Übertragungsproblem?
Kluge: Man hat nicht die selbe Art von tragischem Lebenslauf zu jeder Zeit. Die Anna Karenina, die Tolstoi beschreibt, würde er selbst mitten im ersten Weltkrieg anders beschreiben können. Das heißt: Sie hätte mehr Einfälle, wie man aus dem Unglück herausfindet. Sie würde nicht durch eine Liebesgeschichte mit diesem Rittmeister Bronski das Unglück vervielfältigen, das rund um sie stattfindet. Und wenn Sie jetzt in meinem Buch einen Schritt weitergehen, im selben Jahr 1917, dann sind Sie in Budapest und sehen im Kapitel Aus den Anfängen der Revolution Sigmund Freud im englischen Anzug seine berühmte Rede halten: "Wir sind den Militärärzten vollkommen überlegen, insofern ,Kriegsgewinnler', weil wir nicht nur Wunden, die auf den Schlachtfeldern des Krieges geschlagen werden, sondern die auf den Schlachtfeldern der Liebe entstehen, heilen können." Ein sehr selbstbewusster Satz. Das ist das Selbstbewusstsein des 20. und 21 Jahrhunderts, an das ich innig glaube. Deswegen steht das als erste Geschichte unter dem Stichwort Revolution. Da steht nicht Petersburg, 1917. Budapest 1917. Wo auch das letzte Fähnlein der Weltrevolution wenig später ankommt.
Bei ähnlichen Überblendungen kommen Sie über den "Ursprung von HIV", "Lebendigkeit von 1931", "Adornos Geliebte" beim Kapitel "Aufklärung bei unverschuldeter Unmündigkeit" an und nähern sich gleichzeitig großer Oper.
Kluge: Oder Immanuel Kant...
... an dem Sie sich zum Beispiel auch in den "Suchbegriffen", diesen Gesprächen mit Oskar Negt in "Der unterschätzte Mensch", abarbeiten.
Kluge: Kant sagt: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit." Unmündig sei der Mensch, der sich seines eigenen Verstandes nicht selbständig bedienen kann. Was aber, wenn nun die Unmündigkeit nicht selbst verschuldet ist, was häufig vorkommt? Kann ich dann trotzdem aufgeklärt sein? Und wenn ich unglücklich werde durch Gebrauch meines Verstandes, welches andere Ahnungs- oder Intelligenzvermögen sitzt in mir das mich glücklicher machen könnte? Hier geht es um eine reiche Erbin: ein melodramatischer Stoff. Ein russischer Agent wird auf sie angesetzt und Geheimdienste formieren sich gegen Geheimdienste, das Glück dieses Paares zu vernichten.
Auch hier: Andere tragische Parameter als noch im 19. Jahrhundert?
Kluge: Ja, aber es verhält sich völlig identisch zu Dido und Aeneas, einem Fragment von Heiner Müller, wo auch ein Paar, oder mindestens die Frau zugrunde geht wegen einer großen rationalen Staatsgründung. Auf der Flucht nimmt Aeneas das Unglück seiner Vaterstadt mit und tötet damit eine Frau. Insofern sind diese Geschichten auch sehr alt und mit einfacher, diskursiver Aufklärung nicht zu beantworten. Dass ich einfach schlauer bin als andere, das nutzt gar nichts. Es ist egal, ob meine Unmündigkeit selbst verschuldet oder unverschuldet ist. Ich möchte aus der Unmündigkeit heraus finden und das unter glücklichen Umständen und mit Schatzfund.
Sehr häufig ist in den Mythen doch aber der Fall dass die Helden aus der Unmündigkeit heraus finden, eigentlich auch das Ende.
Kluge: Ich bin illusionslos, quasi wie ein Robinson gestrandet.
Jetzt besteht eine Geschichte wie "Aufklärung bei unverschuldeter Unmündigkeit" ihrerseits aus kurzen Texten, die einerseits chronologisch die Blitzlichter dieser Beziehung zwischen der Frau und ihrem Geliebten aufgreifen oder andererseits eben Heiner Müller zitieren, ein Gespräch mit dem Genossen Andropow. Wie formiert sich so eine Montage?
Kluge: Das wird schon hintereinanderweg so geschrieben, obwohl ich weiß, dass das zweite Kapitel Tschernobyl betreffen wird und den Untergang der Sowjetunion, wobei mich so fasziniert hat, dass Andropow wohl eine Zeit lang den KGB als intelligentes Gemeinwesen verstanden hat. Er hat seine Leute ausgebildet, dass sie glasnost-fähig werden und ist ja auch der Lehrmeister von Gorbatschow. Das interessiert mich sehr: wenn so ein Mann des alten Systems fähig ist, über seinen Tod hinaus gewissermaßen zunächst einmal eine Reform von oben nach unten ins Auge zu fassen. Die wird nicht funktionieren. Aber es hat etwas für mich Berührendes, wenn so ein Mann noch immer nachfragt, noch einmal bei Engels nachhakt. Das ist selten. Aber darum geht es: Wie viel Substanz muss man in Aufklärungs- und Emanzipationsprozesse einbringen? Können wir im 18. Jahrhundert anfangen und dann dasselbe noch mal entwickeln oder müssen wir nicht vielmehr früher, ins 17. Jahrhundert zurück? In die Anfänge des bürgerlichen Selbstbewusstseins? Noch davor? Wie viel gründlicher müssen wir werden, um erstens den Fundamentalismus, der in uns steckt, überhaupt zu bemerken, damit wir uns auch einmal von außen sehen könnten, und zweitens wieviel mehr emotionale Gravitation brauchen wir, um mit diesen riesenhaft gewachsenen objektiven Verhältnissen, die den Menschen über den Kopf wachsen, umzugehen? Mindestens, um gegen sie anzuerzählen, möglichst aber auch ihnen zu entkommen, sich in ihnen zu bewegen, und, weil es Lücken gibt, in ihnen dennoch zu leben.
Andropow und Müller sind aber nur zwei Magneten, rund um die sich Elemente der Onassis-Geschichte formieren. Wir kommen beim Lesen auch zu einem Nachmittag mit Maria Callas...
Kluge: Das ist ja die Geliebte des Vaters. Ich bleibe in der Familie. Und Callas singt die "Norma"...
... die als Motiv ihrerseits in weiteren Geschichten weiter variiert wird.
Kluge: Das ist eine Oper des ganz jungen Bellini, der nur 34 Jahre alt geworden ist, noch jünger gestorben ist als Mozart. Es ist eine feurige Oper über den Sieg von Freundschaft und Rationalität über Hass und Vergeltung. Eine ganz anders geartete Iphigenie. Norma nimmt ihren Geliebten nicht in den Feuertod mit hinein. Sie tötet vor allem nicht ihre Rivalin. Da gibt es ein paar psychologisch meines Erachtens sehr unwahrscheinliche aber in einer anderen Welt mögliche Positionen, die mit einer hinreißenden Musik ausgestattet sind, und das fesselt mich. Das ist in der Callas vereinigt. Lebensläufe bilden auch Nachbarschaften. Wenn ich sozusagen die Yacht des Onassis weiter beschreiben würde, dann würde ich mindestens eineinviertel weitere Geschichten finden. Ich kann aber genau so gut auf eine andere Yacht übergehen und den Tod eines bankrotten Multimilliardärs, der einst Partisan war, beschreiben, dann bleibt das noch immer verwandt. Im Grunde sind das alles Variationsketten.
Und sie verhalten sich wie Akkorde zu einander in einer Symphonie?
Kluge: In einer musikalischen Variationenreihe.
Also hat Kapitel eins, "Zwischen lebendig und tot. Was heißt lebendig?", begleitet noch dazu von einem Bild von fünf Maultieren auf einer Insel im Missouri, Ouvertürencharakter für das Buch im Weiteren?
Kluge: Das kann man so sehen. Diese fünf Maultiere, umgeben von Hochwasser und man weiß nicht, werden sie überleben oder nicht, das sind wir.
Wieder kommen wir zu den Inseln, zu den Insulanern. Zu Robinson, der auf der Seefahrt, die auch Sie angetreten haben, auf einer Insel hängen geblieben ist. Zu Odysseus, zu dessen Irrfahrt Sie auch eine Karte im Unterschätzten Menschen schon einmal abgebildet haben, der einer Versuchung nach der anderen nicht widerstehen kann.
Kluge: Das ist unsere Mustergeschichte. Dass er sich die ganzen 20 Jahre seiner Irrfahrt nach seiner unverrückbaren Bettstatt sehnt, die er in seiner Jugend aus einem Olivenbaum gehauen hat: So steht es bei Homer.
Ein Motiv aus Adorno/Horkheimers "Dialektik der Aufklärung", das Sie auch mit Negt in den Suchbegriffen besprechen...
Kluge: Da gibt es ein paar Punkte, die sind immer die gleichen. Egal welche Bücher ich schreiben würde... dass es in der Homer'schen Beschreibung des Odysseus einmal die Selbstfesselung gibt, die Selbstunterdrückung des Menschen als Bedingung seiner Emanzipation. Gleichzeitig die Identität. Irgendetwas Unverrückbares habe ich produziert. Das macht den Menschen heimwehsüchtig und stolz. Daran erkennt die Frau den zurückgekehrten Odysseus, der sonst ein Betrüger sein könnte. Das ist etwas, was mich sehr berührt. Und dass beides, dass diese Spannung besteht zwischen diesem es gibt kein richtiges Leben im falschen und es gibt doch einen untrüglichen Sinn, die wenigen Inseln zu finden, an denen etwas Richtiges, Menschliches auf einen Moment existiert. Dazwischen wird sich immer mein Interesse bewegen.
Es hat aber das Dasein von Insulanern etwas sehr Eigenartiges. Auf der einen Seite oft weiteste Horizonte, der Blick aufs Meer, auf der anderen Seite höchste Beschränkung des Spielraums.
Kluge: Aber es gibt noch Höhlen, andere Erscheinungsformen in denen Erfahrung sich bildet.
Man könnte einen Insulaner aber auch als Gefangenen beschreiben?
Kluge: Das könnte man, ja. Er ist gefangen, aber er kann auch gerettet werden durch ein vorbei kommendes Schiff.
Oder durch einen Stamm, der auf dieser Insel auftaucht...
Kluge: ... könnte er gerettet oder überfallen und getötet werden. Darüber können Geschichten keine Auskunft geben. Aber wenn Sie dieses Bild am Anfang des Buches nehmen, mit diesen Maultieren, die einigermaßen störrisch in verschiedene Richtungen Ausblick halten, ob jemand sie abholt, die nicht verstehen dass man sie hier einer Überschwemmung ausgesetzt hat, umgeben von Spiegelungen des Wassers, die nicht auf sie antworten, dann hätten Sie das Thema des ganzen Buches. Meine Schwester hat mir dieses Bild mitgebracht, sie hatte ein paar Geschichten gelesen und hatte das gefunden in einem Buch von 1932. Aus Aberglauben habe ich es an die erste Stelle gesetzt. An das Bild denke ich immer, wenn ich schreibe. Das ist sozusagen wie ein Echolot.
Es gibt viele solche Bilder in Ihren Büchern.
Kluge: Das sind eigentlich Erzählungen. Worte, in ein Bild gekleidet. Eine Metapher, sagt Heiner Müller, verlangsamt eine Erfahrung so lange, bis meine Emotion darauf antworten kann - in einer etwas zu schnell lebenden Zeit. Denken Sie nur an diese Frau aus Odessa, die, enttäuscht über das, was sie hier im Westen erlebt hat, vom Dom von Mailand in die Tiefe springt, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. "Die Lücke, die der Teufel lässt" ist eben, dass sie auf die Blechkarosserie eines besonders schlecht gebauten, dünnwandigen Autos stürzt, gerettet wird und später noch ihren Lebensgefährten kennen lernt. Da hätten Sie genau die Aufeinanderfolge einer Metapher, die ich mit Worten nicht so gut erzählen kann wie durch ein Bild. Oder, in den Heimkehrergeschichten: Kinder von im Dritten Reich Verfolgten, die in Sammelstellen gesammelt und von den Alliierten nach London in ein Hotel gebracht wurden, um in der Welt verteilt und zurückgebracht zu werden zu Bezugspersonen. Sie werden erst einmal in ein Bad gesteckt, nackig wie Gott sie schuf. Die Papiere liegen draußen. Jetzt kann man sie den Kindern nicht mehr zuordnen. Das war nicht durchdacht. Welches Kind gehört wohin? Das ist eine Odyssee von heute.
Wenn so ein Bild, in heutiger Weise gezeichnet, am Cover der Bild-Zeitung wäre: Es würde den normalen, schlagzeilenhungrigen, in dem Sinne auch nach Geschichten hungrigen Menschen, genau so reizen wie Sie.
Kluge: Ja, da ist kein Unterschied.
Ich glaube auch bis in Ihre wunderbaren Titel hinein, man könnte damit die schönsten Zeitungsaufmacher erstellen! "Ich ziehe die Gerechtigkeit der Liebe vor." Das würde sogar "Bild"-Leser begeistern.
Kluge: Hier greifen tatsächlich zwei Seiten ineinander. Das eine ist: Ein Autor versucht etwas auszudrücken, dann wird es zur Hochsprache, oder Kultur, oder wie Sie es nennen wollen. Das zweite ist aber, dass Menschen so etwas in sich ansammeln, ein Interesse ansammeln. Das spricht dann für manche Titel. Es gibt eine Geschichte, die Walter Benjamin in den Mund gelegt wird über den Teufel, der bei ihm folgendes erzählt: Dass das Unterhaltungsgewerbe, wie Moritaten das mal waren oder der frühe Film, eine besondere Fähigkeit hat, das Ahnungsvermögen der Menschen so anzuziehen, dass eine Evolution der Stoffe entsteht. Alles das, was Menschen interessant und wichtig finden, auch unbewusst, dafür bezahlen sie etwas. Insofern ist das Unterhaltungsgewerbe wie eine Wünschelrute, und kann mehr Massen von Kenntnis und Erfahrung, vereinigen, als den Menschen und den Unternehmern des Gewerbes überhaupt bewusst ist.
Wobei letztere auf der anderen Seite wieder den Menschen, den Konsumenten unterschätzen, indem sie Dinge, die möglicherweise mit der Wünschelrute richtig verorten...
Kluge: ...hinterher verbessern wollen und dabei sich vom Zuschauer notwendig entfernen. Das ist dieser rasche Umsatz, der notwendig ist, wenn sie so schnell wechseln weil sie sich vergaloppiert haben. Weil sie es verbessern wollten. Und man kann nichts verbessern gegenüber dem, was die Menschen spontan tun.
Weil Sie Benjamin - auch in Ihrem Buch - zitieren: Er passt sehr gut zu diesen Insulanern und Seefahrern.
Kluge: Er ist unter den Philosophen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung derjenige, der sagt, Dialektik kann träumen. Was wiederum Adorno für philosophischen Kitsch hält. Das heißt, sie streiten sich untereinander, und zwar bis heute. Das ist das Pathos für mich. Dass diese Stimmen immer noch zu hören sind.
Sie bezeichnen Benjamin auch als "Geisterseher". Warum?
Kluge: So, wie er sein persönliches Leben in seinen Tagebüchern ausgebreitet hat, hat das ganz wenig mit Privatheit zu tun. Das ist wie bei einem Propheten. Ich sehe ihn eigentlich mönchisch.
Er könnte auch in einem Bunker sitzen und von dort aus weiter ausstrahlen?
Kluge: Vollkommen. Eine Schreibmaschine, ein Bett mit Kopfkissen, nicht einmal ein Telefon braucht er.
Aber er wäre trotzdem vernetzt mit allen um ihn herum.
Kluge: Insofern ist er ein Geisteswesen, während Adorno in der Wirklichkeit sehr viel sesshafter ist. Er steckt in seinen Sinnen deutlich intensiver drinnen als Benjamin.
Eine Sache die ebenfalls fast wie ein Gegensatzpaar sich durch das Buch doch immer wieder zieht. Adorno, der Sinnenmensch und Benjamin, der Prophet.
Kluge: Mich rührt sehr, dass die beiden 1935 einen Briefwechsel hatten über das Objektive und über die Frage, ob eine gusseiserne Planetenbrücke, die Granville gemalt hat, von einem Planeten zum anderen reichen könnten. Dies hält Adorno für Kitsch. Abgesehen davon, dass es astrophysikalisch nicht möglich sei, sagt er: So etwas ist die falsche Sortierung von Utopie. Benjamin wiederum beharrt darauf, dass man solche Bilder braucht. Er hat keine Furcht davor, dass Bilder falsch sind.
So wie er auch gerne Kinderbücher gelesen hat.
Kluge: Er sagt, wenn wir Aufklärung wollen, müssen wir mindestens sämtliche Irrtümer mitnehmen. Die sind notfalls das Gegengift, vielleicht steckt auch mehr Wahrheit in diesen gesammelten Irrtümern als in den gesammelten Wahrheiten.
Eine Sache, die Sie zum Beispiel in Gesprächen mit Müller oder mit Dirk Baecker auch inständig verfolgen: Das Gift, das im Gegengift drin sein muss.
Kluge: Denken Sie nur an die Friedenspreisrede von Jürgen Habermas. Er sagte: Bei uns in Mitteleuropa ist die Säkularisierung keineswegs gelungen. Wir haben Fundamentalismus, aber wir wissen nicht, seit wann wir ihn haben. Unsere Tätigkeit, unsere Wirtschaft der Wahrheitssuche, unsere Ausgrenzungsmechanismen - darin sind wir Fundamentalisten. Und auf dem übrigen Planeten haben wir auch Fundamentalismus. Wir müssen also die Säkularisation noch einmal wiederholen. Er hat dann Religion als das definiert, "worüber nicht zu verhandeln ist". Wenn ich etwas habe, worüber ich nicht zu tauschen bereit bin, dann sei das Religion. Wenn ich also zum Beispiel etwas liebe, und ich verkaufe es daraufhin nicht, oder etwas bearbeitet habe und ich gebe es nicht weg, dann bin ich eigentlich Fundamentalist und religiös. Nicht auf einen Gott bezogen, aber auf etwas was ich nicht tauschen würde. Was ich von mir nicht trennen lassen würde. Das muss man ernst nehmen. Wenn also Wahrheit und Irrtum siamesische Zwillinge sind, wann darf ich sie operieren, wann nicht operieren? Das ist die Kernfrage in Die Lücke, die der Teufel lässt.
Rund um Benjamin und diese Insulanerfiguren gibt es in ihren Geschichten sehr viele solcher "Propheten", die, sei es durch Tätigkeiten, sagen wir Ingenieure in Tschernobyl, sei es Agenten wie der Mann der auf ewig im Gefängnis fest sitzt, eigentlich tatsächlich auf ihrer Bettstatt sitzend Kontakt mit der Aussenwelt aufzunehmen versuchen.
Kluge: Würde ich so sagen, die kommen heran. Meinetwegen der KGB-Mann, der mehr zur forscherischen Gruppe gehört, und jetzt als Förster verbannt in nordkarelischen Wäldern sitzt ...
Der glaubt, alle Ameisen blicken ihn an...
Kluge: ...blicken auf ihn so wie er vorher die russischen Bürger beobachtet hat, und er kommt von dieser Paranoia nicht weg. Aber ist so etwas eine Paranoia? Das ist eben eine wirkliche Frage.
Rund um diese Figuren ergeben sich dann Räume. Sie beginnen das Buch mit einem sehr starken Bild: Kulissen aus der Stummfilmzeit, die, auf Rollen gesetzt, auf die handelnden Personen zufahren und den Raum verengen. Wir haben es in Ihrem Werk mit sehr vielen Personen zu tun, die sich schon eingerichtet haben in verengten Räumen, möglicherweise mit einem Erfahrungsschatz, der in den jetzigen Verengungen nutzbar wäre. Diese Leute haben sich Lücken geschaffen, durch erratische Existenzformen, Argumentationsformen, auf den Kopf stellen von Irrtum und Gelingen...
Kluge: Und manches Mal geraten sie zufällig in die Lücke, was sie günstig finden. In der Geschichte Die missglückte Scheidung etwa, da ist ein Paar auf dem Weg nach Lüneburg durch die Heidewälder, um sich scheiden zu lassen. Ein Waldbrand bricht aus, im Sommer, und die Feuerwehren werden dieses Brandes nicht Herr. Das Paar wird aufgehalten, die beiden kommen sich dabei näher, kommen ins Gespräch und kehren wieder um. Die sind nicht willentlich beisammen geblieben. Es hat sich so ergeben. Ein Kapitel, an dem mir viel liegt: Die Schatzsucher. Sie wissen dass, Oskar Negt und ich uns mit dem Begriff der Arbeits- und Lebenszeit beschäftigen, und auch damit dass große Regionen wie Deutschland, Österreich, Frankreich, über 2000 Jahre wie ein Labor, wie eine Fabrik menschliche Eigenschaften schmieden. Stichwort: Ursprüngliche Akkumulation. Da kommt Knechtung von Menschen ins Spiel, aber auch eine enorme Disziplinierung, eine enorme Potenz, Auswege zu finden, Arbeitskraft zu mobilisieren...
Der schöne Satz: Macht Unglück produktiv?
Kluge: Das ist tragisch und schöpferisch gleichzeitig. Mir ist gerade in den letzten Jahren sehr aufgefallen, dass die elementaren Eigenschaften aus denen später Arbeitskraft entstehen kann, zunächst einmal ganz anders funktionieren. Mitgegeben von der Evolution ist den Menschen, vor allen Dingen den Kindern, dass sie sich der Hilfe anderer versichern. Dass sie sich mit List, Tücke, Vorspiegelung von Schmerzen, schauspielerischen Fähigkeiten, auf jede Weise die Hilfe ihrer Eltern oder Dritter verschaffen. Es ist für das Überleben günstig, wenn man das beherrscht. Insofern sind sie Schatzsucher. Sie möchten um ihrer selbst willen belohnt sein.
Meinetwegen ein NVA-Offizier, der mit ein bisschen Marxkenntnissen bewaffnet, nach dem Niedergang der DDR, in eine rheinisch-kapitalistische Familie einheiratete, sich als faul erweist, er hat eine Geliebte, er interessiert sich nicht für Bilanzen, er verhält sich einfach nicht dankbar, was doch diese Familie erwartete von ihm. Er wollte um seiner selbst Willen belohnt werden. Diese Grundeigenschaft in den Menschen, aus der kann Selbstbewusstsein entstehen, oder industrielle Arbeitskraft, aber auch etwas ganz Neues, wenn etwa Arbeitskraft und Disziplin entwickelt ist, und dann wird sie nicht mehr gebraucht. Dann wird sie unterprivilegiert. Akademisches Proletariat entsteht. Dann können daraus dann ganz unerwartete neue Phänomene entstehen. Das war bei Shakespeare der Fall. Der kommt aus einer Bildungsschwemme mit anschließendem Entlassungs- und Verarmungssyndrom. Plötzlich kann er die ungeheure Potenz, die er entwickelt hat, entladen in seinen großen Dramen, die die Jahrhunderte durchaus überleben und noch bei Heiner Müller weiter geführt werden. Da können Sie Horizonte sehen, die nicht negativ sind. Die kritische Theorie muss nicht negative Geschichten erzählen. Das würde auch Adorno nicht anders behaupten. Es gibt immer Ausgänge.
Und einen Atlas für diese Ausgänge liefern Sie mit Ihrem Buch?
Kluge: Das könnte man so sagen. Ein paar Hinweise, also das was man Navigation, Orientierung nennt, sind schon einmal gut. Und wenn Sie lediglich zwei falsche Landkarten über einander legen, dann hätten Sie immerhin Crossmapping, dann haben Sie die Zahl der Auswege, die Sie wider Erwarten finden könnten, verdoppelt. Die List beruht nicht wie einst bei Odysseus, darauf, dass einer sich was ausdenkt, sondern dass er eine Umgangsform mit glücklichen Momenten, mit glücklicher Unwahrscheinlichkeit entwickelt.
Sie würden sagen, Sie raffen alle Wanderführer der Gefühle, die Sie kriegen können, an sich, aber wenn man fünf solcher Landkarten übereinander legt, ergibt sich vielleicht ein Ausweg.
Kluge: Auf jeden Fall eher als wenn sie sich der Wahrscheinlichkeit unterjochen. Wenn Sie einen Versicherungsmathematiker fragen, dann sind wir in einer Situation auf diesem Planeten, die ist aussichtslos. Wenn Sie aber den tiefen Pessimismus der Neokonservativen im Weißen Haus, in American Enterprise Lt. und anderen Stiftungen nehmen, dann sehen Sie welche Gewaltsamkeit in Hoffnungslosigkeit versteckt sein kann. Nun können Sie nicht Hoffnungsfreudigkeit quasi illusionieren. Aber Sie können die Suche vereinfachen, verstärken. Sie können, wenn Sie so wollen, Ihr Glücksspiel betreiben. Das Zeichen Bonapartes war die Biene. Das war sein Wappen. Das ist der bürgerliche Fleiß. Eine wunderbare Natur hat die Biene, und wir wissen, was der Honig alles bedeutet für das Menschengeschlecht. Dazu gibt es in meinem Buch auch eine Geschichte, in der wird ein Fragment von Karl Marx über die Biene und Karthagos Untergang gefunden. Wenn Sie jetzt aber in ein Glas, das nur einen Ausgang hat, eine Biene setzen, dann fängt sie an, systematisch zu suchen und wird verhungern. Sie hat Vernunft im konventionellen Sinne. Eine Fliege hingegen, wirkt zuerst einmal irre, panisch. Sie wird so lange hin und her fliegen, jede einzelne Flugbewegung ist völlig irrtümlich, immer wieder gegen eine Wand, und gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit tausendfach höher, dass sie herauskommt.
Auf eine irre Weise.
Kluge: Auf eine irre Weise. Ohne dass ich jetzt ein Irresein predige. Wir nennen so etwas Ahnungsvermögen. Es ist als Schatz, als Fähigkeit in den Menschen auch in der Evolution ihnen mitgegeben worden. Es ist etwas versteckt im Objektiven, was für den Menschen günstig ist. Wie man so etwas findet, das ist eine entscheidende Überlebensfrage. [CP-vom Autor zur Verfügung gestellt.]

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