Erzählen ist die Darstellung von Differenzen

Von Jochen Rack | Quelle Neue Rundschau, Heft 1/2001 Werkgespräch | | Interviews

Alexander Kluge im Gespräch mit Jochen Rack

NEUE RUNDSCHAU: Die "Chronik der Gefühle" kann man als Ihr literarisches Lebenswerk bezeichnen, sie umfaßt 2000 Seiten, davon sind 800 Seiten in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht worden: Die "Lebensläufe", "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang", "Schlachtbeschreibung" und "Unheimlichkeit der Zeit." Welche Frage verklammert dieses Opus Magnum?

ALEXANDER KLUGE: Was eine Chronik ist, weiß man. In meiner Lebenszeit gibt es das Jahr 1945 genauso wie die Spiegelkrise von 1962, es gibt die studentische Protestbewegung, den Beinahe-Dritten-Weltkrieg Anfang der achtziger Jahre und das Jahr 1989, das zusammen mit dem Jahr 1991, in dem das russische Imperium zusammenbricht, der Welt ganz andere Konturen gegeben hat. Das sind die kollektiven Romane, die dieses Jahrhundert erzählt, auch schreckliche Romane, wie der erste Weltkrieg, der zweite Weltkrieg und Auschwitz. Und jetzt stehen wir vor einer Art Eröffnungsbilanz für das 21. Jahrhundert und fragen: Was ist eigentlich passiert? Die Funktion einer Chronik ist, daß man sich beispielsweise klarmacht: Wo war ich, als Kennedy starb? Da kann man sich entscheiden für eine objektive Chronik, eine Chronik der Ereignisse, oder eine Chronik der Gefühle, die das beschreibt, was subjektiv stattgefunden hat. Diese Subjektivität scheint mir das Dauerhaftere zu sein, das materiellere Element. Die Gefühle sind einerseits äußerst anpassungsfähig und halten sehr viel aus an Not und Leid, gleichzeitig sind sie das Hartnäckigste, das Betonähnlichste, was ich kenne, weil sie sich auch über 2000 Jahre in den Grundannahmen nicht ändern.

NR: Sie verstehen die historischen Ereignisse als Ausdruck von Gefühlslagen? Sind Gefühle eine Art Wurzelgrund dessen, was geschichtlich geschehen ist?

ALEXANDER KLUGE:
So ist es. Man sagt ja die Kelten sind überall, man sieht sie bloß nicht. Das war ein Ausspruch der Römer. So ist es auch mit den Gefühlen. Sie sind überall und an unvermuteten Stellen. Sie leben etwa in den Institutionen, die fest und dauerhaft werden, solange sie von Gefühl erfüllt sind. Das gilt genauso für die Buddenbrooks wie für eine Versicherungsgesellschaft oder das deutsche Reich. Gleichzeitig sind die Gefühle auch in Form von Irrtümern, Fehlleistungen und von Schweigen gegenwärtig. Es ist gar nicht so einfach, ein Gefühl zu entdecken und zu beschreiben, wie es sich verhält. Gefühle sind vielfältiger, reichhaltiger als der Verstand sie verstehen kann. Das Herz hat einen Verstand, das der Verstand selbst nicht versteht, sagt Pascal. So könnte das Motto über der "Chronik" lauten. Das ist nicht eine Parteinahme für oder gegen Gefühle, aber eine Aufmerksamkeitsrichtung. Was sich in den Menschen bewegt, ist tatsächlich stärker und kraftvoller als alles, was äußerlich geschieht.

NR:
Sind die Gefühle denn bisher aus der Geschichtsbetrachtung ausgeblendet worden? Verstehen Sie Ihre Arbeit auch als Korrektur etwa an einem positivistischen oder objektivistischen Geschichtsbild?

ALEXANDER KLUGE: In der Geschichtsschreibung kommen die Gefühle sicher zu wenig vor. Die Historiographen staunen dann, wenn die Gefühle plötzlich den Weg zur nationalsozialistischen Bewegung nehmen. Gefühle, um die sich keiner kümmert, die wilde Völkerwanderung betreiben, sind gefährlich. Es ist nicht so, daß ich Gefühle feiere, ich möchte nur, daß man sie wahrnimmt. Es geht auch nicht um Innenwelten, sondern um die Gefühle, die man im gebauten Stein wiedererkennen kann - und zwar nicht nur in Denkmälern. Unsere Häuser sind Gefühl als umbauter Raum.

NR: Ernst Bloch hat mit seinem Buch Erbschaft dieser Zeit in den dreißiger Jahren versucht, verschüttete oder vergessene Gefühle aufzugreifen und zu erklären, wie diese Gefühle, die vielleicht einmal auf ursprüngliche Solidarität hin orientiert waren, eingewandert sind in den Faschismus. Verstehen Sie Ihre Arbeit im Anschluß an dieses Projekt?

ALEXANDER KLUGE: Da können Sie sicher sein, aber die Verwandtschafts- und Herkunftslinie hat noch eine Variante, die den Abstand zwischen Ernst Bloch und Theodor W. Adorno berücksichtigt. Ich komme stärker von Adorno her. Er würde kein Buch mit dem Titel "Prinzip Hoffnung" veröffentlicht haben, doch zugestehen, daß man ohne Hoffnung nicht leben kann, selbst wenn wir sie auf Kosten der Wahrheit produzieren. Der schönste Irrtum, mit dem Lebewesen allgemein überlebt haben auf der Welt, ist das Urvertrauen. Jedes Lebewesen bekommt ein Pfund davon bei seiner Geburt mit, auch jedes Tier hat dieses Urvertrauen. In der Evolution haben jene Lebewesen überlebt, die in den ersten Jahren ihres Daseins glauben, daß die Welt es gut mit ihnen meint. Betrachtet man unser Jahrhundert, ist das sicher ein großer Irrtum. Die Welt meint es nicht gut mit den Toten von Verdun, sie meint es nicht gut mit den Holocaust-Toten. Insofern läßt sich ganz objektiv sagen: Dies ist Ideologie, ein Irrtum, ein wunderbarer Irrtum allerdings, der Kräfte gibt. Das würde auch Adorno unterschreiben. Darum heißt mein letztes Kapitel in der "Chronik der Gefühle" - "Der lange Marsch des Urvertrauens".

NR:
Das klingt so als seien diese elementaren Emotionen anthropologisch im Menschen fixiert. Woher nehmen Sie denn diesen "Irrtumsglauben", dass das Urvertrauen derart tief im Menschen verankert ist?

ALEXANDER KLUGE: Da müßte ich mich auf meine persönliche, biographische Erfahrung berufen. Mein Vater war Geburtshelfer und Arzt, sehr viele Geburten fanden in unserem Haus statt. Ich kann beobachten, daß ein Urvertrauen existiert, nicht nur beim Menschen, sondern bei jedem Tier. Trotzdem gibt es keinen Grund zu viel Hoffnung. Gerade das erwähnte Kapitel "Der lange Marsch des Urvertrauens" zeigt ja fürchterliche Dinge. Das Urvertrauen existiert nur in Spurenelementen. Und solche Elemente wandern wie bei einem Exodus. Sie bilden eine zerstreute Herde. Allerdings zeigen sie sich deutlich in der invarianten Fähigkeit des Menschen zur Veränderung. Die Lebensläufe bestehen aus Metamorphosen, sie bezeugen, daß sich Personen fast vollkommen ändern können. Harte, moralische Personen ebenso wie Opportunisten können das gleichermaßen. Das hat mich immer gewundert.

NR:
Wie finden diese Gefühlsumstellungen, solche Metamorphosen statt? Besteht Ihr Aufklärungsimpuls darin, Umstände zu beschreiben, in denen Gefühle neu organisiert werden?

ALEXANDER KLUGE:
Ich betrachte mich als jemand, der nach der Beendigung von Bürger- oder Religionskriegen über die Arten des Irrtums und der rotierenden Gefühle eine Sammlung anstellt, die sich mit den Sammlungen anderer - zum Beispiel denen eines Montaigne oder Michel Foucault - verbinden läßt. Es geht mir darum, Gefäße, Kisten, Röhren, Ampullen in einem Archiv bereitzustellen, in denen man Erfahrung aufbewahren und prüfen kann. Mein Buch liefert historische Momentaufnahmen, ein riesiges Lager von Beispielen und Lehrstücken.

NR:
Es gibt ja - Sie haben Adorno schon erwähnt - in der Dialektik der Aufklärung die Analyse, daß Gefühle im geschichtlichen Verlauf an den Abstraktionen der instrumentellen Vernunft scheitern. Horkheimer und Adorno führen diese These am Beispiel der Odyssee aus und behaupten, daß Odysseus seine Gefühle abtöten muß, um sich von mythischen Mächten zu emanzipieren. War das zu pessimistisch gedacht?

ALEXANDER KLUGE: Nein. Sie beschreiben da meine Höhle: die Dialektik der Aufklärung ist mein Grundbuch, auf das ich eingeschworen bin. Selbstunterdrückung ist verlangt, will der Mensch zwischen Skylla und Charybdis hindurchfahren und heimkommen. Und damit ist zugleich die Versklavung anderer und des eigenen Inneren verbunden. Die Gefährten des Odysseus, die im Schiff rudern müssen, sind ja in Wirklichkeit Sklaven, keinesfalls Ritter. Wenn wir das auf unser Land beziehen, muß man hinzufügen, daß unsere Vorfahren in den mittelalterlichen Bauerngehöften, in der Zeit vor den Bauernkriegen, nicht die Möglichkeit besaßen, auf einem Schiff dem Zyklopen zu entkommen. Sie waren seßhaft. Deshalb entspricht bei uns eher das Märchen von den SIEBEN GEIßLEIN dem, was für seefahrende Griechen die ODYSSEE ist. Da werden die elementaren Fragen gestellt: Wen darf ich hereinlassen, wen darf ich auf keinen Fall hereinlassen? Wen muß ich aus dem Haus ausschließen? - Das machen ja die Zicklein zuerst falsch, sie lassen den Wolf herein, so wie wir 1933 Hitler hereingelassen haben. Und dann geschieht umgekehrt das Wunder, daß die Zicklein unversehrt wieder aus dem Bauch des Wolfes hervorkommen. Das sind kontinentale Varianten desselben Versuchs, Sicherheit zu gewinnen: "Wie kann ich mich schützen? Was muß ich fürchten? Was hält freiwillige Taten zusammen? Worauf kann ich vertrauen?" Auf die Ziegenmutter und ihre Pfote darf ich vertrauen, man kann diese Pfote allerdings fälschen, kann Mehl auf die Wolfspfote streuen. Das sind Grundprobleme, die in der Odyssee anders als in diesen Märchen behandelt werden. Es ist jedoch die gleiche Auseinandersetzung - das Gefühl wird sich vom Mythos beherrschen lassen, bis der Verstand das Gefühl emanzipiert, indem er es unterdrückt. Aus dieser Dialektik muß es einen Ausweg geben.

NR:
Ist die Funktion Ihrer Geschichten, die Produktionsweisen von Gefühlen vorzuführen? Belehrte Gefühle würden also nicht in diesen tragischen Zirkel geraten?

ALEXANDER KLUGE: Sie treffen da genau den Kern und doch besteht keine wirkliche Differenz zur Dialektik der Aufklärung. Wenn Sie Spuren der Gefühle suchen und mit den Mitteln poetischer Arbeit genau beobachten, dann erfahren Sie, daß diese Gefühle sehr vielfältig sind und Ovidsche Metamorphosen perfekt beherrschen, viel perfekter als der moralische Charakter, der Verstand oder die Gesellschaften. Ein Lebewesen, das etwas nicht mehr aushält, wandelt sich. - Von daher kennen die Gefühle so viele Auswege, sind gegenüber dem Mythos tatsächlich immer schon Partisanen gewesen und verhalten sich gegenüber jener Vernunft, die den Mythos ablösen möchte, auch wie Partisanen, sind also fähig zum Widerstand. Homers und Adornos Aufmerksamkeit liegt auf der Szene, in der beschrieben wird, wie nach dem Sieg des Odysseus die Mägde hingerichtet werden: die Füße einer Magd zucken noch. Ich habe mindestens zwanzig Geschichten geschrieben nur im Blick auf diese Geschichte. Die Geschichte "Ungeschick mit Todesfolge" zum Beispiel beschreibt, wie im Russlandkrieg ein deutscher Generalstabsoffizier benachrichtigt wird, daß Juden umgebracht worden sind, die Kinder der Juden aber nicht. Sie irren umher, sitzen in Kellern und hungern. Und jetzt wendet sich der Offizier, will sie versorgen und schützen. Und diese Absicht wird ihm von der Einsatzgruppe und von den Vorgesetzten abverhandelt, er begeht kleine Fehler gegenüber dem militärischen Komment, und ihm gelingt die Rettung nicht. Das ist eine Wiederkehr der Geschichte Homers. Das bittere Wissen über die ermordeten Mägde bleibt im Bewußtsein. Solche Reminiszenzen bilden die Gefühlsarmee, die Partisanengruppe, die als Spurenelement auch in uns lebt.

NR:
Das wäre wieder diese anthropologische Hoffnung, daß das plebejische Gewimmel der Gefühle sich nie vollständig von der Logistik der Vernunft unterwerfen läßt.

ALEXANDER KLUGE:
Nie. Obwohl die Gefühle, die dazu verurteilt sind, sich meistens nur individuell zu äußern, immer wieder eine Niederlage in der Feldschlacht gegen die organisierte Vernunft vieler erleiden. Das von einer Obrigkeit, einem Medium, einer Partei, einem Staat organisierte Gefühl ist ja nicht mehr emanzipatorische Masse, sondern die stärkste Unterdrückungsmasse, die es gibt. Jeder Krieg lebt von der Stärke solch organisierter Gefühle. Da steht etwa das Gefühl einer Frau im Keller, die Strategie von unten betreibt, gegen die im Bomberkommando steckende, als fliegende Fabrik wirksame Gefühlsmasse. Den Männern, die im Flugzeug sitzen, wird das Bombardieren eher unheimlich oder gleichgültig sein, doch um das Pulver zu erfinden, das Fliegen, um überhaupt industrielle Disziplin zu erfinden, braucht man eine Menge Gefühlsquanten, wie sie in so einem Bomberkommando eingebaut sind. Auch wenn diese Kommandos zunächst übermächtig scheinen, kann auf lange Sicht die bittere Erfahrung eines Bombenangriffs eine starke Kraft für und in der Suche nach einem Ausweg sein. Der Ruhm eines Bomber-Harris muß nicht überleben, der Bombenkrieg kann irgendwann geächtet werden. Das sind sehr komplexe Bewegungen. Bei Richard Wagner heißt es: "Ach ohne Hoffnung, wie ich bin, geb` ich der Hoffnung doch mich hin." Und in der "Chronik der Gefühle" heißt eine Geschichte: "Wer immer hofft, stirbt singend." Sie müssen also die dialektische Bewegung, die Adorno und Horkheimer artikulieren, auch auf den Hoffnungsbegriff beziehen. Sie entgehen ja dem Unheil nicht, während Sie hoffen.

NR:
Aber die Hoffnung wäre eine Funktion des Eingedenkens der Opfer und würde dadurch immer wieder erzeugt.

ALEXANDER KLUGE:
Sie ist ein von Menschen permanent herstellbarer Horizont. Franz Kafka, ein anderer Kronzeuge, beschreibt im Bericht für eine Akademie wie vom Horizont ein Sog ausgeht, der den Affen an der Ferse berührt, was ihn davon überzeugt, daß es etwas außerhalb seiner gibt, worauf er seinen Egozentrismus bauen kann.

NR:
In einer Geschichte der "Chronik" soll eine Pflegerin ein Kind, das ihrer Fürsorge anvertraut war, an die Adoptiveltern übergeben. Weil aber gerade ein Umzug stattfindet, nimmt sich die Hausherrin nicht die Zeit, die Instruktionen dieser Pflegerin entgegenzunehmen. So verläßt sie das Haus wieder mit dem Kind.

ALEXANDER KLUGE:
Das ist Produzentenstolz. Von dieser Art Geschichten finden Sie mehrere in meinem Buch. Die Eltern sind verunglückt, das Kind wird in Pflege gegeben, die Pflegerin fühlt sich verantwortlich für das Kind, und die Arbeit an dem Kind gelingt ihr. Das Leben eines solchen Kindes besteht aus Schlafritualen, Vorlieben, was es ißt, usw. -, die Arbeit der Pflegerin an dem Kind ist eine der sorgfältigsten Arbeiten, die es gibt. Das fängt mit der Hebamme an, und geht mit einer Kinderfrau weiter. Daß das Kind zu Erziehungsberechtigten kommt, die keine Zeit haben, verletzt ihren Stolz, und sie nimmt das Kind wieder mit. Sie liefert ihre Arbeit nicht jemandem aus, der mit ihrer Arbeit nichts anfangen kann. Arbeit hat ja ein eigenes Gefühl. Wir sprechen immer so, als ob es hauptsächlich auf die Gefühle in Beziehungen ankäme, weil die Romancharakter haben und in der Literatur immer wieder erzählt werden. Aber in der Arbeitswelt können sich ein chinesischer und ein deutscher Arbeiter sehr leicht über das Feingefühl verständigen, mit dem man eine Schraube befestigt. Von diesem Fingerspitzengefühl handelt die Geschichte mit der Pflegerin. Das ist die mimetische und handwerkliche Seite des Gefühls, das Können des Gefühls. Ein Chirurg hat das auch, eine gebremste Zerstörungskraft äußert sich als Feingefühl. Solche Gefühle beschäftigen mich am meisten. Die romantischen Gefühle, wie sie Opern und Romane bevölkern, sind nur eine Art des Gefühls, eine im Alltag allerdings seltenere, während der Arbeitsprozeß mit vielen Gefühlen verknüpft ist, die dem Können und dem Selbstbewußtsein angehören. Das ist auch der Grund, warum jemand ein Autor sein will und sich weigert, den Verleger seine Romane verbessern zu lassen. Poetische Arbeit nur als Dienstleistung für Werbetreibende hat etwas Sklavisches.

NR:
Das Fingerspitzengefühl ist ein aufklärbares, vernünftiges, zweckdienliches, lenkendes Gefühl. Aber es gibt auch Geschichten in Ihrem Buch, die gerade von der Unaufklärbarkeit, von den blinden Flecken der Gefühle im Menschen handeln. In der Geschichte "Befähigung zum Richteramt" wird von einer Frau erzählt, die einen Mann ohne offensichtliche Absicht erschossen hat. Ihre Tat ist aber auch kein bloßer Zu- oder Unfall. Das Gerichtsverfahren versucht verzweifelt, die Motivationslage der Frau aufzuklären, doch bleibt eine unauflösliche Aporie. Mich hat der Fall an Robert Musils Geschichte vom Mörder Moosbrugger im Mann ohne Eigenschaften erinnert. der ähnlich wie diese Frau in der Motivation seiner Taten nicht ganz durchsichtig wird. Der Richter möchte Moosbrugger gerne seine Schuld nachweisen, geht also von einem konzisen Subjekt aus, dem er einen freien Willen und mithin Schuld zuschreiben kann, während Moosbrugger seine Taten als "Vögel, die herbeifliegen", wahrnimmt, als etwas von Außen auf ihn Zukommendes. Offenbar gibt es Grenzfälle bei allen Versuchen, Motivationen und Gefühlslagen transparent zu machen.

ALEXANDER KLUGE: Von der Sprache her, vom Verständnis anderer her. Für den Menschen selbst sind diese herbeifliegenden Vögel - diese Mischung aus Zufall und Antwort, mit der er lebt - etwas, das er selber verstehen, unter Umständen allerdings sprachlich nicht wiedergeben kann. Mir als Juristen ist das in Strafverhandlungen immer wieder aufgefallen, diese enorme Differenz zwischen einem konkreten Tatbestand und den ohnmächtigen Versuchen, die Situation sprachlich wiederzugeben.

NR: Es zeigt auch, daß Gefühle nicht zentristisch an ein Ich angehängt sind, sondern vielleicht ähnlich wie in der Antike bei Homer gewissermaßen ihr Eigenleben entfalten. Zum Beispiel bei Achill, dessen dezentriert im Knie sitzende Kraft seine Taten bestimmt. Daraus ergeben sich Rätselgeschichten, die dunklen Flecken in unserem Handeln.

ALEXANDER KLUGE: Das hat die Dichter immer beschäftigt. Man findet es bei Ovid genauso wie bei Robert Musil oder Heinrich von Kleist. Es sind Geschichten, die sich wie Cousins nebeneinander drucken ließen. Dabei gibt es zwei Gruppen, diese analytischen, beobachtenden, die auf die Wertedifferenz achten und sagen: Die Hoffnung beruht nicht darauf, daß es Wilhelm Meisters und große Persönlichkeiten gab, sondern darauf, daß es zu Gefühlsverwirrungen kommt, das Gefühle anschwellen und existieren. Das Kaleidoskopartige des Menschen erzeugt das Polizeibatallion 102, aber es kann auch die Rettung herbeiführen. Durch ein Mißverständnis beispielsweise bleibt ein Befehl stecken. Bert Brechts Exempel: Die Bombe wurde schlampig geschmissen und fiel aufs Feld. Da kommen die Eigenschaften "Trägheit, Verirrung, Irrtum, Egoismus und Faulheit" zum Tragen. Es ist ja ein Abklopfen dieser von der moralischen Betrachtung zu getrennten Parteien organisierten Gefühle auf ihre vielfältigen, weiteren Möglichkeiten hin, das herauszufinden versucht, wie sich ohne Absicht ein emanzipatorisches Potential sammelt.

NR:
Worauf dürfte sich denn die menschliche Hoffnung stützen, diese Gefühle im emanzipatorischen Sinn zu lenken? Ist in Ihren Geschichten nicht auch eine Skepsis formuliert gegenüber allzu hehren Projekten menschlicher Selbstdefinition?

ALEXANDER KLUGE:
Man kann Gefühle nicht "lenken". Daß man ein einzelnes Gefühl "erziehen" kann, täuscht darüber hinweg, daß der Eigenwille der Gefühle in deren Vielfalt und Vernetzung seinen Grund hat. Das macht sie insgesamt unbeherrschbar und autonom.

NR:
Die Titelgeschichte aus dem 7. Kapitel Ihres Buches "Wie kann ich mich schützen? Was hält freiwillige Taten zusammen?" erzählen Sie in Form einer Bildergeschichte. Sie scheint nahezulegen, daß es so etwas gibt wie einen Automatismus menschlichen Handelns unterhalb einer rationalen Ebene, gleichsam "selbstvergessen", ohne Rekurs auf Moral, Bewußtsein und Wille.

ALEXANDER KLUGE: Selbstvergessenheit und Hingabefähigkeit scheinen in den Menschen eingewurzelt zu sein. Kein Herrschender kann das motivieren. Wenn Eltern sich vor den Traktor schmeißen, der ein Kind zu überfahren droht, und das Kind retten; wenn eine Mutter ein Auto von vier Tonnen Gewicht für einen Moment hochhebt, um ihr Kind zu befreien, dann zeugt das von Kräften, die älter sind als ein Lebenslauf, die wahrscheinlich von früher her kommen und den Menschen nur durchströmen. Und diese Kräfte sind eigentümlich hilfsbereit, gutartig, einsatzfreudig, eben hingebend. Das gibt es nicht nur in der Liebe. In der Liebe ist der Egoismus - etwa bei Tristan und Isolde - viel stärker als im gewohnten Leben. Anders in folgendem Beispiel, das ich in meinem Buch anführe: "Und setzest du nicht dein Leben ein, so wird es dir nicht gewonnen sein: Sigrid Berger hat unter Lebensgefahr Ecke Gneisenaustraße ein fünfzig Zentimeter großes Hündchen gerettet. "Warum", fragt Frau Schaffner, "hast du dein Leben riskiert?" Frau Berger hat es ohne nachzudenken getan. "Etwas Lebendiges wimmerte, da hat sie den Kopf verloren." Der gesunde Menschenverstand könnte der Frau fast einen Vorwurf machen. Aber es handelt sich offenbar um eine Art Unterströmung, die den Menschen durchläuft.

NR:
Jemand fällt ins Wasser und der Retter springt, ohne zu überlegen, hinterher und zieht ihn heraus.

ALEXANDER KLUGE: Der Luftangriff auf Halberstadt spielt bei mir eine große Rolle, deshalb habe ich diese Beispiele genommen, aber ich könnte sie aus jedem anderen Bereich nehmen, in dem es im Ernstfall um Tod und Leben geht. Nur dort kommt diese interne Spontaneität, die Selbstorganisation der Gefühle beweisbar vor. Ein Feuerwehrmann zum Beispiel, von dem ich erzähle, fährt an seinem eigenen Haus vorbei, sieht, daß es zerstört ist, aber er fährt nicht hin, um erst die Angehörigen zu retten, sondern er fährt mit seiner Truppe löschen, und dann sieht er zu Hause nach und - Gott sei dank - sind seine Angehörigen nicht tot. Hier ist die Gefühlsreserve, die im Alltag nicht aktivierbar ist, in der Organisation selbst enthalten, sie steckt in der Loyalität des einen zum andern. Ich kann nicht plötzlich aussteigen und die anderen fahren lassen. Ich verhalte mich nicht privat.

NR: Sie geben ein anderes Beispiel zu diesem Thema: Eine sowjetische Löschtruppe in Kiew fährt aus der von den Deutschen eroberten, brennenden Stadt heraus und kehrt dann durch die deutschen Linien in die Stadt zurück, um zu löschen.

ALEXANDER KLUGE: Diese Wahrnehmung ist mir wichtig. Vorher, als sie gelöscht hatten, waren sie beschäftigt mit dem Detail, jetzt sind sie außerhalb der Stadt. Diese Löschtruppe, eine Brigade, die nur zum Löschen von Großfeuern geeignet ist, kann das Ganze der brennenden Stadt übersehen. Und jetzt setzt ein Gefühl ein - diese Stadt lassen wir nicht verbrennen. So fahren sie durch die deutschen Linien hindurch zurück, quasi in eine Falle. Aber die technischen Geräte steuern sie, das Know-how führt sie, so hat man es gelernt. Es ist eine moralische Kraft, die diese Brigade lenkt.

NR:
In einer Art Automatismus der Moral, die in der Logistik der Geräte liegt?

ALEXANDER KLUGE: So ist es. Wie Störtebecker noch einen Teil seiner Gefährten rettet, nachdem ihm der Kopf abgeschlagen ist, so werden die Gefährten, an denen er vorbeirennt, begnadigt. Darin ist eine Gefühlsreserve enthalten, wenn Sie so wollen: ein Automatismus. Das aber ist das eigentlich Menschliche. Mich interessiert die Komik sehr, die entsteht, wenn die Betroffenen danach, anläßlich ihrer Auszeichnung als gute Beispiele für andere, sagen: Das waren wir gar nicht, wir haben nicht nachgedacht, wir haben einfach gehandelt.

NR:
Ein weiteres Beispiel aus Ihrem Buch zeigt einen Fall, der mir im Widerspruch zu den eben genannten Geschichten zu stehen scheint. Das ist die Geschichte mit der Überschrift "Abbau eines Verbrechens durch Kooperation." Hier wird auch eine Krisensituation geschildert. Eine Prostituierte findet einen offenbar Erschlagenen in ihrer Wohnung und versucht den Mann zusammen mit ihrem Zuhälter aus ihrer Wohnung zu entfernen, ohne die Polizei zu rufen - und zwar aus kalkuliertem Eigennutz, nicht spontan, sondern sehr überlegt und klug. Das führt am Ende dazu, daß der vermeintlich Erschlagene doch kuriert wird und tatsächlich überlebt.

ALEXANDER KLUGE:
Das sind die heranfliegenden Vögel des Zufalls. Und die sorgen dafür, daß das Feingefühl der Prostituierten, ihr Fingerspitzengefühl, einen Toten erweckt. Womit schließlich allen geholfen ist. Insofern ist diese Feier der Kooperation die Feier eines vernünftigen Vorgehens, die vernünftige Wahrung eines Eigeninteresses. Das Wegschaffen des Toten wird sozusagen vom lieben Gott belohnt, so wie bei Philemon und Baucis. In diesem Sinne glaube ich an die Götter. Ich denke, daß in den menschlichen Taten Belohnungen von früher her stecken. So wie tief unten in den Menschen Vorräte an Vernunft, Hingabebereitschaft, Treue usw. stecken, so stecken auch in seinen fortgeschrittensten Leistungen diese Gefühle. Die sind natürlich das Gegenteil eines Automatismus. Wo das jeweilige Gefühl liegt, ist mir egal, aber wenn es zur Emanzipation, zum Eigenbau des Menschen beiträgt, dann werde ich es finden und kennzeichnen.

NR:
Ob Gefühle sich durchsetzen können, hängt aber auch von der jeweilige Situation ab. In Ihrem Buch Schlachtbeschreibung haben Sie das Scheitern des deutschen Russlandfeldzuges aus dem Widerspruch zwischen den Gefühlen der Soldaten und ihrer Verlorenheit in der Weite des russischen Landes erklärt. Sie führen dieses Thema in der "Chronik" im Kapitel "Heidegger auf der Krim" fort und zeigen, wie sich Gefühle verirren.

ALEXANDER KLUGE:
Da geht am Ende das eine Bein zurück zur Heimat und das andere Bein nach vorwärts zum Feind hin. Das liegt daran, daß die Gefühle keinen Grund finden, in dem eroberten Land zu siedeln. Wenn man jedem Ritterkreuzträger ein Gut auf der Krim und den Volksdeutschen eine Umsiedelung in ein herrliches Land versprochen hätte, wäre ein Raubzug etwas Interessantes gewesen. Wie bei der Völkerwanderung, als die Goten Oberitalien eroberten und jedem ein Landgut in Aussicht gestellt worden war.

NR:
Aber die deutschen Landser wollten das gar nicht, genauso wenig wie in der Parallelgeschichte die französischen Soldaten unter Napoleon die Weite Ostpreußens oder Rußlands in Besitz nehmen wollten.

ALEXANDER KLUGE:
Darin täuschen sich Gefühle überhaupt nicht. Wird Ungewolltes versprochen, kann keine Propaganda der Welt sie bewegen.

NR:
Aber die Führer täuschen sich.

ALEXANDER KLUGE:
Die Führer täuschen sich, und die Befehlssysteme bedeuteten für den einzelnen konkret, daß er beispielsweise seine Heimat und seine Familie im Allgäu nur erhalten kann, wenn er in Südrussland herummarschierte und etwas Absurdes tat. Eine solche Dislozierung oder Gefühlszerrung hat aber nur solange Bestand wie der Gegner diese Verbindung nicht bedroht. Sobald das geschieht, gehorcht der Einzelne nicht mehr, und kein Befehl bringt diese Soldaten wieder zum Stehen. Die Implosion der sechsten Armee in Stalingrad hat mich berührt, unabhängig davon, daß mich das als Kind erschüttert hat, wenn die Eltern davon berichteten. Es stehen ja tatsächlich nicht mehr Russen in der Schneelandschaft als deutsche Soldaten im Kessel, eigentlich ist keine Überlegenheit der russischen Armee vorhanden. Aber das Gefäß, in dem sich die deutschen Soldaten aufhalten, ist ohne Hoffnung. Sie verlieren erst die Hoffnung, dann die Schlacht, dann ihr Leben.

NR: Jenseits der militärischen Logistik gibt es eine Logistik der Gefühle, und Führer, die diese Logistik nicht beachten, müssen scheitern.

ALEXANDER KLUGE:
Sie verlieren die Loyalität ihrer Untergebenen. Das ist im Rolandslied so, und das ist in Stalingrad so und galt auch für die letzten Legionen der Römer an der Donaugrenze.

NR:
Die von uns diskutieren Beispiele zeigen, daß es sehr unterschiedliche, einander widersprechende Gefühlslagen gibt, die in den von Ihnen erzählten Geschichten eingefangen und widergeben werden - mitsamt der Widersprüchlichkeiten. Das führt mich zur Frage nach dem Aufbau und der Form der "Chronik der Gefühle". Sie haben in einem früheren Buch Ihre Poetik einmal in Anlehnung an Adorno mit dem Titel "Geschichten ohne Oberbegriff" bezeichnet: Ist denn die Entscheidung, in dieser abgerissenen Form zu erzählen, in der Tradition der Kritischen Theorie begründet?

ALEXANDER KLUGE: Absolut. Es gibt verschiedene Herleitungen. Das eine ist alle orale Kommunikation, also das, was an der Theke in Oberhausen oder Halberstadt geredet wird. Das sind kreisförmige oder kugelförmige Gespräche, die immer wieder auf ähnliche Dinge zurückkommen, aber niemals auf dasselbe. Aber es sind keine linearen Erzählungen, die einen Aufstieg oder Abstieg beschreiben. Stellen Sie sich einen Erzähler im Zentrum einer Kugel vor, der alles erzählt, was um ihn herum ist, als ob er einen Sternenhimmel beschriebe, gesehen vom Zentrum der Erde. Sie müssen sich außerdem noch vorstellen, daß sich das alles in Bewegung befindet, die Horizonte wechseln, die Kugel behält nicht ihre Gestalt und der Erzähler wandert und ist nicht immer derselbe. Die Erzählung ist also komplexer, dynamischer und chaotischer - ähnlich ist der Talmud gebaut: Sie haben in der Mitte die heilige Schrift, die ist der Erzähler, die ist unveränderlich. Darum herum haben Sie die Genara, das sind die zugelassenen Deutungen, die Aussagen der großen Rabbis, die unbestreitbar sind. Und darum herum verzweigen sich nach allen Richtungen die Kommentare. Wenn Sie ganz am Rand angekommen sind, dann sind Sie gleichzeitig im Zentrum und an der Oberfläche. Das Internet wird in seinen glücklichen Momenten auch einmal so arbeiten. Diese Erzählstruktur liegt auch den Äußerungen der Kritischen Theorie zugrunde. Adorno schreibt im Gestus von Fragmenten. Die Ellipse ist aber auch einfach die Erzählform, die ich liebe. Sie ist eine Grundform des epischen Erzählens. Ich habe da genug Vorbilder: Ovids Metamorphosen oder Homers Erzählweise in der Ilias. Alle großen Erzählungen sind so gebaut. Die lineare Erzählung ist eine Ausnahme und eine Idee des 19. Jahrhunderts. Indem sie konsequent von A nach B, entlang eines roten Fadens erzählt, drückt sie alle Nebensachen weg, sie ist eine Hauptstraßen- eine Autobahnstrategie. Wohingegen das Gehen auf Pfaden und Gartenwegen, das Ahnen, Wandern und Spazierengehen nach anderen Richtlinien funktioniert.

NR:
Das verlangt natürlich vom Leser sehr viel Eigenleistung. Er muß sich bei der Lektüre, im Durchqueren, Durchwandern dieses Werkes seinen eigenen roten Faden weben.

ALEXANDER KLUGE:
Es verlangt einen Vertrauensvorschuß. Erzählen ist die Darstellung von Differenzen.

NR: Es gibt die horizontale Aufeinanderfolge der Geschichten innerhalb einer Zeitebene, aber auch eine vertikale Beziehung von Geschichten zwischen verschiedenen Zeiten. Wenn Sie etwa eine Geschichte aus der Gegenwart der Wendezeit erzählen, zitieren diese Geschichten immer auch andere Geschichten aus der Vergangenheit. So entstehen nicht nur Interferenzen und Muster innerhalb einer Zeitebene, sondern auch Überlagerungen durch die Zeit hindurch. Ist das eine Parallele zu Walter Benjamin, der in seinen geschichtsphilosophischen Thesen ja die Idee entwickelt hat, daß jede Zeit andere Zeiten herbeizitiert, die französische Revolution beispielsweise die römische Antike?

ALEXANDER KLUGE:
Es ist nicht so, daß die französische Revolution zufällig auf die Römer zurückgreift und Cato spielt. Daran zeigt sich vielmehr, daß die französische Revolution etwas Anderes betreibt, als sie zu tun vorgibt. Sie gibt vor, die Emanzipation der Menschen zu befördern, in Wirklichkeit schafft sie eine Nation um Paris herum, ein Gewaltwerkzeug, das Europa unterwirft. Sie schafft die Gewerbefreiheit im Namen der Brüderlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit. Und die Differenz zwischen Idol und politischem Tun verdeckt sie durch den Rückgriff auf die Römer. Darum geht es Marx und Benjamin.

NR:
Bei der Lektüre Ihres Buches fällt auf, daß es durch Leitmotive verklammert ist, eines davon sind die Operngeschichten. In einer Erzählung definiert eine Figur die Oper einmal so: "Das Grundschema der Oper besteht darin, daß die Leidenschaft das Verständnis überwältigt, und das Verständnis die Leidenschaft abtötet." Das erinnert wieder an die Passage in der Dialektik der Aufklärung, wo die Fahrt des Odysseus an den Sirenen vorbei kommentiert wird. Odysseus läßt sich an den Mast fesseln - also seine Leidenschaft durch Einsicht zügeln -, um nicht der Lockung der Sirenenmusik zu verfallen. Die Sirenen nämlich sitzen zwischen den gebleichten Knochen derer, die ihrem Ruf folgten: Wer sich der Leidenschaft überläßt, endet tödlich. Weshalb spielt denn die Oper als Gefühlsmaschine eine so große Rolle in Ihrem Buch?

ALEXANDER KLUGE: Zunächst muß man etwas ernst nehmen, das mehr als ein Jahrhundert zum höchsten Kunstwerk erklärt wurde - von Mozart über Richard Wagner bis Alban Berg. Es ist alles andere als ein Zufall, daß sich dieses Bedürfnis der Menschen nach einem neuen Altar, einem nicht-religiösen Altar äußert. Ich habe ein Leben lang Opern studiert, weil mein Vater ein Opernfanatiker war. Und es hat mich gewundert, daß in den Opern Auswege nie benutzt werden, daß der Ernstfall nicht auch als Glücksfall darstellbar ist. Es gibt Versuche, zum Beispiel die Iphigenie, wo die Oper versucht, eine glückliche Wende aufzubauen. Auch in den Meistersingern wird mit viel brachialer Gewalt der Ausgang ins Gute gewendet.

NR: Auch in Fidelio...

ALEXANDER KLUGE: Mit sehr viel Brachialgewalt. Aber tatsächlich ein glücklicher Ausgang. Es ist aber in der Deutung der Stuttgarter Staatsoper sehr modern gewendet, wenn dort die Inszenierung tödlich endet. Im Augenblick der Befreiung wird - anders als wir es 1989 erlebten - geschossen. Mein Anliegen in den Operngeschichten ist es, die Lücke zu finden, in der das Unglück unterbrechbar wäre.

NR:
Wo wäre diese Lücke zu finden?

ALEXANDER KLUGE: Man muß bei Skylla und Charybdis die Gebeine genau studieren. Man muß die Geschichten dieser Toten rekonstruieren, um herauszufinden, an welcher Stelle sie einen anderen Weg hätten einschlagen können. Odysseus geht ja sehr vorsichtig vor. Er zeigt uns, wie man als emanzipierter Heimkehrer vorgehen muß. Er verkleidet sich, kommt als alter wehrloser Mann nach Hause. Und Schritt für Schritt überzeugt er sich, daß hier kein Agamemnon geschlachtet wird, daß sein Sohn kein Verräter ist, um dann erst die Freier zu erschießen. Ein langer Weg der Heimkehr.

NR: Welche Bedeutung hat dann die Aufklärung über die Macht der Gefühle, die die Oper liefert?

ALEXANDER KLUGE: Sie liefert eine Scheinaufklärung, eine Verdichtung von irrtümlichen Annahmen über den Automatismus des Bösen, eine falsche Ansicht über die menschliche Natur. Ich kann diese falsche Ansicht aber nicht dadurch ändern kann, daß ich sage: So ist es nicht. Ich muß bei der Destruktion dieser pessimistischen Klagemaschinerie Oper die Lust einbeziehen, die sie bereitet. Auch ich bin verführbar durch Opern. Die Musik tröstet ja die ganze Zeit, während das Schreckliche sich ereignet. Durch Ironie oder Zynismus würde das Schreckliche noch stärker eingedickt. Opernwerke dissipieren deshalb den Schrecken, sie "zerstreuen" durch die Art, wie die Musik Trauerarbeit leistet.

NR:
Kommen wir zurück auf die Frage nach den in der Geschichte wirkenden Gefühlskräften. Gorbatschow ist eine der Leitfiguren in den Geschichten, die sich mit den "Verfallserscheinungen der Macht", der Wende und dem Zusammenbruch der Sowjetunion beschäftigen. Sie erzählen hier die Geschichte, daß Gorbatschows Tatkraft auf der Konferenz von Madrid im entscheidenden Moment gelähmt zu sein schien und versuchen, diese Schwächung der Tatkraft, die auch an anderen Figuren immer wieder thematisiert wird, in Zusammenhang zu bringen mit einer Theorie der Götter. Wie ernst meinen Sie diese Geschichten wirklich, in denen im entscheidenden Moment Götter auftauchen?

ALEXANDER KLUGE: Ganz ernst. Ich kann keinen Unterschied finden zwischen dem, was von der subjektiven, erzählenden Seite her vor 2500 ein vertrauenswürdiger Text ist und dem, was heute auf vertrauenswürdige Weise ausgewählt werden kann. Ich halte das für konsistent. Ich kann mir vorstellen, daß wir in mehreren Universen gleichzeitig leben, ohne das zu bemerken. So ähnlich wie die Quantenphysik Zustände beschreibt, die nur dann einen Sinn machen, wenn man davon ausgeht, daß quer durch unsere Realität eine zweite Realität hindurchzieht. Das ist für meine Beobachtung nichts Fremdes. Nur alle Wirklichkeiten zusammen genommen, zehn oder zwölf Aggregatszustände, bilden ein wirkliches Verhältnis. Und da glaube ich, daß diese Götter durch einen hindurchziehen wie eine Lähmung. Das, was Hitler als Vorsehung bezeichnet, ist etwas psychisch Mögliches. Wenn Napoleon plötzlich seine ganzen Kräfte verliert als ob sie durch das russische Land weggesaugt würden, dann kann ich das so deuten, daß er entweder nie einen Grund hatte, herzukommen oder daß die bodenständischen Russen, die ihn zu hassen beginnen, ihm die Kraft wegsaugen, oder daß er von allen Göttern verlassen ist, wie man sagt. Oder Götter haben ihn angespitzt und verblendet. Daß man durch Kräfte, die wir mit uns tragen, verblendet sein kann, und daß diese Kräfte gleichgültig sind dem Menschen gegenüber, halte ich für wahr.

NR: Ihre Filmfirma heißt Kairos. Kairos ist der Gott des günstigen Augenblicks, den man am Schopf packen muß, dann lassen sich bestimmte Dinge entscheiden, die im nächsten Augenblick schon wieder unmöglich sind. Dafür führen Sie die Geschichte an, in der ein Adjutant Hitlers im Jahr 1941 einen Kriegsplan entwerfen soll. Der Führer gibt ihm dafür aber nur fünf Minuten Zeit. Der Adjutant hat aber am Abend vorher getrunken, seine Kräfte sind daher nicht so angespannt wie üblich, so verpaßt er den entscheidenden Moment.

ALEXANDER KLUGE:
Aus solchen Fällen besteht Geschichte. Die Idee, daß Kriege notwendig sind, ist eine der stärksten Mythenbildungen, die es gibt. Das fängt schon 1914 an. Der deutsche Reichskanzler marschiert auf seinem Landgut an der Oder umher und sagt: "Durch diese Allee werden die Russen kommen." Noch heute existiert diese Allee, die Russen jedoch sind da nicht durchgekommen. Doch führt die Idee führte dazu, daß er den Krieg für unausweichlich hielt, weshalb dann am letzten Tag vor Kriegsausbruch kein einziger Alternativplan vorliegt, kein Ausweg da ist. Die eindimensionale Welt entsteht zuerst in dieser inneren, glaubensähnlichen Tendenz Richtung Verhängnis. Ich habe nicht festgestellt, welche innere Kraft in solchen Situationen wirksam ist, ein Todestrieb oder etwas Ähnliches. Insofern glaube ich, daß diese Ballung von Zufall und vorangegangenem Zufall und vorangegangenem Tun und Irrtum, etwas ist, das äußerst bekämpfenswert ist. Dem tiefen Unglauben entgegenzusetzen, bedeutet Emanzipation.

NR: Eine genaue Betrachtung der Umstände läßt die Rationalität menschlichen Handelns häufig fragwürdig erscheinen. Sie beschreiben zum Beispiel, wie Genscher während einer Balkanreise die Entscheidung traf, Slowenien und Kroatien diplomatisch anzuerkennen. Genscher sei sehr stark abhängig gewesen von einer Stimmung zermürbenden Wartens.

ALEXANDER KLUGE:
Der amerikanische Botschafter Holbroke, der in den Dayton-Verhandlungen später sehr wichtig wurde, beschreibt diese Wartezeit, in der sich Genscher außerhalb seiner gewohnten Welt, getrennt vom Auswärtigen Amt, befindet. Der sensuelle Entzug, den er dort erlebt, fordern von ihm Handlung. Sie aber ist durch Deprivation erzeugt, durch Quälerei. Es ist doch eine Folter für einen aktiven Menschen in einem fremden, schlecht organisierten Land herumzuhängen und seine vielen Fähigkeiten einfach nicht anwenden zu können. So wendet er sie in der falschen Richtung an. Lieber will der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen, sagt Nietzsche.

NR: Gleich die erste Geschichte in Ihrem Buch fängt programmatisch mit der Beschreibung einer Wetterlage an, und auch in anderen Geschichten wird immer wieder auf das Wetter hingewiesen. In Ihrem Versuch, den Gipfel von Rejkavik 1985 zu rekonstruieren, fragen sie in einer Ihrer Fernsehsendungen den ehemaligen amerikanischen Sicherheitsberater Reagans und auch Gorbatschow nach dem damaligen Wetter. Es herrschte offenbar ein kaltes, depressives Nieselwetter. Sind denn diese Umstände, die wir für die Rationalität politischer Entscheidungen als peripher erachten, aus Ihrer Sicht wesentliche Mitakteure der Geschichte?

ALEXANDER KLUGE:
Vor allem die Tiefs. Ein Tief treibt Willy Brandt auf Helgoland unmittelbar in den Rücktritt. Auch die aggressiven Hochs, wenn die Sonne zusticht, bilden gefährliche Wetterlagen für das Gemüt. Der Mensch ist für beides nicht wirklich gemacht. Er ist für eine Gemischtwetterlage gemacht mit leichter Nervosität und Abwechslung. Die Einförmigkeit eines Sturmtiefs ist etwas Gefährliches, es bedroht das Leben und zeigt an, daß es sehr rasch enden kann. Wenn Sie sehen, daß der Mann ohne Eigenschaften mit einer genauen Wetterbeschreibung beginnt, dann sehen Sie, daß solche Einsichten nicht neu sind. Von Homer bis zu Robert Musil sind das Metaphern und bei mir ist es ein Grundgefühl. Die Kälte, die von Astrachan auf Stalingrad heranweht, ist für mich etwas Wirkliches - so wie der Staub über einer Stadt nach einem Luftangriff, wenn der Sonnenglast darauf liegt und die Leichen stinken. Das sind Augenblicke, wo das Wetter nicht mehr Wetter allein ist. Ich glaube, daß die Gemüter der Menschen sich davon nicht unabhängig machen können.

NR: Ich möchte auf das Scharnierdatum 1989/90 kommen. An dieser Wende spiegeln sich ja nicht nur die 80er an den 90er Jahren, sondern das Datum bedeutet auch einen Paradigmenwechsel. Die weltgeschichtliche Depression, die bis zum Ende des kalten Krieges herrschte und von der etwa Don De Lillos Roman Unterwelt erzählt, war wie ein Spuk verschwunden. Die Mauer fiel und der Kommunismus war als realgeschichtliche Alternative zum Kapitalismus von der historischen Tagesordnung abgesetzt. Wie würden Sie diese Gefühlslage und den Paradigmenwechsel beschreiben?

ALEXANDER KLUGE: Die Löwenanteile meiner Geschichten sind Lebensläufe, die um das Jahr 1989 kreisen. Der Fall der Mauer und die Implosion der Sowjetunion bedeuten das Ende einer Supermacht. Eine Enthemmung in der Welt setzt ein. Gleichzeitig führt diese Enthemmung, das Grausamerwerden der Welt auch zu einem Horizontzugewinn. Jeder kann noch ein Stück 19. Jahrhundert nachholen. Was in dem sozial gewordenen 20. Jahrhundert so nicht möglich war. Das führt zu einer Befreiung der Phantasie. Man könnte jetzt Brechts "Baal" und "Mahagonni" wieder neu aufführen, alles, was in den 20er Jahren als wild und grausam galt - Welteroberung, Kolonialismus nach innen. Und dies hat komischerweise einen lustvollen Aspekt, so seltsam wie der Kriegsausbruch 1914. Damit beginnt ein neues Jahrhundert. Auch ich kann das als befreiend empfinden, obwohl ich es analysiere als etwas, das einem Kriegsausbruch, einer Enthemmung, ähnlich ist und neue Grausamkeiten enthält. Einig sind wir uns darin, daß im Jahr 1989 ein neues Jahrhundert mit Euphorie beginnt. Die Lebensläufe, die sich darum ranken, zeigen ein neues Lebensgefühl.

NR:
Nun gab es am Ende des 19. Jahrhunderts allerdings eine Arbeiterbewegung und die Hoffnung, ein antikapitalistischer Protest könne organisiert werden. Der Marxismus war eine starke Kraft. Glauben Sie denn, daß die Kapitalismuskritik heute noch eine irgendeinen materiellen Boden hat?

ALEXANDER KLUGE: Sie müssen die Euphorie des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht unter der begrenzten europäischen Perspektive beobachten, sondern von New York her, bei der Gründung Amerikas. Dort haben Sie gar keine Grundlage für eine Kritik des Kapitalismus, sondern die Vereinigung vieler einwandernder Völker schafft sich ein Land offener Horizonte - nicht zu vergessen durch die Ausrottung der Büffel und der Indianer. Das wird noch einmal in Europa nachgeholt. Die Theorie des Wilden Westens und der offenen Horizonte kommt jetzt nachträglich hier an, nach der ersten kurzen Ankunft 1949, wiederholt sich der Vorgang nach 1989. Im Grunde setzen wir die Währungsreform fort, die Neugründung der Republik vollzieht sich noch einmal. Und gleichzeitig entwickelt sich ein Europa, das ebenfalls offene Horizonte hat, wo ich mit allen egoistischen und allen altruistischen Kräften, die in mir schlummern, und einem Quäntchen Utopismus leben kann. Die Utopie siedelt anders. Deshalb entsteht hier eine neue Zeit, die auf andere Werte und Koalitionen des Gefühls gründet.

NR:
Doch gab es auch Kassandra-Stimmen, die dieser fröhlichen Legitimation des neuen Kapitalismus widersprochen haben, Heiner Müller etwa, der in vielen Geschichten Ihres Buchs auftaucht. In seinem Text "Mommsens Block" spricht er von den "Lemuren des Kapitals". Wie schätzen Sie diesen pathetischen Einspruch ein?

ALEXANDER KLUGE: Bei Heiner Müller gibt es nach dem Sturz der DDR durchaus eine lustvolle Beschäftigung mit den Abgründen des Westens. Das tut er in Shakespearischer Art. Siegeszüge sind selten endgültiger Art. Wir haben jetzt den absoluten Sieg des Börsen- und Finanzkapitalismus. Aber nach allen Regeln des Zusammensturzes wird das irgendwann wieder enden.

NR:
Sie verstehen sich als Chronist. Ist die "Chronik der Gefühle" Ihre Erbschaft? Eine zweitausendseitige Flaschenpost?

ALEXANDER KLUGE: Man schreibt ja triebhaft. Wie Heiner Müller sagt: das ist meine Lebensform. Wenn ich so etwas geschrieben habe, denke ich an Autoren, die so etwas weiterschreiben würden. Denn ich glaube, daß man, um den Grundriß unserer Erfahrung zu beschreiben, gut vierhundert Autoren brauchen könnte - ein Balzac-Kollektiv. Im Grunde sind alle meine Erzählungen verkappte Romane. Unter dem verschärften Druck unserer intensivierten Realität wird ein Roman wie die Buddenbrooks zusammengedrückt auf 14 Seiten. Sie müssen sich kurz fassen. Die Shortstories von Hemingway sind nicht deshalb aktuell, weil dazwischen noch Werbung in die Zeitung rein muß, sondern weil es die Grundform ist, in der man sich miteinander verständigt. Diese Kurzform würde ich mir als Bearbeitungsform wünschen, kleine Geschichten, die wie der Bernstein das Insekt, kleine Differenzen enthalten. Die kann ich mir merken und wiedererkennen. Flaubert hat den Plan gehabt, alle Irrtümer und alle schlechten Redewendungen in zwei Kompendien zusammenzufassen, damit sie kenntlich sind. Mir scheint jeder Irrtum, den wir begehen, wertvoll, jede Einsicht, jede Tugend und ihre Metamorphose in eine Untugend, jedes Changieren zwischen Gut und Böse so wichtig, daß man es in dieser Form einfangen und kenntlich halten muß, damit die Kommunikation sich substantiell verschnellert. Im Augenblick verschnellert sie sich unter Substanzverlusten. Das läßt sich ändern. Das ist, wenn Sie so wollen, Gartenbau in der Literatur. Ich denke an eine Literatur der Autoren ähnlich dem Kino der Autoren. Es wäre schön, wenn sich da mehrere Dichter zusammenschlössen - Durs Grünbein, Schlingensief, ich, Peter Weiss und Max Frisch, wenn sie lebten, und einige andere. Dann könnten wir beispielsweise in das Gewand von Musil schlüpfen und den Mann ohne Eigenschaften weiterschreiben oder an Prousts Recherche Fälschungen anbringen und Paralipomena erfinden. Das wäre Dichtung.

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