Bin Ladens Ende, ein "Tod im falschen Stück"

Von Andreas Rosenfelder | Quelle Welt Online - Kultur | | Interviews

Wäre ein anderes Ende Bin Ladens denkbar gewesen? Ein Gespräch mit Alexander Kluge über Hektors Tod und politische Dramaturgie.

Die Nachricht vom Tod Osama Bin Ladens erreichte die Welt zu einem Zeitpunkt, da kaum noch jemand mit ihr rechnete. Die Reaktionen fielen sehr unterschiedlich aus, sie reichten von offener Begeisterung bis hin zu unverhohlenem Missfallen. Als Regisseur und Autor ist Alexander Kluge mit Fragen der Dramaturgie ebenso vertraut wie mit der Historie. Wir haben mit ihm über politische und poetische Gerechtigkeit gesprochen.

Welt Online: Herr Kluge, haben Sie das Gefühl, dass es sich bei Osama Bin Ladens Ende um den letzten Akt eines Theaterstücks handelt?

Alexander Kluge: So bitter es klingt: Im Englischen spricht man vom "Theatre of War", dem Kriegstheater. Dieses Theater durchläuft in Jahrhunderten eine Entwicklung, die bis zum asymmetrischen Krieg führt. Man hat diese Tradition nicht genug beachtet.

Welt Online: Hat Osama Bin Laden dieses Theater des Kriegs verändert?

Kluge: Wenn man nicht in Tagesmeldungen denkt, sondern in Jahrzehntchroniken, dann erkennt man solche Veränderungen. 1990 weiß man noch wenig über Bin Laden. Kurz zuvor kämpft er im Dienste der Amerikaner in Afghanistan gegen die Russen, dann folgt eine lange Dunkelphase. Am 11. September 2001 ist er das Geschoss, das unser Jahrhundert zum Entgleisen bringt. Hätten die Verfolgungstrupps ihn 2001 gefunden, dann wäre das unmittelbare Rache gewesen und hätte in aller Welt sehr befriedigend gewirkt. Geschieht dasselbe 2011, zehn Jahre später, dann spielt längst ein anderes Stück auf dem Theater, nämlich die arabische Revolution, in der Bin Laden gar nicht vorkommt. Wenn alle auf das Finale warten, kommt außerhalb des Theaters der Kopfschuss. Der Tod im falschen Moment. Das sage ich aber nur als Autor, nicht als Politiker.

Welt Online: Was konnten wir aus den letzten zehn Jahren lernen?

Kluge: Drei Tage nach dem Einsturz der Türme liegt die Flotte von Pearl Harbour vor New York. Das ist ganz gewiss eine irrationale Reaktion. Der Überfall auf Pearl Harbour war ähnlich entsetzlich und eindrucksvoll wie der Einsturz der Türme, insofern ist es logisch, dass die Flotte zu Hilfe gerufen wird. Aber sie kann ja gegen Terroristen nichts bewirken.

Welt Online: Ein Symbol für das, was folgte?

Kluge: Der ganze Staat, jede Republik beruht auf einem Versprechen: Protego ergo sum. Das steht auf den Kanonen Friedrichs des Großen genauso wie bei Hobbes, dem britischen Philosophen: Ich vermag zu schützen, also regiere ich. Wenn der Staat mit seinen Mitteln, nämlich der Steuerhoheit, dem Militär oder dem Grenzschutz, nicht mehr antworten kann auf eine Gefahr, dann ist er selbst in größter Gefahr. Deshalb versucht er, die konventionellen Mittel anzuwenden und Kriege zu erklären gegen Nationen, obwohl sie sich gegen eine Geheimorganisation richten, die man nicht fassen kann, so wie der russische Zar die Anarchisten nicht fassen konnte. Das ist das Problem der ersten zehn Jahre unseres Jahrhunderts. Gott sei Dank kommt uns das Glück zu Hilfe und bringt, was die Geheimdienste nicht vorausgesagt haben, die arabische Revolution. Die hat Bin Laden entwertet, sodass man ihn fast hätte vergessen können.

Welt Online: Vielen Menschen bereitet die Tötung des Massenmörders Genugtuung.

Kluge: Ich verstehe das vollkommen. Ich sehe noch jetzt, wie eine Traube von Menschen an den Fenstern des zusammenbrechenden Gebäudes hängt. Nichts in meinem ganzen Leben hat mich so erschüttert wie dieser Anblick und das Wissen, dass diese Menschen alle sterben werden. Niemand war je so weit entfernt von Rettung, auch nicht die Menschen auf der "Titanic" im Jahr 1912. Dem entspricht überhaupt nicht der Tod eines einzelnen Anstifters durch Kopfschuss, der keine Waffen hat, egal wie verbrecherisch er sein mag. Auch dies ist auf dramatische Weise asymmetrisch.

Welt Online: Trotzdem verschafft uns der Tod des Schurken, wie auf dem Theater, eine Form von Befriedigung.

Kluge: Ich gebe allen, die durch die Anschläge verletzt wurden oder Verwandte unter den Opfern hatten, jedes Racherecht. Aber Staaten können dieses Recht nicht einfach übernehmen, und wenn sie es so spät tun, entsteht der Eindruck, hier dauert etwas fort, was vergessen werden sollte, einschlafen sollte. Immanuel Kant würde sagen: Erstens, eine Verletzung des Völkerrechts hat stattgefunden. Zweitens, das Tötungsrecht dieser Art gibt es nicht. Drittens, dennoch ist das Talion – jedem soll geschehen, was seine Taten wert sind – erfüllt. Insofern gibt es moralisch (Rechtsfragen sind etwas anderes) keinen Vorwurf. So würde Kant im Namen der Philosophie richten.

Welt Online: In Deutschland wurden die Tötung Bin Ladens und die Reaktionen der Amerikaner scharf kritisiert. Ein Mentalitätsunterschied?

Kluge: Nehmen Sie einen einfachen Autor unseres Landes, ungefähr dort geboren, wo meine Vorfahren herkommen: Karl May. Dieser Angeber, Erfinder und wundervolle Schriftsteller hat Romane geschrieben, in denen Old Shatterhand mit dem Indianer Winnetou menschliche, wenn nicht sogar sächsische Verhältnisse anknüpft. Der Häuptling Geronimo, nach dem die Militäroperation gegen Bin Laden benannt wurde, ist auch ein Apache, aufständisch gegen die amerikanische Besatzungsmacht, denn die Indianer glauben ja, dass ihr Land ihnen gehört. Den Geronimo treffen rigide Maßnahmen, er wird ungebracht. Im Wilden Westen findet man alles vor, was jetzt die Praxis der Navy Seals ausmacht. Diese andere Betrachtungsweise jenseits des Atlantiks müssen wir akzeptieren. Immerhin haben wir Deutschen zu einem Drittel die USA mitgegründet, und das empfinde ich nach wie vor von Herzen. Wenn wir diese transatlantische Brücke wollen, dann können wir uns nicht über die Amerikaner erheben und darüber urteilen, was sie gut finden.

Welt Online: Teilen Sie die Einschätzung des Vatikans, der Tod eines Menschen dürfe nie Anlass zur Freude sein?

Kluge: Es gibt etwas, das noch länger währt als die zehn Jahre von 2001 bis 2011, nämlich der Trojanische Krieg. Das ist nicht der asymmetrische Krieg, da hat man noch einen Menschen als Gegenüber, und da sehen wir, wie Hektor von Achill besiegt und anschließend um die Stadt herumgeschleift wird, bis die Leiche völlig entstellt ist. Dies ist der Grund, warum später Odysseus in Gefahr kommt, warum Agamemnon bei der Heimkehr ermordet wird, das hat Folgen für die kommenden Geschlechter und ist nur ganz schwer wiedergutzumachen.

Welt Online: Wie könnte die Geschichte nach dem Tod Bin Ladens weitergehen?

Kluge: Wenn ich da einmal die Freiheit der Dichter in Anspruch nehmen darf, dann würde ich folgendes sagen: Was, wenn eine Schule von Delphinen den im Meer vor Belutschistan in einen Seesack gepackten Mann einfach als Spielball nimmt? Denn Delphine haben einen Instinkt, alles, was ihnen Spaß macht, mit der Schnauze vorwärts oder zur Oberfläche hin zu treiben, und jetzt kommt dieses Stück an der Küste von Somalia an. Dann wäre der Märtyrer wieder auf einer Erde angekommen und könnte von seinen Anhängern verehrt werden wie der Mahdi. Diese Fantasie können Sie nicht durch einen Kopfschuss oder eine Seebestattung beenden. Die Freiheit der Kunst schafft einen Punkt außerhalb der Erde, von dem aus man etwas anderes sieht als vom Weißen Haus aus, wenn man um ein Uhr nachts der Tötung eines Menschen oder deren Vorbereitung zuschaut.

Welt Online: Wäre in der Wirklichkeit eine andere Lösung denkbar gewesen?

Kluge: Man sagt in den Geheimdiensten, dass revolutionäre Gruppen eine Überlebenszeit von zehn Jahren haben, danach verfransen sie sich. Eine Reihe von Mitgliedern der RAF war ja später in der DDR in Produktionsbetrieben tätig, Terroristen im Ruhestand. Sie sind in den Produktionsprozess zurückgekehrt.

Welt Online: Auch Adolf Eichmann ist nach dem Krieg untergetaucht und arbeitete als Elektriker in Argentinien, bevor man ihn in Jerusalem vor Gericht stellte.

Kluge: Das beurteile ich genauso wie Hannah Arendt: Ich bin nicht für die Todesstrafe, und gleichzeitig möchte ich mit diesem Mann nicht auf dem gleichen Planeten leben. Aber das heißt nicht, dass ich befriedigt bin, weil ihm der Prozess gemacht wurde. Wäre er vergessen worden, wäre das auch eine Lösung gewesen. Das Römische Reich lebte, nachdem es durch Bürgerkriege fast zerstört war, von der Clementia, der Milde. Das bedeutet, dass man das Vergessen fördert, indem man den Gegner vergisst, man ihn einfach Rentner werden lässt. Was ist denn schlimmer als jemand, der auswandert aus der Realität? Dies war bei Bin Laden der Fall, er lebte eigentlich schon nicht mehr auf diesem Planeten. Dieses zu fördern, das wäre die klügere Weise gewesen, mit ihm umzugehen. Während die Rechthaberei, ihm einen Kopfschuss zu verpassen nach zehn Jahren, seine Existenz verlängert, denn sie schafft ein Symbol, an das sich wieder etwas ankristallisieren kann. In der antiken griechischen Grammatik gibt es den Optativ, die Wunschform: Möge er verschwinden, möge er weg sein. Das ist das, was ich als Dichter denke, nicht als Politiker. Ich finde die Beendigung dieses Stücks nicht wirklich gut. Wenn Sie mir das vorführen, sage ich mit Aristoteles: Es ist eine beiderseitige Tragödie. Gleichzeitig finde ich, dass ich weder das Publikum noch der Richter bin.

Alexander Kluge ist Schriftsteller und Fernsehproduzent. Zuletzt erschien von ihm im Suhrkamp Verlag "Das Bohren harter Bretter".

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