Zum Stichwort "Politik"

Quelle aus: Oskar Negt/Alexander Kluge - Maßverhältnisse des Politischen, 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, S. 50-53 | | Leseproben

"Wir sprechen nicht von Politik als einem Sachgebiet und einer professionellen Tätigkeit, sondern von dem Rohstoff, dem Politischen, das in jedem Lebenszusammenhang versteckt ist"

Man erhält keine zuverlässige Auskunft, wenn man das Wort auf den griechischen Ursprung zurückführt; sicher ist, daß die Bezeichnung Politik in den Schriften des Aristoteles und zuvor in Platos Schrift über den Staat die selbstbewußte Organisierung der Angelegenheiten eines griechischen Stadtstaates ausdrückt - selbstbewußt in der doppelten Bedeutung verstanden, daß es keine gültige Instanz (wenn man einmal die Götter, die Rachewesen, die mythische Verstrickung außer Betracht läßt) oberhalb dieser Politik gibt und daß Politik dem Dialog standhalten muß.
Wie kein anderes Volk der Zivilisationsgeschichte besaßen die Griechen eine instinktive Sicherheit im Umgang mit der Sprache, in der Wahl beziehungsreicher Worte, die niemals bloß auf formale Eindeutigkeit gingen. Polis war die Stadt als Staat, aber auch Demokratie und Heimat, denen sich der Bürger zugehörig fühlte und die ihm als Selbstideal vorschwebten. Politeia bezeichnete Bürgerrecht, aber auch individuellen Lebenswandel und Gesamtverhalten des Bürgers im Staat. In welchen Varianten der Wortstamm des Tätigwerdens, das politeuo (den Staat verwalten, sich als Bürger benehmen), auch hervortreten mag, er weist in zwei Richtungen - auf öffentliches Handeln und auf einen als Norm gedachten Zustand des Gemeinwesens, welcher der Inbegriff des höchsten Gutes ist.
Vom eindrucksvollen griechischen Modell hat sich der Begriff Politik als ein Interpretationsbegriff erhalten. Er markiert, ohne die Herkunft der einzelnen Kräfte zu benennen, den Gegenpol zur Besorgung der Privatangelegenheiten. Demgegenüber erscheint das Nicht-Private zur einen Seite hin als anarchisch, zur anderen Seite hin als res publica. Die Ordnungspartei, die Besitzenden (boni, optimati), und der Staat stehen gegen diejenigen, die die Verhältnisse verändern wollen oder nicht zur Menschenwelt zählen - Sklaven, Barbaren, catilinarische Verschwörer, Gracchen. Der Auftrag an die Consuli lautet, darauf zu achten, daß die res publica keinerlei Schaden nehme. Diese Aufgabe der Gefahrenabwehr macht den seit der römischen Republik geltenden Schulbegriff der Politik aus.
Das Politische, das sich aus der dauerhaften Existenz der Stadt (z. B. Roms), des in der Stadt verankerten Staatswesens und des Imperiums ableitet, wird in den nördlichen und westlichen Teilen Europas nach einer langen Zeit der Eigenentwicklung durch Assimilationen übernommen. Der Begriff überlagert ältere Verständnisse, wie sich ein Gemeinwesen bildet und ausdrückt, die nichtstädtische Ursprünge haben. Ein keltisches Gemeinwesen, ein germanisches Thing, fränkische Herrenabende, auf denen Entscheidungen getroffen wurden, beherzigen nicht die Gepflogenheiten einer griechischen oder römischen Stadt, sie folgen kaum einem rational ausdrückbaren Schema, und sie bilden keine dauerhaften Institutionen.

Das Vielfältige, das zur Erklärung des Geschichtsverlaufs, zur Einrichtung von Landschaften oder Vaterländern taugt, wird bis ins 18.Jahrhundert kumulativ gefaßt. Erst die sich in Frankreich entfaltende skeptische Tradition und später die Staatslehre des 18. Jahrhunderts greifen aus der Fülle der Bezeichnungen systematische Entwürfe zusammen, die die Politik in eine Staatstheorie einbetten.
Um die Zellenform des Politischen zu verstehen, muß man die Ebene der Zusammenfassung des Kumulierten zunächst wieder verlassen. Man wird dann feststellen, daß es fast so viele Politiken gibt, wie Entschiedenheiten im Alltagsleben und im Gemeinwesen anzutreffen sind. Der Begriff des "enragé", der in der Französischen Revolution aufkam, trifft den Übersprung, in dem ein Rohstoff oder ein Partikel des öffentlichen Gemeinwesens politisch wird. Etwas verändert seinen Intensitätsgrad; vorher hätte man es nicht politisch genannt, jetzt heißt es politisch.
Dies ist bewußt allgemein gesprochen. Es ist nämlich für die Frage nach der Herkunft des Politischen, die auch die Formgestalt der weiteren Prozesse beeinflußt, nicht möglich, den Politikbegriff aus dem Gegenpol zu entwickeln. In der Elementarform ist das Politische nicht der Gegenpol der Intimität oder des Privaten, auch nicht der gesellschaftlichen unbeherrschten Substanz oder des Ausgegrenzten. Alles dies kann ebenfalls politisch werden.
Die Entwicklung des modernen Politikbegriffs, wie er mit der Entstehung des Bürgertums und der kapitalistischen Produktion verbunden ist, verdankt ihre von den inhaltlichen Bindungen an das Gemeinwesen abstrahierte Kraft der Etablierung der Territorialstaaten, die sich die verschiedenen Politikformen aneignen. Dadurch, daß der Fürst des Territorialstaates alles okkupiert, was Politik der verschiedenen Teile des Gemeinwesens sein könnte, reduziert sich das politische Handeln auf die Regeln des Machterwerbs und der Machterhaltung. In diesem Sinne versteht Machiavelli politisches Handeln, das sowohl von den Pflichtenkatalogen der Ethik als auch von den Gewohnheitsrechten traditioneller Gemeinschaften abgetrennt ist. Klugheit, mit der es Politik bei Aristoteles wesentlich zu tun hat, wird transformiert in ein technisches Wissen, wie Stabilität der Herrschaft zu erreichen ist und wie Macht mit Hilfe dieses politischen Instruments erweitert werden kann.
Dieser Prozeß hat kein Maß, weil es dabei nicht um das Wohl des Gemeinwesens geht, sondern um die möglichst dauerhafte Abwehr innerer und äußerer Gefährdung, d. h. der konkurrierenden Mächte draußen und der opponierenden im Innern. Dabei besteht der politische Lernprozeß nicht mehr im Abwägen von Zwecken und angemessenen Mitteln, sondern in der Vermeidung von Fehlern. Der größte Vorwurf, den Machiavelli gegen den Fürsten erhebt, ist der einer falschen Entscheidung. Die Kernstelle von Machiavellis Entwurf, der später alle Theorien von der Politik als der "Kunst des Möglichen" folgen, hat mythischen Charakter. Fatalismus steckt in dieser Konstruktion, so als ob das Eintreten von vernichtenden Fehlern programmiert sei.
Man wird sehen, daß der Opportunismus in der überwältigenden Furcht wurzelt, einen Fehler zu machen. Die rücksichtslose Wahrnehmung der Gelegenheiten soll Vorräte schaffen gegen das Auftreten oder die Summierung von Fehlern. Man könnte sagen, alle politischen Konzepte, die Fehler nicht erlauben, entsprechen dieser opportunistischen und zugleich gewalttätigen Strategie. 0. N. /A. K.