Stadt / Bomben

Quelle aus: Der unterschätzte Mensch, Band 2 / S. 719 | | Leseproben

Eine der einwirkendsten Beugungen des Geschichtsbegriffs Mainz wäre z. B. das Abbrennen und Ausradieren der Stadt durch alliierte Bomberflotten. Eine lineare Verknüpfung der Kausalketten, die die Alliierten bewegen, ein Bomberkommando aufzubauen und Vernichtungsangriiffe auf deutsche Städte zu fliegen, mit der Kausalkette, die 2000 Jahre Mainz heißt, wäre recht willkürlich. Wenn ich aber eine Beziehung nicht beschreiben kann, die derart tief eingreift, was haben dann die übrigen Erklärungen für einen Gebrauchswert? Ich erkläre dann mehr oder weniger Zufälligkeiten, Begleiterscheinungen, oder verfolge das, was sich ereignet hat, als unverbindbare Linien. So ist es z. B. sicher, daß die Lage von Mainz u. a. dadurch bestimmt ist, daß der Rhein dort einen Bogen beschreibt und der Main in ihn mündet. Dasselbe Faktum kehrt in der Taktik von Nachtangriffen wieder: Wenn ich andere Städte nicht gefunden habe, um die Bomben planmäßig abzuwerfen, findet die Bomberbesatzung immer noch diese markante Flußkonstellation, wenn der Mond sich in ihr spiegelt. Das bedeutet Zusatzbomben auf Mainz. Eine Nebensache ist erklärt, die Hauptsache nicht.

Untersuche ich dagegen radikal, so stoße ich auf das dialektische Bewegungsverhältnis: ein Mensch in seinem Keller wird von einer Bombe getroffen und entkommt ihr um Haaresbreite. Man muß versuchen, sich darüber zu verständigen, daß die konzentriertere Bewegungsform der Bombe, ihre Beschleunigung nicht allein durch die Anziehungskraft von 1 g bestimmt ist. In ihr steckt eine industrialisierte, durch hohe Konzentration von Arbeitskraft hergestellte gesellschaftliche Beschleunigung. Sie ist die Zerstörungskraft, die technischen Daten der Bombe gehen in sie nur ein (sind die engere Sichtweise). Der Fluchtinstinkt, der Wunsch zu entkommen, die im Moment so wenig brauchbare Strategie von unten des Kellerinsassen sind ebenfalls das Produkt der Geschichte der Arbeitskraft, eben: dieser individuellen Arbeitskraft, die keine Gegenbeschleunigung gegen die Bombe entwickeln kann, weil die Konzentrationsstufe von Geschichte und Arbeitskraft in ihr höchst gering ist, gemessen an der, die sich in der Bombe materialisiert. An sich treten einander Menschen und menschliche Geschichten gegenüber, einmal aber im Aggregatzustand eines Zerstörungsmittels, andererseits in der Gestalt eines Menschen, der nicht zerstört sein möchte.

Eine Bombe kann nicht auf diesen Keller fallen, wenn nicht das Pulver, das Fliegen, die Metallverarbeitung erfunden wurden, die Bomberbesatzungen nicht ausgebildet wurden. Hierzu gehört eine Disziplin, die die Vorarbeit von 2000 Jahren voraussetzt. In mikroskopischer Verteilung sind in der Sprengbombe einige Millionen Partikel ehemals lebendiger Arbeit enthalten: Kein Einzelner als lebendige Arbeit kann das Produkt erzeugen, auf den Marsch bringen oder werfen; eine professionelle Bombe im abgeschliffenen Charakter der Massenware (im Gegensatz zu einer improvisierten Bombe) wird auch nicht als Einzelprodukt entstehen. Das, was herabstürzt, ist Arbeitskraft. Das, was unten zerschlagen wird, ist ebenfalls Arbeitskraft. In den Flugzeugen und Bomben ist mehr tote Arbeit, also mehr Anteil von Lebensläufen enthalten, als an Anteilen toter und lebendiger Arbeit im Keller sitzen. Dies ist die konkrete Form der Wechselwirkung.

Der Unterschied liegt nicht darin, daß der eine privat und das andere öffentlich wäre; es würde ja nichts verbessern, wenn derjenige, der sich der Bombe ausgesetzt sieht, ein Würdenträger wie Freisler wäre, also öffentlich, oder wenn die Arbeitskraft im Vollbesitz ihrer Arbeitsmittel wäre und in einem kooperativen Zusammenhang den Bomberangriff erlebt: z. B. alle Arbeiter eines Betriebs, Schrauben, Schlüssel und anderes Gerät haben sie dabei - die Lage wäre nicht verändert. Der Unterschied liegt in der verschiedenen Akkumulation von geschichtlicher "Geschwindigkeit" (Masse) zwischen Bombe und Getroffenen.